Nicht identisch

Eben ist mir etwas Seltsames passiert: Ich habe mich im Spiegel betrachtet und bemerkt, dass ich kein Verhältnis zu mir selbst habe, weder zu meinem Körper noch zu meinem Geist. Beide sind mir im Grunde fremd. Ich weiß wohl, wie mein Körper und mein Geist beschaffen sind, aber ich fühle keinen wirklichen Zusammenhang zwischen diesem rätselhaften „Ich“, das in den Spiegel, und dem leicht verstörten Siebzehnjährigen, der jetzt aus dem Spiegel sah. Das „Ich“ betrachtet gewöhnlich Körper und Geist nur als Mittel zum Zweck des Existierens, weiß aber, dass jeder andere Körper und jeder andere Geist dieselbe Funktion erfüllen könnten. Am meisten bewegt mich nun die Frage, wer oder was dieses „Ich“ denn eigentlich sei.

Vielleicht sauge ich mir da Unfug aus den Fingern. Tatsache ist, dass ich über das Befremden, mit dem ich mich betrachtet habe, erschrocken bin. Ich sage gewissermaßen „Sie“ zu mir selbst. „Du“ sage ich hingegen zu dem, was ich sein möchte und vielleicht einmal sogar sein werde. „Du“ sage ich auch zu ***, so würde ich gern sein, nennt man das Liebe?

Dieser Siebzehnjährige ist für mich eine mysteriöse Persönlichkeit, vor der ich etwas Angst habe. Oder ist es nicht vielmehr umgekehrt?
 

wüstenrose

Mitglied
Ich sage gewissermaßen „Sie“ zu mir selbst.
Hallo Arno,
schönes "Identitäts-Dilemma", das du da auftischst!
Verfasst in nüchternem Ton - - - und doch sickert da (zumindest meine Ohren wollen es so verstehen) auch ein spitzbübischer Ton ins Kurzprosa-Gebälk, der mir sehr gefällt.
Unser Teen hier ist naiv und unreif - ja: er ist dumm!
Und gleichzeitig ist er gescheiter als alle Erwachsenen, da er um die Problematik von Entwurf und Erscheinung weiß.

lg wüstenrose
 
Danke, Wüstenrose, für deine verständnisvolle Reaktion. In der Tat handelt es sich um einen Originaltagebucheintrag eines Siebzehnjährigen, der jetzt nur stilistisch etwas aufpoliert wurde. Der von dir zitierte Satz lautete auch ursprünglich so, wie er nun hier steht.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 

wüstenrose

Mitglied
tragikomisch

danke für die Hintergrundinfo - das fand ich jetzt wirklich interessant, auf welche Weise dieser Text "gewachsen" ist.
Klingt vielleicht etwas abgedroschen, aber ich finde den Text in einem tiefen Sinne: tragikomisch.
 
Sehr verbunden, Wüstenrose. Die tragikomische Wirkung ist ein Aspekt oder eine Außenperspektive, die sich wohl häufig einstellen mag, wenn Ältere die wunderlich-unbeholfenen Gedankenexperimente von ganz jungen Menschen nachzuvollziehen suchen. Jetzt kann ich mich gut in deine Empfindung hineinversetzen, anfangs nicht, da die Identifikation noch zu stark.

Arno Abendschön
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Ich finde den Text eher allgemeingültig, jeder kann kaum von sich selbst sagen, wie er wirklich sei. Inwiefern er sich "kennt".
Wie soll man da schon einen anderen Menschen kennen....

LG Doc
 
Ja, DocSchneider, auch das ist richtig. Nur ist der jugendliche Ich-Erzähler hier erstmals damit konfrontiert und macht daher diesen etwas unbeholfen-verwirrten Eindruck.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 



 
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