Nur ein Job

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Markus Veith

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In der Nacht hatte es geschneit. Niedrige Schneewälle fassten gestreute Pfade ein. Aus der Trauerhalle dröhnte Orgelspiel. Leute, die drinnen keinen Platz bekommen hatten, standen auf dem Vorplatz beieinander. Herren in dunklen Mänteln. Damen mit Blumensträußen. Sie schauten sich nicht an. Ihre Atemschwaden sprachen von Erinnerungen.
In einiger Entfernung, an der erhöhten Wegkreuzung bei Feld 7, warteten zwei Männer neben einem Bagger. Der Jüngere lehnte sich an das warme Blech. "Alle Träger qualmen wie Schlote", murmelte er in seinen Schal.
Am Seiteneingang hüllten sich sechs Greise in graue Schwaden. Ihre Zylindern und Handschuhen hielten sie noch in den Händen. Sie ließen ein Fläschchen kreisen.
"Raucher, Alkis, und nicht unter sechzig", folgte Felix seinem angefangenen Gedanken. "Vielleicht sind das Grundvoraussetzungen. Und alle sehen gleich aus. Kannst du die auseinanderhalten?"
Klemens, der ältere der beiden, fixierte die Tür zum Trägerraum. "Nö", nuschelte er an seiner Camel vorbei.
Unter einem Vordach standen fahrbare Metallgestelle, überladen mit Blumengestecken und Kränzen. Stoffschleifen bekundeten Beileid. Ein Holzschild lag dabei, bedruckt mit einem Namen in gotischen Lettern.
Christa
Krampe

"Die war gar nicht so alt", sagte Felix.
"Vierzig."
"Hast du nachgeschaut?"
"Nein." Klemens warf die Kippe weg. In der Halle war das Lied verstummt. "Schmidtchen soll bloß voranmachen."
Gustav Schmidt, von seinen Kollegen Schmidtchen Schleicher genannt, hatte den Job, den Trauerzug ans Grab zu führen. Gustav maß fast zwei Meter, wovon seine Beine die Hälfte auszumachen schienen. Trotzdem schlich er in einem Tempo über den Friedhof, das selbst Schnecken hätte verwirren können. Wegen der alten Leute, wie er sagte. Dass die anderen beim Laufen einzuschlafen drohten, die Träger bei steileren Wegen Mühe hatten den Sargwagen zu halten und seine Kollegen mit ihrer Arbeit in Verzug gerieten, störte ihn nicht die Bohne. Trotz Beschwerden schlich Schmidtchen unbeirrt fort. Bedächtig, lahmarschig. Wie ein altersschwacher Bischof. Vielleicht genoss er es, wenn Menschen ihm folgten.
"Zünd dir ruhig noch eine an. Wangel predigt."
Der Ältere verdrehte die Augen. "Verlauster Messdiener." Er griff in seine Latztasche. "Das auf 'nem Freitag."
Sein jüngerer Kollege wechselte von einem Bein aufs andere. Unter ihm knirschten seine Tritte das Profil in den Schnee. "Kam die aus Merlen?"
Klemens, der im Ort wohnte, nickte und stieß den Qualm durch die Nase. Das Feuerzeug verschwand in der Hosentasche.
Ein leises Klingeln ertönte. Die Träger warfen ihre Kippen weg und eilten in die Halle. Kurz darauf erschienen die Greise von der anderen Seite, zwischen sich den Wagen mit dem Sarg. Dahinter Pfarrer Wangel, gefolgt von einem langen Schweif Angehörige und Trauergäste. Gustav ging an der Spitze Fuß um Fuß den gestreuten Weg hinunter.
"Das kann man ja nicht mit ansehen", knurrte Klemens und trat energisch vor. Felix fuhr zusammen, als sein Kollege einen schrillen Pfiff ausstieß. Tränentrübe Gesichter wandten sich zu ihnen um. Auch Gustav. Klemens klatschte Außen- und Innenfläche seiner Hände aneinander. Der Vorgeher verstand die Geste, doch seine einzige Reaktion war ein missbilligendes Kopfschütteln. Empörte Blicke unter den Angehörigen. Ein Herr mittleren Alters, der gleich hinter dem Pfarrer ging, schien sogar die Zähne zu fletschen, als er sah, wer da die allgemeine Trauer gestört hatte.
Klemens wandte sich um. "Pissnelke", stieß er aus und spuckte ein gelbes Loch in den Schnee. "Na, komm. Lass uns."
Der Jüngere trottete zur Halle, um weitere Kränze heraus zu holen und sie an den Wagen zu hängen. ‚Das gibt Ärger', dachte er bei sich. Klemens fuhr den Bagger vor und Felix koppelte den Karren an. Sie mussten einen weiteren Wagen holen, da der eine für die Blumenmenge nicht ausreichte. Dann rollten sie los.

Ein alter Mann saß auf einer Bank gegenüber eines Grabes auf Feld 25, auf dessen Stein ‚Klaushoff' stand. Darunter war ‚Wilma' und zwei Daten eingemeißelt, rechts daneben eine Fläche ausgespart. Die Lippen des alten Herrn bewegten sich stumm. Hin und wieder lächelte er.
Dröhnen näherte sich. In einem Seitenweg kam der Bagger zum Stehen. Klemens hatte einen Umweg genommen und war der Friedhofsordnung entsprechend langsam gefahren. Trotzdem war dieses Gräberfeld, abgesehen von dem alten Herrn, noch völlig vereinsamt.
Felix stand auf dem Trittbrett hinter der Fahrerkabine. Er hatte seinen Kollegen nicht zur Rede gestellt, was er sich bei seinem Benehmen gedacht hatte, denn im Grunde hatte Klemens ja recht: In einer halben Stunde begann die nächste Trauerfeier. Aber - Himmel! Ein Friedhof ist kein Fußballplatz und ein Trauerzug keine Mannschaft, die man zu mehr Leistung anfeuert. So kannte Felix ihn gar nicht.
Klemens blieb in seiner Fahrerkabine sitzen und schüttelte den Kopf. Felix klopfte hinter ihm an die Scheibe und deutete zur Allee des Hauptwegs hinüber. Dort kam die Kolonne, träge wie eine große, schwarze Raupe. Und noch bestimmt zweihundert Meter vom Grab entfernt.
Der ältere Totengräber kletterte aus seinem Bagger. "Der macht mich krank, der Freier!" wetterte er. Felix stieg von der schmalen Plattform herunter. Er musste grinsen, obwohl auch er sich ärgerte. Angehörige haben es nicht gerne, wenn noch während der Beerdigung der Bagger vor ihrer Nase parkt. Vielleicht halten sie die Stahlsschaufel für eine Art Scharfrichterbeil. In ihren Augen ist jeder ein dunkler Geselle, der wie auch immer dem Tod zur Seite steht. Als ob die Verstorbenen noch spüren könnten, wenn die Erde sie belastet. Jetzt mussten sie wie Wegelagerer im Verborgenen warten, bis alles vorbei war.
Der Gärtner, der die Grabbepflanzungen pflegte, hatte Felix von einem Mütterchen erzählt, das sich strikt geweigert hatte, die Hecke aus Berberissträuchern an der Gruft ihres Mannes zu dulden. "Die pieken meinem Mann ja in die Seite." - Was sollte man da entgegnen? Und er selbst hatte mal einer Witwe eine Grabstelle für den verstorbenen Gatten verkaufen müssen. "Bitte nicht direkt in der Sonne. Mein Mann verträgt keine Hitze." - Er musste sich fest in die Backe beißen, denn es handelte sich um eine Urnen-Bestattung. Nur mit Mühe konnte er sich zurückhalten: "Gnädige Frau, bei allem Respekt, aber ihrem Mann wird es morgen so heiß werden, dass er das bisschen Sonne hier locker wegsteckt."
Der Trauerzug bog ein in den Weg mit der Grube, die Klemens und Felix tags zuvor ausgehoben hatten. In der Reihe von Grabsteinen sah das Loch aus, als habe jemand einen Zahn gezogen und die Wunde mit Kunstrasen garniert. Der Mann, der vorhin so wütend reagiert hatte, stützte eine alte Frau. Ihre verkrampfte Hand knüllte ein Taschentuch. ‚Die Mutter der Toten', nahm Felix erfahrungsgemäß an. Jener Mann sah nun auf und entdeckte den Bagger und die Totengräber hinter den Büschen. Sofort veränderte sich seine Miene. Felix versuchte sie zu deuten: Trauer. Ja, auch, aber nicht nur. Abscheu? Zorn? - Herrje, was dachte sich der Kerl? Jemand musste seine Frau oder Schwester doch verbuddeln. Sie taten bloß ihren Job.
Mit gesengtem Haupt wandelte Gustav weiter über Feld 25. Seine todernste Miene ließ glauben, seine ganze eigene Familie sei dahingerafft worden und er geleite sie nun zu Grabe.
"Wenn er jetzt losheult, ist er perfekt", sagte Felix grimmig.
Klemens nickte. An seinem Kiefer traten Muskeln vor. Die Fäuste hielt er in die Hüften gestemmt. Seine Beine zuckten. Er sah aus, als wolle er jeden Moment zu Gustav hinüber rennen, um ihm die Fresse zu polieren. Plötzlich dröhnte seine Stimme über die Gräber hinweg. "LASS GEHEN, DU TRANTÜTE!!"
Gustav, Felix, der Alte auf der Bank, Pfarrer Wangel, die Sargträger, die Gesellschaft, jeder zuckte zusammen. Nur nicht der Mann, der sie die ganze Zeit mit diesem seltsamen Blick im Visier hatte. Als habe er mit Klemens erneuter Störung gerechnet wie mit einem Einspruch während einer Hochzeit: "Wer gegen diese Bindung ist, der möge nun sprechen oder für immer schweigen."
Der Mann löste sich von der entsetzten, alte Frau an seinem Arm, und schritt energisch los, wutentbrannt wie ein Stier, stracks auf die beiden Totengräber zu.
"Komm, Arschkrampe, wag es nur", hörte Felix das Knurren seines Kollegen, während er verwirrt dem schnaubenden Gesicht des sich Nähernden entgegen starrte. Da wurde dieser von einer jüngeren Frau gebremst - ‚Schwester oder Schwägerin', kombinierte Felix schnell - die sich direkt hinter der Mutter aus dem Trauerzug gelöst hatte und dem Verwandten nachgeeilt war. Sie hakte sich unter seinen Arm, bremste ihn, riss ihn herum und redete leise auf ihn ein. Eine ganze Weile lang.
Felix verstand kein Wort aus dem verhaltenen Zischen der Frau, sah nur das wutunterdrückte Mienenspiel und Zittern des Mannes, hörte nur Klemens' angespanntes Atmen neben sich. Er traute sich nicht, seinen Kollegen jetzt anzusehen. Irgend etwas ging hier vor sich. Es hatte weniger mit Schmidtchen Schleicher zu tun, als er gedacht hatte, und er war sich nicht sicher, ob er es genau wissen wollte. Am liebsten hätte Felix sich verkrochen, sich zu dem Opa auf die Bank gesetzt und mit ihm über das Wetter geplauscht.
Die Trauergemeinde gaffte völlig verwirrt zu dem Paar. Es dauerte eine ganze Weile, bis die Frau den Mann endlich wieder zurück führte. Irgendwie hatte sie ihn bändigen können, vielleicht nur notdürftig. Die alte Mutter nickte ihrer Tochter dankbar zu und Pfarrer Wangel gab Gustav einen Wink, den dieser erst nach einer Wiederholung verstand.

Die Träger erledigten ihre Arbeit und entfernten sich mit dem leeren Sargwagen. Gustav ging mit ihnen. Im Vorübergehen warf er Klemens einen giftigen Blick zu. "Leck mich!" murmelte dieser nur und beließ es dabei.
Der Pfarrer ließ sich noch ein bisschen beim Reden zuhören. Endlich schaufelten oder warfen die Trauergäste ihre Abschiedsgrüße auf den Sarg und verzogen sich langsam Richtung Ausgang. Die junge Frau und die Mutter nahmen mit dem Mann in ihrer Mitte einen Weg, mit dem sie Klemens weit umgingen.
Der Baggerfahrer lenkte in den Weg mit dem nun verlassenen Loch. Felix ging vor, um den Zierrat und die Laufrahmen aus Aluminium wegzuräumen.
"Kanntest du sie gut?"
Klemens zog die Nase hoch, hob die Schultern, ließ die Hände dabei in den Taschen. Die Zigarette wippte in seinem Mundwinkel. "Wenn die Christa den Gustav so vor sich herschleichen gesehen hätte ... in den Hintern hätte sie dem getreten, das kann ich dir sagen." Er rieb sich die Augenwinkel. "Scheiß Rauch", knurrte er und drückte seinem jüngeren Kollegen den Eisenpinn in die Hand, mit dem man die Verschalungen löste, die die Wände des Grabes stabil hielten. "Machst du das heute mal? Bitte."
Wortlos nahm Felix den Pinn und ließ sich im Loch auf den Sarg hinunter. Er merkte, dass er sich behutsamer als sonst auf dem Holz bewegte, eine Handbreit über dem Körper einer ihm fremden Toten.
Als Felix wieder heraus war, ließ Klemens Erde in das Grab fallen. Nach und nach verschwand der Sarg. Wie unter einer Decke. Mit der Baggerschaufel drückte er die Erde in die Zwischenräume. Die Lippen des älteren Totengräbers bewegten sich stumm. Hin und wieder lächelte er.

April 2003
 

Andrea

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Hi Markus!

Eine gute Geschichte mit sehr starken Bildern; der Trauerzug ist vor meinen Augen vorübergezogen. Allerdings weichst du manchmal sehr weit von der Kernhandlung ab – vielleicht könntest du einige Details, einige Nebenerzählungen (den alten Mann vor dem Grab von Wilma Klaushoff, die Dönekes) kürzen oder streichen, damit man sich mehr auf Klemens konzentriert.

Man liest sich,

Gruß
Andrea
 

Markus Veith

Mitglied
Hallo, Andrea! Schön, dich mal wieder zu lesen.

Du hast recht, obwohl ich mich fast wundere, dass du mich nicht mehr auseinander genommen hast, als ich es vielleicht getan hätte. ;-)
Ich wollte mit "Bloß ein Job" versuchen, eine Geschichte zu schreiben, die wenig über ihre wirkliche Handlung verrät, gerade so viel im Unklaren läßt, dass sich ein Leser aufgefordert fühlt, den fehlenden Hintergrund selbst auszumalen. Ich bin immer noch arg im Unklaren, ob es mir gelungen ist, ob ich nicht zu viel weggelassen und zu viel an überflüssigen Stellen gelassen habe. Bei dem alten Herrn habe ich mir viel gedacht. Doch bevor ich diese Gedanken äußere, möchte ich gerne einige andere Meinungen lesen.
Mit literarischen Grüßen
Markus Veith
PS.: Hast du Lust zur Lesung am 11. Mai zu kommen? Da will ich die Geschichte auch mal ausprobieren.
 

GabiSils

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Hallo Markus,

ich bin nicht dahinter gekommen, was du dir bei dem alten Mann gedacht hast. Erklärst du es mir?

Irgendwo geht Clemens mit "gesengtem" Haupt herum, das war vermutlich nicht deine Absicht.

Sonst: wunderbare Geschichte!

Gruß,
Gabi
 

Markus Veith

Mitglied
Kein Problem, Gabi.

Was das gesengt betrifft - klar, er hat sich nicht seinen Kopf verbrannt. Da hat sich ein Tippfehler eingeschlichen.
Ich bin inzwischen wirklich unschlüssig, ob ich das mit dem alten Mann nicht wirklich ändern sollte, obwohl ich es zunächst für einen recht rührenden Gedanken halte. Ich wollte eine Art Parallelität zwischen ihm und dem Totengräber dadurch erreichen, dass ich die Sätze. "Die Lippen des alten Herrn bewegten sich stumm. Hin und wieder lächelte er." so ähnlich klingen ließ wie die letzten Sätze des Textes, dann aber aus der Sicht von Klemens. Mir gefiel der Gedanke, dass Klemens in einigen Jahren dort genauso wie dieser alte Mann dort an dem Grab sitzen könnte, in stiller Zwiesprache mit seiner einstigen Geliebten.
Markus
 

GabiSils

Mitglied
Oh ja, tatsächlich ein schöner Gedanke. Aber vielleicht ein wenig zu weit auseinander in dem langen Text.
Oder ich habe nicht konzentriert genug gelesen.

Gruß,
Gabi
 



 
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