November

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H

HFleiss

Gast
November


Es war Herbst geworden, November. November des Jahres 2005. Noch lag nasses, verfärbtes Laub in den Straßen, kühl wehte mir der Wind in den Anorak. Auf die Straße ging ich jetzt nur noch zum Einkaufen. Auch abends blieb ich gegen meine Gewohnheit zu Hause, versuchte dem Fernseher irgendeine halbwegs zumutbare Sendung zu entreißen, gab es dann jedesmal auf. Ich ging früh zu Bett in diesen Novembertagen, der Schlaf vor Mitternacht ist immer noch der gesündeste.

An einem dieser verregneten Morgen, in meinem Briefkasten steckte die Bezirkszeitung, ein Vierseitenblättchen, ein paar Artikel aus der Region, zwei Seiten Annoncen, eine Seite Veranstaltungen im Kiez, stutzte ich: eine Lesung aus den Memoiren eines Stasihäftlings. Ganz in meiner Nähe, im Nachbarschaftshaus um die Ecke, heute abend. Und der Autor: Jörg P.

Jörg. Ich hatte ihn seit Jahren aus den Augen verloren. Ein Kollege aus meiner Redaktion, damals, als es sie noch gab, Anfang der achtziger Jahre. Jung war er damals, erst ein Jahr weg von der Journalistenschule in Leipzig, gerade Vater geworden. Die Gewerkschaft hatte ihm eine Wohnung verschafft in einem der neuen Wohngebiete. Heute werden sie abschätzig Plattenbauten genannt, damals war es wie ein Fünfer im Lotto. Mit Balkon und fließend Warmwasser! Einen ganzen Tag lang schwärmte er mir vor, wie er sie einrichten würde: mit Sperrmüllmöbeln und Postern an den Wänden, bloß keine Schrankwand! „Na, wenn das deiner Frau gefällt“, sagte ich und griente. Das Grienen hatte er mir ein bisschen übelgenommen.

Eines Tages erschien er nicht zum Dienst. Dafür tauchten zwei Männer auf, die wir nicht kannten, die beiden kamen vom Ministerium für Staatssicherheit. Ich war Redaktionssekretärin und führte sie ins Chefzimmer, wo sie ein paar Minuten allein herumsaßen, bis mein Chef Horst erschien. Hastig riss er die Tür auf und schloss sie hinter sich, ich hatte den Eindruck, er würde sie verrammeln. Ich setzte mich an meine Schreibmaschine und begann zu tippen, sie sollten nicht denken, ich würde sie belauschen.

In der Redaktionssitzung erfuhren wir, warum Jörg heute nicht gekommen war. Er war festgenommen worden, irgendeine Sache, über die es nicht angebracht war zu sprechen, politisch, sagte Horst. Jörg habe ihn zutiefst enttäuscht. In der Parteigruppe könne man, soweit es die Umstände zuließen, Näheres besprechen. Das war alles, was er von sich gab.
Ich war als einzige in der Redaktion nicht in der Partei. Trotzdem erfuhr ich damals, weshalb Jörg festgenommen worden war: Er hatte sich auffällig an der Grenze herumgedrückt. Die Grenze war für uns Normalsterbliche nicht existent, als DDR-Bürger konnte man sie, wenn man einen günstigen Aussichtspunkt erwischte, von weitem sehen. Näher heranzugehen schien nicht ratsam. Im Grunde hatte ich sie vor der Maueröffnung nie gesehen. Heute frage ich mich, wie ich das so lange ausgehalten hatte: die Mauer, das Damoklesschwert zwischen Ost und West, und ich hatte sie vor dem 9. November 89 nur im Westfernsehen gesehen, niemals live.

Heute abend würde Jörg im Nachbarschaftshaus lesen. Memoiren hatte er also geschrieben. Ich freute mich, einen alten Kumpel wiederzutreffen. Aber ich hatte Manschetten: Wie würde er jetzt, nach so vielen Jahren sein? Würde ich ihn überhaupt wiedererkennen? Und er mich? Wollte er mich, eine von seiner Redaktion, überhaupt wiedertreffen? Und ich hatte Angst, dass er zu sehr verändert war, einer von den Leuten geworden war, mit denen ich nichts zu tun haben wollte. Diese Leute spuckten Gift und Galle, stöhnten in der Presse und im Fernsehen überall herum, wie sehr sie doch in der DDR gelitten hatten, und den Politikern, egal, ob von einer Westpartei oder sogar neuerdings der PDS, gefiel das. Nein, mit solchen Leuten wollte ich nichts zu tun haben, sie kassierten für das, was ihnen tatsächlich oder angeblich im DDR-Unrechtsregime widerfahren war. Im stillen feixten sie über die Blödheit der antikommunistisch fixierten Westpolitiker, denen an allem gelegen war, was gegen die DDR ging. Im Grunde also auch gegen mich, denn ich hatte in der DDR gelebt, gar nicht so schlecht, und ich hatte - je mehr Zeit verstrich, wurde ich mir darüber klar - gern in der DDR gelebt. Das sollte mir peinlich sein, Ostalgie nennen sie das heute in den Medien. Jedenfalls hatte ich lieber in der DDR gelebt als jetzt, in der wiedervereinigten Bundesrepublik. Kein Wunder: Mit meiner Minirente! Fünfunddreißig Jahre ununterbrochen gearbeitet, und jetzt dieses Almosen. So viel, dass ich nicht verhungerte und meine Abgaben bezahlen konnte, aber schon ein Zeitungsabonnement war nicht mehr drin. Erst recht nicht eine Reise. Für die wir ja angeblich, auch, unsere Bananenrevolution 89 gemacht hatten. Mein Internetzugang gar war unzulässiger Luxus, dafür sparte ich am Essen und mied alles, was Geld kostete. Hegel und Marx hatten recht: Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Aber nicht nur.

Ich hatte mich wegen des Wetters angepummelt. Jörg kannte mich als sehr schlanke Frau in den besten Jahren, und nun würde ich vor ihn treten, fünfundzwanzig Jahre älter, eine Seniorin, wie Rentner heute beschönigend genannt werden, Falten im Gesicht und raus aus der Arbeit. Auch raus aus seinen Erinnerungen?

Der Raum war nicht allzu groß, es roch nach dem Zeug, mit dem sie heute die Fußböden bearbeiten, parfümig, und nach feuchten Klamotten, die an der Eingangstür am Ständer hingen. Viele Leute waren es nicht, die schon auf den Stühlen saßen, die, wie Soldaten ausgerichtet, wie es sich eben gehörte bei einer Veranstaltung, schon mit einem Zettel belegt waren: Werbung für Jörgs Buch, eigenhändig am Computer geschrieben.

Er kam. Ein Mann mit verschämten Bierbauch in den Vierzigern, schütterem blondem Haar, in Norwegerpullover und Jeans. Er setzte sich, ohne hochzublicken, hinter seinen Tisch vorm Fenster, auf dem ein Stapel seines Buches lag, und begann nach der Begrüßung mit fremder Altherrenstimme zu lesen. Er hatte ein paar Kapitel ausgewählt: das, in dem er von seinem ersten Tag im Knast erzählte, ein paar Unterhaltungen mit Mithäftlingen. Und dann, wie er gefoltert wurde. Mit Wasser und Strom, und wie sie ihn psychisch fertig gemacht hatten und dass sich seine Frau hatte scheiden lassen. Er differenzierte nicht, für ihn waren alle Vernehmer Stasi-Bestien, die mit den abgefeimtesten Methoden alles, was sie wissen wollten, aus ihm herausgequetscht hatten. Die Leute stöhnten auf, als er beschrieb, wie sie die Elektroden an seine Hoden ansetzten und wie er mit den Füßen im Wasser stand. Ein Mann, schon älter, war aufgesprungen und fuchtelte mit den Armen herum. „Schweine! Schweine! Wenn ich erst mal meine Memoiren schreibe!“, schrie er, hochrot im Gesicht. Die Wellen der Sympathie fluteten Jörg zu. Wie warmer Milchbrei von Müller, dachte ich. Wenn Jörg bloß nicht daran erstickte.

Der Raum hatte sich ziemlich gefüllt, nur ein paar Stühle in der hinteren Reihe waren leer geblieben. Die Leute wogten vor Empörung auf ihren Stühlen. Ich sah mich um, nach hinten. Ein paar Gesichter, vor allem von älteren Frauen, verzerrt, hochrot.

Ich blieb misstrauisch: Die Geschichte mit der Folterung hatte sich Jörg ausgedacht. Oder abgeschrieben. Mir war, als hätte ich sie schon mal gelesen. Damals, als die ersten Berichte aus Chile kamen, nach dem Putsch gegen Allende. Das waren, hatte man uns gesagt, CIA-Methoden, um Geständnisse herauszuholen. Und die Stasi, der ich so ziemlich alles zutraute, war also nicht besser als die CIA? Nun ja, auch die Stasi, Schild und Schwert der Partei, der Avantgarde der Arbeiterklasse, hatte mit verbrecherischen Geheimdienstmethoden gearbeitet. Doch, schon vorstellbar. Warum sollte Jörg Märchen erzählen?

Die Lesung war zu Ende. Jörg fragte, ob wir Fragen hätten. Ein paar Männer, nahe der Siebzig, hatten keine Fragen, aber sie gaben Statements ab: Dass sie froh wären, dass das nun alles hinter uns lag, und wie sehr ihnen Jörg leid tat. Eine Frau, deren Mann bei der Stasi gearbeitet hatte, outete sie sich, pflichtete den anderen bei: Ihr habe es auch nicht gefallen, dass ihr geschiedener Mann beim Geheimdienst gearbeitet hätte, und immer wollte sie, dass er was anderes gemacht hätte. Aber es sei alles noch viel schlimmer gewesen, ihr Mann habe da einiges kucken lassen. Blass vor Aufregung setzte sie sich, und alle klatschten Beifall, irgendwie mitleidig.

Jörg wollte nach dem Buchverkauf gehen. Am Kleiderständer stand ich dann neben ihm. „Jörg? Kennst du mich noch?“

Er blinzelte. Er hatte jetzt keine Brille mehr auf. „Nee, sollte ich?“

„Na ich, Hanna, von der Redaktion, euer gutes Stück, wie ihr immer gesagt habt. Ich bin doch damals Sekretärin gewesen, damals, als du ...“

Es dämmerte bei ihm. „Ach du! Die Hanna! Na kiek mal, hätte dich ja kaum wiedererkannt! Mensch! Ist aber lange her.“ Er musterte mich von Kopf bis Fuß. „Bist älter geworden, Hanna.“

„Du nicht?“

„Doch, schon. Gehen wir einen Kaffee trinken?“

Es war eher ein Stehcafé, in das mich Jörg führte, als ein richtiges Café. Ein paar Tische und Stühle, beinahe keine Gäste, ein hochbeschäftigter Thekenmann.

Unser Gespräch kam nicht in Gang. Der Kaffee schmeckte wie damals unser Kantinenkaffee. Ich sagte es Jörg. Er lachte. „Kannst recht haben.“

„Sag mal, Jörg“, ich wollte auf sein Buch kommen, auf die Foltergeschichte, sie ließ mir keine Ruhe, „stimmt das eigentlich? Das, Jörg, was du schreibst, ich meine, das mit der Folter und dass die Stasi genauso schlimm war wie die CIA?“

Er grinste. „Du verrätst mich doch nicht? Also, das mit der Folter ist so eine Sache. Ich selbst bin nicht gefoltert worden. Aber ich kenne da ein paar Leute, die sind, echt, die sind wirklich gefoltert worden. Aber die schreiben eben keine Memoiren. Und sie haben mich gebeten, ein Kapitel dazu zu schreiben. Wir müssen zusammenhalten. So ist das.“

„Also hat die Stasi gefoltert?“

„Genau kann ich es nicht sagen, jedenfalls nicht als Augenzeuge. Aber die Leute waren glaubwürdig. Sie haben mir ihre Narben gezeigt.“

„Hm. Hätte ich aber nicht gemacht. Ich meine, dass ich das als Erlebnisbericht geschrieben hätte, Jörg."

„Na, du schreibst ja auch nicht!“ Er war wütend geworden. Ich musste ihn wieder runterholen, wenn ich Gewissheit über die Folter haben wollte.

„Doch, ich schreibe. Neuerdings. Seit ich so viel Zeit habe. Geschichten und so.“

„Na, dann weißt du ja, wie schwer es ist mit der Wahrheit. Wenn man Memoiren schreibt. Du hast doch bestimmt auch Memoiren geschrieben?“

„Ja, ein paar Kapitel. Bin aber erst bei der Kindheit.“

„Und die DDR sparst du aus!“

„Nein. Ich werde das schreiben, an das ich mich erinnere. Hatte ja kein Tagebuch geführt. Kann also schon passieren, dass ich was auslasse.“

„Tagebuch! Du spinnst ja! Wenn ich Tagebuch geführt hätte, hätten sie mir mehr als die vier Jahre Bautzen II aufgedrückt!“

Wir tranken unseren Kaffee aus. Jörg wollte gehen. Er stand schon. „Schön, dich mal wiedergesehen zu haben.“

„Jörg, bevor du gehst – ich kann ja verstehen, dass du noch immer in Brass bist, war bestimmt kein Zuckerschlecken -, Jörg, sag mir, ich muss es wissen: Was ist dran an der Folterei bei der Stasi!“

Jörg setzte sich wieder. „Also gut, weil du es bist. Also, wie schon gesagt, die Stasi hat gefoltert. Die haben da bestimmte Ecken gehabt, die Leute wurden da hingekarrt, irgendwelche Kaffs auf dem Land. Schreib ich doch in meinem Buch, nicht aus dem kleinen Finger gezuzzelt. Und wenn sie wiederkamen, haben sie nichts verlauten lassen. Die Leute, mein ich. Und als sich rumgesprochen hatte, dass ich über Bautzen schreibe, sind sie gekommen. Die, die ich noch kannte. Die hatten sich damals nicht getraut, ist doch verständlich. Erst jetzt rücken sie raus mit der Sprache.“

„Früher hast du nichts vom Hörensagen geglaubt. Du wärst ein guter Journalist geworden, Jörg.“

„Hat sich was mit Journalist. Alles Mögliche habe ich gemacht nach der Entlassung, sogar Pförtner. Berlin-Verbot. Ich sage nur: Prenzlau. Dieses miese kleine Prenzlau mit den netten Vorgärten.“

„Du schreibst, sie haben dich wegen Spionage eingebuchtet. Hätte ich nicht vermutet, ich kannte dich doch. Glaubte ich jedenfalls.“

„Hach, diese alten Geschichten, Hanna. Ich sag dir, wie es war: Mich haben auf einer Dienstreise ein paar Leute angesprochen, zwei Männer, damals. Westtypen. Haben sich nicht vorgestellt. Ob ich ein bisschen Westgeld verdienen wollte. Klar, wollte ich. Ein paar Artikel, nicht ganz auf Linie, Horst, der Döskopp, hätte das überhaupt bemerkt. Dachte ich. Und dann sollte ich so dicht wie möglich an die Mauer rankommen, mich ein bisschen umsehen. Das war alles.“

„Und? Hast du’s gemacht?“

„Einen Artikel, und den hat Horst dann in den Papierkorb geschmissen und mich aufgeklärt über die DDR-Politik. Die internationale Bedrohung und der amerikanische militärisch-industrielle Komplex und so. Du weißt doch, wie väterlich der einem ins Gewissen reden konnte. An der Mauer haben sie mich gekriegt. Und dann Bautzen II. Mehr sag ich nicht.“

„Brauchst du auch nicht. Kann mir einiges vorstellen. Was wolltest du übrigens mit dem Westgeld? Weißt du noch, wie Christa rumgeeiert hatte: Warum sie ihr Gehalt nicht zur Hälfte in West kriegt? Die war bis zum Schluss dabei, bis sie uns auflösten. Hat ziemlichen Blödsinn gequatscht.“

„Haben ja wohl so einige. Ich lese Zeitung. Manchmal, du glaubst es kaum, findest du einen Namen. Einen von früher. Wendemanöver. Drum links, zwei, drei, wo dein Platz, Genosse ist ... Westgeld? Hab nie welches gesehen, wenn du es genau wissen willst. Was schon? Einkaufen. Im Intershop. Wo sonst. Ein paar Bücher durchschleusen. Wollte ja die DDR nicht umstülpen.“ Er grinste. Wie damals. Jetzt erst erkannte ich ihn wieder.

„Nein, wolltest du nicht. Aber es ist spät.“

Er gab mir die Hand. „Sorge dich nicht und trink Coca-Cola. Wird schon schiefgehen. Ich meine, alles, das hier.“

„Du meinst: Jetzt, wo wir Westen sind?“

„Na ja.“

Auf der Straße war es noch windiger als am Tage geworden, ich glitschte über nasses Laub. Der Winter würde kalt werden. Verdammt kalt.

(2006)
 
M

Melusine

Gast
Hallo Hanna,
danke für diese Geschichte. Ich finde sie sehr gelungen. Schlicht und unverschnörkelt erzählt, ohne Längen, gekonnte Rückblende, Spannungsbogen ... alles da, was eine gute Erzählung braucht - und dabei wirkt der Text auf mich authentisch und glaubwürdig; ich nehme es dir ab, dass du Dinge erzählst, die wirklich so passiert sind bzw. die du wirklich so in Erinnerung hast.
Was mir ebenfalls gut gefällt, ist, dass du nicht verallgemeinerst, sondern durchgängig aus deiner eigenen, persönlichen und privaten Perspektive erzählst. Einen Ausschnitt von Wirklichkeit, so wie du sie siehst. Du lässt mich als Leserin durch deine Augen blicken.

Ich las deine Kommentare zu Mumpf Lunses Text "Gefängnis" und finde, dir ist hier ein sehr guter Gegenpol dazu gelungen. In allfällige politische Auseinandersetzungen darüber möchte ich mich - als völlig Außenstehende - nicht einmischen. Doch ich bin froh darüber, hier einen weiteren Puzzlestein zu finden, um mein nach wie vor bruchstückhaftes Bild einer vielschichtigen Realität wieder ein wenig zu ergänzen.


Ein klein wenig "Textarbeit": Das einzige, was mir auffiel (aber ich muss zugeben, ich war von deinem Text zu sehr gefesselt, um bewusst auf "Lektorats"-Details zu achten), war der Satz:
Er setzte sich, ohne hochzublicken, hinter seinen Tisch vorm Fenster, auf dem ein Stapel seines Buches lag (..)
Hier würde ich vielleicht eher schreiben: "ein Stapel von Exemplaren seines Buches".
Hm, vielleicht auch nicht ganz das Gelbe vom Ei (etwas schwerfällig), aber über den Stapel aus einem Buch stolperte ich sozusagen ein wenig.
Ist aber nur ein winziges Detail und tut deiner Geschichte keinen Abbruch.

Liebe Grüße aus Wien
Mel


P.S.: Oh, fast hätte ich es vergessen: Auch den (symbolträchtigen) Titel und dessen Einbettung in die Geschichte finde ich äußerst gelungen!
 
H

HFleiss

Gast
Ja, das ist eine authentische Geschichte. Was den Stapel Bücher angeht: Er hatte ja nur ein Buch geschrieben, deshalb also der Stapel seines Buches, nicht seiner Bücher. Melusine, du hast mich mal als Kommunistin und Marxistin bezeichnet, ich fand das wenig freundlich in unseren heutigen Zeiten, wo das ein Stigma ist. Bist du immer noch dieser Meinung? Ich sehe mich nur um, registriere, was zu registrieren wert ist. Und diese Geschichte ist eine von denen, die ich auf dieser Grundlage geschrieben habe. Nichts schönen, nichts verheimlichen, aussprechen, was ist - das ist mein Motto. Mehr nicht. Das Credo jedes Schreibenden. Sofern er sein Schreiben selbst ernst nimmt. Aber man braucht ein gewisses Päckchen Mut dafür, das ist wohl wahr.

Gruß
Hanna
 
M

Melusine

Gast
Hanna, das war ein Missverständnis. Ich versuchte es dir ja schon klarzumachen, aber du fühltest dich angegriffen - was ich auch verstehe. Es war nicht als Angriff gemeint, zudem ironisch gedacht. In Österreich gibt es diese extreme Polarisierung seit langem nicht mehr und es war mir wohl nicht bewusst, dass es sie in Deutschland noch oder wieder gibt. Mein Erfahrungshintergrund ist eben ein ganz anderer als deiner.

Mein damaliger Kommentar basierte auf Erfahrungen mit "linksintellektuellen" Studienkolleg/inn/en, die marxistische Lesekreise frequentierten, "Das Kapital" gleichsam mit dem Löffel gegessen zu haben schienen und nicht anstanden, jeden der darin weniger bewandert war als potenziell faschistoid zu betrachten. Meine eigene politische Einstellung (nicht dass ich das hier nun näher ausbreiten möchte) ist durchaus links und antikapitalistisch, das nur am Rande. Mir geht nur jeglicher Dogmatismus auf die Nerven.

Vielleicht war es unbedacht, ohne Kenntnis deiner Hintergründe auf einen Kommentar von dir zu reagieren. Tut mir leid.
Vielleicht können wir ja in Zukunft doch einigermaßen unbefangen miteinander kommunizieren. Würde mich freuen.

Deine Texte jedenfalls gefallen mir großteils gut. Teils sogar sehr gut - wie dieser.

LG Mel
 
H

HFleiss

Gast
Nein, Melusine, entschuldigen musst du dich nicht. Werde mit der Zeit ja immer harthöriger, es lohnt sich einfach nicht, man kann den Leuten die Haut abziehen, und sie bedanken sich noch dafür. Aber dass es in Österreich so viel anders ist als in Deutschland - machst du dir da nicht ein bisschen was vor? Es soll eine Menge österreichischer Auswanderer geben. Bei uns gehen die Wogen noch immer hoch, sobald einer eine andere Meinung hat als die veröffentlichte. Und was so veröffentlicht wird, ist kein Geheimnis. Dann kuschen alle und halten entweder lieber das Maul oder hauen noch drein auf den Delinquenten. Hast du ja mitgekriegt bei der Handke-Geschichte. Geh mal rein in die Plauderrunde: Unser Bonanza als Verteidiger des Düsseldorfer Stadtrates. Liegt alles auf derselben Linie. Ich habe die Befürchtung: Falls es noch mal einen Hitler gäbe in Deutschland, die Leute würden wieder "Deutschland, erwache" schrein - auch aus staatsbürgerlicher Disziplin, und wenn sie sich jetzt noch so demokratisch gebärden. Wir Deutschen sind eben von unserer Obrigkeit wie gebügelt, und eine eigene Meinung haben wir schon lange nicht mehr, hatten wir vielleicht nie. Und wenn wir schon mal eine Revolution machen - Himmel, darüber schweig ich lieber. Aber nun lass es gut sein, genug geplaudert. Es reicht, sagte der Staatsanwalt.

Gruß
Hanna
 

Mumpf Lunse

Mitglied
Elektroden an den Hoden

Hegel und Marx hatten recht: Das Sein bestimmt das Bewusstsein.
Marx' berühmter Satz: "Das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewusstsein" (im Gegensatz zu Hegel'schem Denken, demzufolge das Bewusstsein das Sein bestimmen würde)

Wer hatte denn nun Recht?

Zitat Wiki (Über die Gedenkstätte Bautzen 2): "Zu den Gefangenen zählten vor allem politische Gegner der SED-Führungsspitze, ausländische Häftlinge, die wegen Spionage und Fluchthilfe verurteilt waren, aber auch straffällig gewordene Funktionäre aus dem DDR-Herrschaftsapparat. Durchschnittlich waren in dieser Zeit 150 bis 180 Gefangene in Bautzen II inhaftiert."

Bautzen 2 war also ein recht exklusiver Knast. Das zeigt schon die vergleichsweise geringe Zahl an Häftlingen.

Ein Typ wie der Portagonist in der Geschichte 'November' wäre, weil er sich an der Mauer rumdrückte, mit Sicherheit nicht in Bautzen 2 gelandet.
Auch die Idee, dass ominöse Männer aus dem Westen versuchen einen DDR-Journalisten dazu zu bewegen in der DDR-Presse einen DDR-feindlichen Text zu veröffentlichen ist mehr als naiv.
Das entspricht der etwas drögen Fantasie der DDR-Presse zu DDR-Zeiten und zeugt von hanebüchener Unwissenheit.

Am einfachsten wäre es, wenn HFleiss uns den Titel des Buches verrät, ich würde gern nachlesen, wie einer von den Elektroden an den Hoden im Stasiknast berichtet.
Ich hab das noch nie gehört oder gelesen.

Da HFleiss die Mauer erst nach der Wende gesehen hat, ist zu vermuten das es sie vielleicht gar nicht gab, oder?
Die wurde sicher extra aufgebaut, um die DDR zu verleumden.
Von den 'Siegern' errichtet um ein Argument zu haben, mit dem man den groß angelegten Versuch die unbescholtenen DDR-Bürger um den Lohn ihrer 'Lebensleistung' zu betrügen, begründen kann.
Das die ominösen Männer, 'Westtypen", jemandem Geld dafür bezahlen das er sich mal an der Mauer umguckt ist witzig.
Wahrscheinlich hatten die auch nur davon gehört und wollten jetzt mal von einem Eingeborenen wissen, was dran ist an den Gerüchten. Ihren akkreditierten Journalisten und den tausenden Besuchern, die nach Ostberlin kamen, trauten sie scheinbar nicht, Anfang der 80ziger. Möglich ist allerdings auch das sie eine Invasion vorbereiteten, die Kapitalisten und wissen wollten, wo sie am besten rüberklettern können. (Falls sich das Gerücht es gäbe eine Mauer als wahr erweisen würde.)

Die Tatsache, dass die Autorin sich zu Elektroden und Hoden versteigt um unbegründete Foltervorwürfe zu illustrieren spricht Bände.
Wenn HFleiss sich ein wenig mit den realen, tausendfach belegten, nachlesbaren und zu besichtigenden Bedingungen etwas beschäftigt hätte, wäre der Kunstgriff an die Hoden unnötig gewesen. (Mal davon abgesehn, dass so ein Griff an die Hoden etwas unschicklich ist.)

Welches Menschbild verbirgt sich dahinter wenn die Autorin, die von ihr Selbst als eher harmlos und läppisch dargestellte fiktive, der Fantasie der Autorin entsprungene, 'Straftat' des Protagonisten als ausreichend für 4 Jahre Haft in einem Sondergefängnis der Stasi hält?
Wäre es nicht eher angebracht, dieses zu hinterfragen?

Der Text lässt mich ratlos aber wenigsten mit einem Schmunzeln zurück.
Ich schlage vor, ihn in Humor und Satire zu verschieben. Dort würde er als gelungene Parodie auf die Relativierungsversuche der ehemaligen DDR-Nomenklatura eine 10 von mir bekommen.

mumpf
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
aber

vielleicht hatte hfleiss keine zeit, um eine fahrt nach berlin zu unternehmen, nur um "Die Mauer" live zu sehen? und selber, bist du der mauer mal nahe gekommen? ich schon. sogar mit absicht.
lg
 

Mumpf Lunse

Mitglied
@flammarion

Ich, obwohl aus Halle stammend, auch.
Ich wurde sogar verhaftet dabei. Ein Tor (für die Armeefahrzeuge, stand offen und wir guckten um die Ecke und gingen wohl auch einige Schritte hinein.)
Nach 4 Stunden wurden wir wieder freigelassen und konnten unserer 'Mucken' (ich war mit meiner Band da) in Berlin durchziehen.

Ich wollts ja eigentlich nicht zugeben, aber ich hab sie mit eigenen Augen gesehen - die Mauer.
Hoffentlich macht mich das jetzt nicht unglaubwürdig.

mumpf
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
na gugge.

wenn du die gelegenheit nicht genutzt hättest, dann hättest du die mauer auch nur aus m fernsehen gekannt.
lg
 
H

HFleiss

Gast
Hallo, Mumpf Lunse. Schön, dass du dich meldest. Wie Melusine richtig gesehen hat, habe ich diesen Text als "Gegentext" auf deinen gepostet. Wir waren eben in der DDR nicht alle Knastologen, fast 17 Millionen Leute ohne Knasterfahrung, vielleicht glaubt sie es mir jetzt?

Deine Meinungsäußerung trieft nur so vor Hass auf die Vergangenheit. Und es ist Vergangenheit, alles, was mit der DDR zusammenhängt. Nun muss man sich aber tatsächlich mit der Vergangenheit beschäftigen, damit man dieselben Fehler, die man damals gemacht hat, nicht noch einmal macht. Insofern will ich an deiner Vergangenheitsbewältigung nicht rütteln, du hast sie meiner Ansicht nach nötig. Nur habe ich wenig Hoffnung, dass du aus deiner Vergangenheit gelernt hast - nach dem, was du heute wieder mal schreibst.
Aber ich habe ja auch nichts anderes erwartet.

Dass du Schwierigkeiten mit der Hegelschen Dialektik hast, will ich dir gern glauben. Bekanntlich fußt Marxens dialektischer Materialismus genau auf den Hegelschen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, nur dass Marx sie auf die Gesellschaft übertragen hat. Du kennst das: Er hat die Philosophie auf die Füße gestellt. Hegel hat tatsächlich gesagt: Das Bewusstsein bestimmt das Sein, aber mit allen Erkenntnissen seiner eigenen These widersprochen. Man mag ihn in der heutigen Philosophie den armen Hegel auch nicht so sehr, ja man tut so, als hätte es ihn nie gegeben. Man übersieht ihn vornehm - bis auf ein paar Spezialisten, und die arbeiten emsig daran, ihn zu verfälschen und ihn für unsere heutigen Gegebenheiten brauchbar zu machen oder - falls sie es nicht schaffen - ihn für untauglich zu erklären. Dabei hat er nebenbei die schönsten und bequemsten Gelegenheiten für unsere heutigen Bosse geschaffen, für das undankbare Völkchen, die Bourgeoisie (deren Vertreter er war), mit der man sich rausreden kann, wenn man gerade ein ganzes Volk auspowern will.

Nun erklär mir doch mal, wer Wiki ist? Wikipedia? Nun, da arbeiten auch nur Leute gegen Geld. Man kann also nicht verlangen, dass sie schlauer als sie selbst sind. Berufen würde ich mich noch nicht mal auf Google, und die sind besser sortiert. Nun wirst du überlesen haben, dass mein Kollege wegen Spionage eingebuchtet worden war, er gehörte also auch nach deiner Definition zur holden Schar der auserlesenen Knastbrüderschaft. Meinst du, er hat mich angeschwindelt?
Würde ich ihm übelnehmen. Vielleicht hat er überhaupt nicht gesessen? Und er hat sich sein ganzes Buch nur ausgedacht?
Schade, ich habe mir den Titel nicht gemerkt, solche Elaborate lese ich für gewöhnlich nicht, dafür ist mir meine Zeit zu schade. Und dass ich dir den Namen nicht verrate, wirst du verstehen. Frag ihn selbst, wenn du ihn triffst, Leute wie du treffen sich ja dann und wann. Er gehört ja dazu. Was die beiden Westtypen sonst noch mit meinem Kollegen vorhatten - mit dieser Auskunft kann ich leider nicht dienen. Ich denke, es wäre nicht bei diesen tatsächlich einfachen Handreichungen geblieben. Das hatte sich die Stasi auch gedacht.

Du bezweifelst, dass westliche Geheimdienste sich an DDR-Journalisten herangemacht haben? Mein Kollege war nicht der einzige, von dem ich es weiß. Wie naiv muss man eigentlich sein, um das bezweifeln zu können? Kleiner Wink mit dem Zaunpfahl: Journalisten sind bevorzugte Kontaktpersonen von Geheimdiensten - siehe übrigens BND und seinen gegenwärtigen Skandal. Gewöhnlich sind Journalisten nämlich sehr gut unterrichtet und haben weitläufige Beziehungen, genau das, woran Geheimdienste interessiert sind. Und Journalisten sind ebenfalls interessiert: an Moneten. Eine ganz praktische Symbiose.

Das mit der Foltermethode ist nun allerdings ein anderer Blumenkohl. Wenn du schon mal in Hohenschönhausen warst,
wirst du ja belehrt worden sein, was für ein menschenverachtender Scheißverein die Stasi war. Hast du dir die von der Bundesrepublik neueingerichteten Folterzellen angesehen? Schon mal was vom Grotewohl-Express gehört? Falls nicht, geh noch mal hin und frage, wie das funktioniert hat. Der Herr Dr. Knabe wird es dir mit manischer Begeisterung erklären.

Dass ich als recht unauffällige DDR-Bürgerin nicht daran interessiert war, aus reiner Neugier gesiebte Luft zu atmen - kannst du mir das übelnehmen? Ich wollte nämlich, selbst wenn du das nicht glaubst, auch weiterhin unauffällig bleiben. Ich habe nie bezweifelt, dass es die Mauer gab, da musst du etwas falsch verstanden haben. Deine Argumentation ist ein bisschen sehr primitiv, verehrter Mumpf.

Du bezweifelst, dass einer für Spionage nur vier Jahre Haft gekriegt hat. Erklären kann ich es mir nicht, aber mein Kollege hatte ja eigentlich kaum etwas angestellt, die Stasi hatte zu schnell zugeschlagen. Und dafür vier Jahre Bautzen - nun, ich finde das allerhand. Nein, ich habe das nicht "hinterfragt", ich habe das meinem Jörg ungeprüft abgenommen. (Der Name ist übrigens falsch, aber ich hoffe, du wirst das verschmerzen, das rechne ich zur künstlerischen Freiheit, ich benutze generell in meinen Texten keine realen Namen).

Ist sonst noch irgendeine Frage offen? Für mich ist die Diskussion mit dir an dieser Stelle nämlich beendet, und ich hoffe, du bleibst weiter ein so tapferer Streiter gegen das Stasiunrecht, die schon halb verweste DDR und für deine ganz persönliche Opferrente. (Da soll es ja auch Knappsereien geben, habe ich gelesen. Undankbarkeit ist eben der Welten Lohn.)

Gruß
Hanna
 

Mumpf Lunse

Mitglied
Schon mal was vom Grotewohl-Express gehört?
Mit dem bin ich sogar gefahren. ;)
Das hab ich aber mit allen Häftlingen in der DDR gemeinsam.

Der Grothewohl-Express war nicht den politischen Gefangenen vorbehalten. Das war die ganz 'normale' DDR.
Die politischen Gefangenen haben sich nur darüber empört.
Das undankbare Gesindel.
 
M

MichaelKuss

Gast
Literatur oder Politik

Als Wessi mit viel Sympathie für Sozialistisches verfolge ich diesen "Meinungsaustausch" (ist es doch, oder?) schon eine Weile bekümmert und skeptisch. Ahnte ich nämlich, dass ein so klarer politischer Artikel, eine so engagierte Aussage (egal wie man sie bewertet) nicht zu einer Diskussion über Literatur, sondern zu einem An- und Beschuldigen und zu einer ins Endlose gehende politischen Auseinandersetzung führen wird.

Wenn wir aber schon bei "politischer Literatur" sind (gibt's dafür bei LL eigentlich eine eigene Rubrik?), will ich auch zwei oder drei Manuskripte beitragen (obwohl ich mir, verdammt noch mal, geschworen hatte mich heraus zu halten). Trotzdem: Heute oder demnächst finden wir von mir die Texte "Am Tag danach", und "Ausländer raus" in der LL. Sicher keine literarischen Highlights, aber nachdenkenswert...
 



 
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