Nostalgiker

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Raniero

Textablader
Nostalgiker

Mit ungläubigem Erstaunen legte Ludger Säbelweich seine Morgenlektüre aus der Hand; das konnte doch wohl nicht wahr sein.
Soeben hatte er einer Werbeanzeige aus dem Lokalteil der Zeitung entnommen, dass in der Innenstadt ein Lokal existiere, in welchem man noch heutzutage, viele Jahre nach Einführung des Euro, mit der guten alten DM bezahlen könne.
‚Ein guter Witz‘, dachte Ludger, ‚könnte fast von mir sein, wenn wir nicht den Oktober schrieben, würde ich diese Meldung glatt für einen Aprilscherz halten.
Er nahm wieder die Zeitung zur Hand, um sich zu vergewissern, ob er nicht irgendetwas, irgendein kleines aber bedeutsames Detail vielleicht, in der Anzeige übersehen hatte, woraus man doch die Ernsthaftigkeit der Werbung in Zweifel ziehen konnte.
So las er ein zweites Mal:
„Liebe Freunde der guten alten DM, bei uns können Sie alles, was Sie verzehren, in der ehemaligen Währung bezahlen, mit der alten uns allen über einen so langen Zeitraum ans Herz gewachsenen Deutschen Mark. Kommen Sie zu uns und überzeugen Sie sich selbst! Unsere gutbürgerliche Küche nebst einer reichhaltigen Auswahl an Getränken, speziell an frischgezapften Bieren, wartet auf Sie!“
Das wollte Ludger tun, sich überzeugen, vor Ort, durch eigene Inaugenscheinnahme.
Nicht, dass er selbst noch an der alten DM hing oder als Fan dieses Zahlungsmittels galt, im Gegenteil, seinerzeit ging ihm die rein technische Umstellung schnell von der Hand, sodass er damals selbst während der sogenannten Übergangsphase, in der beide Zahlungsmittel nebeneinander gültig waren, von Beginn an das neue Zahlungsmittel benutzte, mit dem er sich frühzeitig eingedeckt hatte.
Das einzige, was ihn äußerlich noch an die DM erinnerte, waren einige kleinere Münzen, die er behalten hatte, weil ihm seinerzeit der Aufwand zu groß erschien, dieses Kleingeld umzutauschen; innerlich jedoch war ihm die alte Währung noch stets präsent, wie vielen seiner Zeitgenossen, die mit der alten Mark großgeworden waren, und ein jedes Mal, wenn er mit dem Euro zahlte, rechnete er den Betrag automatisch geistig in DM um.
Bevor Ludger sich jedoch daran machte, die nostalgisch anmutende Zeitungsannonce zu überprüfen, in dem besagten Lokal, hatte er zuerst ein Problem zu lösen. Da er ja nur noch über ein paar Münzen der alten Währung verfügte, die kaum für die Begleichung des ersten Getränkes gereicht hätten, stellte er sich die Frage, wie er es anstellen könne, eine ganzen Abend dort zu verbringen, bei Speis und Trank, denn wenn er schon einmal da war, so wollte er den Besuch auch richtig genießen, in der Umgebung nostalgischer Währungshüter.
Er brauchte also Bargeld, allerdings in der alten Währung; woher nehmen, wenn nicht stehlen, und selbst wenn er es hätte stehlen wollen, hätte er nicht gewusst, wo.

Während er noch grübelte, fiel ihm seine Tante ein, eine ältere leicht versponnene Dame, die seinerzeit vehement gegen den Euro gewettert hatte.
Ob Tante Alma noch etwas von der DM gehortet hatte?
Umgehend suchte er die alte Dame auf.
Tante Alma war nicht wenig erstaunt, als der Neffe ihr sein Anliegen erklärte, doch nach und nach erhellten sich ihre Gesichtszüge.
„Siehst du, Ludger, habe ich nicht Recht gehabt, damals. Ihr werdet alle noch mal zu mir kommen, wenn es dieses neumodische Zeug, diesen Euro mal nicht mehr gibt.
Wie viel brauchst du denn, Junge?“
Ludger verzichtete darauf, Tante Alma zu erklären, dass es den Euro immer noch gab und ließ sie in ihrem Glauben.
Schon öffnete die Tante eine Tür des geräumigen Wohnzimmerschrankes, entnahm eine dunkel getönte größere Glasvase und griff hinein.
„Reichen hundert Mark für’s Erste?“
Ludger rechnete blitzschnell um, dieses Mal in umgekehrter Weise; einhundert Mark entsprachen nicht einmal fünfzig Euro. Na ja, auf ein großartiges Menu konnte er ja verzichten, ein paar Frikadellen, dazu einige Biere, das musste erst einmal langen, für einen Schnupperbesuch.
.Die Tante gab ihm einen ‚Blauen‘, so wurde dieser Geldschein früher im Volksmund genannt, und stellte die Vase auf den Tisch.
Was er da vor sich sah, haute Ludger fast vom Stuhl.
Die Vase war bis zum Rand gefüllt mit alten Scheinen, ein kleines Vermögen in alter Währung.
„Aber Tante Alma, all das viele Geld, warum hast du das denn damals nicht zur Bank gebracht, vor der Umstellung auf Euro?“
„Du siehst ja jetzt, Junge, wofür das gut war“, war Tante Almas knappe Antwort, „sei froh, dass ich das nicht getan habe, damals, sonst könnte ich dir heute nicht aus der Klemme helfen“.
Ludger unterließ es, seiner Tante zu erläutern, dass er eigentlich gar nicht in der Klemme saß, finanziell, da er mit dem, was er verdiente, gut zurecht kam, und er bedankte sich herzlich für den Hundertmarkschein..
Die Tante wiederum erklärte ihm, dass sie dieses Geld nicht als Leihgabe, sondern als Geschenk an ihn betrachte. „Lieber mit warmen als mit kalten Händen, Junge“, sagte sie ihm zum Abschied, „denn was hätte ich denn nach meinem Tode noch davon“.

Am Abend machte sich Ludger auf den Weg ins Stadtzentrum, um das betreffende Lokal aufzusuchen, und er staunte nicht schlecht, als er es gefunden hatte.
Wie oft war er an dieser Kneipe vorbeigekommen, ohne je einen Fuß hineingesetzt zu haben; er kannte diese Wirtschaft nur von außen, bisher, diese rustikale Fassade mit dem alten, fast antiken Reklameschild diverser Biersorten und einer gutbürgerliche Küche, genauso, wie es in der Anzeige gestanden hatte.
Die Gaststätte war um diese Zeit nur spärlich besetzt; an der Theke im Hintergrund standen fünf Gäste, ausschließlich männlichen Geschlechts und einige Paare saßen an den Tischen.
Ludger suchte spontan die Theke auf; zuerst wollte er sich einmal ein Bier gönnen, anschließend einen Blick auf die Speisekarte werfen, um zu entscheiden, ob für ihn doch noch ein Menu oder nur die Buletten in Frage kamen.
An der Theke wurde er von den Männern, obwohl er keinen von ihnen kannte, begrüßt wie ein alter Freund.
„Hallo, Feind des Euro, endlich zu uns gefunden?“
Im gleichen Augenblick trat der Wirt hinter dem Tresen vor und begrüßte ihn gar mit Handschlag und stellte sich vor:
„Seien Sie willkommen, werter Freund der DM. Mein Name ist Schmitz, Günter Schmitz. Ich begrüße Sie hier im Club der Gleichgesinnten, im Club der treuen Währungshüter!“
„Willkommen, willkommen!“ hallte es an der ganzen Theke, vereinzelt vernahm man auch „Nieder mit dem Euro!“
So wurde er auf direktem Wege eingeführt, bei den Freunden und Bewahrern der alten Mark, und bevor er sich versah, hatte er bereits das achte Glas Bier vor sich stehen. Nun spürte er doch allmählich ein stärkeres Hungergefühl und fand, dass es Zeit sei etwas feste Nahrung zu sich zu nehmen.
Er entschied sich für die Buletten, die man auch im Stehen an der Theke einnehmen konnte, denn er wollte seine neu gefundenen Freunde nicht brüskieren.
Inzwischen hatte sich das Lokal ziemlich gefüllt; der Wirt hinter der Theke hatte alle Hände voll zu tun und an den Tischen war eine junge gutgebaute Kellnerin pausenlos im Einsatz.
Ludger dachte an den eigentlichen Zweck seines Besuches; wollte er nicht mit eigenen Augen in dieser Gaststätte, in der die alte Mark noch etwas galt, prüfen, was es auf sich habe, mit der ominösen Zeitungsanzeige? Bisher jedoch hatte noch niemand der Gäste seine Rechnung verlangt und gezahlt,so dass er noch nicht den Wahrheitsgehalt der Werbung feststellen konnte.
Vielleicht waren es ja alle Stammgäste und ließen anschreiben, solange es die Geduld des Wirtes zuließ, um dann klammheimlich mit dem Euro zu bezahlen.
Nach zwei geschlagenen Stunden schließlich machte einer aus der Thekenrunde Anstalten, zu gehen und verlangte lautstark nach seiner Rechnung.
„Günter, zahlen, bitte! Ich muss nach Hause, meine Alte wartet.“
Aus dem Kreise der Zechkumpane erklang verhaltener Protest.
„Bleib doch noch ein wenig“
„Ich kann nicht, Freunde“.
„Achtundvierzig Mark dreißig, Albert“, forderte der Wirt.
„Wie bitte, Günter, was sagst du?“
„Achtundvierzig Mark dreißig, Albert; hast du das Jägerschnitzel von vorhin vergessen?“
Albert starrte auf seinen Bierdeckel, ein wenig benommen, und zückte seine Geldbörse. Ein verhältnismäßig wenig gebrauchter fünfzig Markschein kam zum Vorschein.
„Neunundvierzig, Günter“, sagte der Gast mit etwas lallender Stimme, „ich gebe dir neunundvierzig, weil du so lieb bist“.
„Ich dich auch“, rief der Wirt lachend und kniff den übrigen Thekenstehern ein Auge zu.
‚Tatsächlich‘, dachte Ludger, ‚hier wird in der Tat in DM bezahlt. Ich weiß noch nicht, wie das System funktioniert, aber immerhin, es funktioniert‘.
Er fragte den Wirt, mit dem er mittlerweile ebenso wie mit den anderen Thekenfreunden zum du übergegangen war, ob er immer so gut zu tun habe, wie heute, und dieser bejahte freudig.
„Ja, weißt du, Ludger, im Schnitt ist es immer so voll, und das die ganze Woche durch, denn wir haben keinen Ruhetag; allerdings haben wir nur in den Abendstunden geöffnet. Das läuft schon lange so gut hier, vor allem, seit der Umstellung auf den Euro. Ja, diese Idee mit der Wiedereinführung oder besser gesagt Beibehaltung der alten DM war, wenn man so will, Gold wert“.
Ludger geriet ein wenig ins Grübeln.

Als er bemerkte, dass der Wirt ein wenig Zeit hatte, wandte er sich erneut an ihn.
„Hör mal, Günter, du sagst, dass hier der Laden so gut läuft, seit der Umstellung auf den Euro, und ich sehe ja mit eigenen Augen, was so im einzelnen bestellt und verkonsumiert wird, wenn man das mal so hochrechnet....Sag doch mal, woher haben denn deine Gäste nach dieser langen Zeit noch so viele alte Währungsreserven, und wo, zum Teufel, bekommst du denn heute noch deine Tageseinnahmen umgetauscht?“
Der Wirt schaute Ludger mit einem vielsagenden Blick an und legte einen Zeigefinger auf die Lippen:
„Betriebsgeheimnis, Ludger, reines Betriebsgeheimnis“.
Diejenigen der umstehenden Gäste, die das Zwiegespräch akustisch und geistig mitbekommen hatten, sahen sich an und grinsten, während die anderen Thekenfreunde weiterhin den Niedergang des Euro besangen.
Wenig zufrieden bestellte sich Ludger ein letztes Bier und bat gleichzeitig um seine Rechnung. Er zahlte mit dem Hunderter von Tante Alma, den der Wirt zur allgemeinen Erheiterung der Thekengäste herumreichte, bevor er ihm das Wechselgeld aushändigte, in DM natürlich.
Als Ludger die Wirtschaft verließ, ärgerte er sich ein wenig, weil es ihm nicht gelungen war, dem Wirt das Geheimnis der wunderbaren DM-Vermehrung zu entlocken und er beschloss, weil er weniger als die Hälfte der DM Reserve, die er bei sich trug, ausgegeben hatte, noch ein zweites und letztes Mal auszuprobieren.
Als er am nächsten Tag das Lokal betrat, fand er es fast wie am Vorabend vor. Die Tische waren noch spärlich besetzt und die üblichen Gäste an der Theke empfingen ihren neuen Freund mit lautem Hallo.
Auch Günter, der Wirt, begrüßte ihn freundlich mit Handschlag und bat ihn, nachdem Ludger seine Bestellung aufgegeben hatte, kurz mit nach hinten, in sein Büro, wie er sich ausdrückte, zu gehen.
„Ludger, nun wirst du einer von uns“, rief einer an der Theke, „nun wirst du eingeweiht“
Ludger erschrak gewaltig. Was sollte das bedeuten? Einer von uns? Nun wirst du eingeweiht? Klopfenden Herzens folgte er dem Wirt. Was wollte der von ihm? War es wegen des Geldscheines vom Vorabend, vielleicht glaubte der Wirt, dieser Schein sei eine Fälschung? Aber ein Geldschein aus Tante Almas Vase? Das konnte er nicht recht glauben. Oder steckte etwas ganz anderes dahinter, wurde hier gar Geld gefälscht, im Hinterzimmer, und er war nun zum unfreiwilligen Mitglied einer Geldfälscherbande geworden, einer Bande, die der DM so sehr die Treue hielt, dass sie diese heute noch fälschte?
Der Wirt schloss die Tür zum Hinterzimmer, einem kleinen Raum, der in der Tat etwas Ähnlichkeit mit einem Büro hatte. Ludger blickte sich um; keine Spür von einer Gelddruckmaschine oder Münzpresse.
„Ludger, setz dich!“ forderte der Wirt ihn auf und nahm selbst hinter einem geräumigen Schreibtisch Platz, „ich glaube, es wird Zeit, dir das System zu erklären“.
„Mein Gott!“ dachte Ludger entsetzt, „er will mir das System erklären, das System der Geldfälschung und Verteilung“.
Er sah sich bereits mit mehr als einem Bein im Gefängnis.
„Ludger“, fragte ihn der Wirt, „hast du außer der alten Mark auch noch ein paar Euro dabei?“
Ludger verstand die Frage nicht, aber er nickte.
Was wollte der Wirt denn mit dem Euro, in einer Kneipe, wo dieses Zahlungsmittel derart verhasst war, dass es gar nicht zugelassen war?
„Das System ist folgendermaßen“ fuhr Wirt Günter fort, „wenn du Stammgast werden willst, bei uns, und davon gehe ich aus, sonst wärest du ja nicht zum zweiten Mal hier, musst du mir zuvor eine gewisse Summe in Euro überlassen, als Vorschuss.
Dann wechsele ich dir diesen Betrag unverzüglich in DM um, und so kannst du vorne im Lokal mit der schönen alten Mark bezahlen, bis der Vorrat aufgebraucht ist. Sodann wiederholt sich das alte Spiel. Auf diese Weise erweisen wir alle hier der alten Währung die Ehre und bewahren gleichzeitig das Image meines Lokales als der einzigen Gaststätte in diesem Lande, in der die Mark noch was gilt“.
Ludger war zuerst sprachlos, dann verzog er das Gesicht zu einem breiten Grinsen; so einfach war das System. Spontan hinterlegte er eine größere Summe in Euro, die nach seiner Schätzung für die erste Woche ausreichen würde, und spontan ward er aufgenommen, mit Glanz und Gloria, im Club der edlen Währungshüter.
„Und gestern Abend“, fragte er beiläufig den Wirt, meinen Verzehr von gestern Abend, wie verbuchst du den?“
„Das sei dir geschenkt, Ludger, fürs Wiederkommen. Siehst, du, alle hier im Lokal, waren einmal hier zum Schnuppern wie du, und danach sind sie alle, alle wiedergekommen!“
 



 
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