Nur ein Satz

sailor

Mitglied
Das Plädoyer

Nein, Herr Richter, ich habe keinen Anwalt, da ich sicher bin, ich kann meine Angelegenheiten ganz gut selber regeln und möchte ihnen nur ganz kurz, in ein, zwei Sätzen, darlegen, wie die Situation sich aus meiner Sicht, der Sicht eines deutschen Beamten mit 28 Jahren Dienstzeit in einer Behörde, aus der Sicht eines Mannes, der sich mit 56 Jahren noch nicht alt fühlt, darstellt, denn mit 56 fangen einige Männer erst richtig an zu leben, suchen sich eine knackige, junge Freundin, einige beginnen jetzt eine Karriere, manche werden noch mal Vater und auch mein Leben nahm kurz nach meinem 56. Geburtstag, an einem herrlichen Spätsommertag, ich war den ganzen Tag im Garten beschäftigt gewesen und hatte deshalb meine allerältesten Klamotten an, eine entscheidende Wende, denn nachdem unsere jüngste Tochter Andrea es mit knapp 28 Jahren endlich geschafft hatte, einen Trottel zu finden, der so dumm war, sie zu heiraten und aus unserem Haus, welches nach meinem Dafürhalten jetzt wieder ein gemütliches Heim werden sollte, in dem ich mich in Ruhe und Beschaulichkeit auf meinen in Kürze bevorstehenden Ruhestand vorbereiten wollte, ausgezogen war, begann meine Frau Lore, der lebendige Protest gegen jedweden Versuch der Einhaltung der Brigitte-Diät, die Klägerin, zu spinnen, ihr würde die Decke auf den Kopf fallen, sie hätte es satt, täglich meine miese Visage anzuschauen, meine stinkenden Socken zu waschen und ähnliche Freundlichkeiten, wobei ihre Stimme, mit der sie mühelos Glas und Porzellan auf eine Entfernung von mehreren Metern atomisieren konnte, der Wissenschaft wahrscheinlich völlig unbekannte und ungeahnte Frequenzen erreichte, die in mir erstens einen Tinnitus und zweitens die Angst auslösten, wir würden es mit allen Hunden der Nachbarschaft, und das sind eine ganze Menge, denn in unserer Siedlung hält man sich nicht nur für etwas Besseres, sondern auch einen Hund, zu tun bekommen, was aber zum Glück nicht eintraf und so riet ich ihr, ihre überschüssigen Energiereserven doch produktiv und zum Wohle der Menschheit einzusetzen, wobei ich selbstverständlich in allererster Linie mein eigenes Wohl im Sinn hatte, und sich eine Stellung zu suchen, ich könne sie mir recht lebhaft als Marktschreierin auf dem allmorgentlich um fünf Uhr stattfindenden Fischmarkt vorstellen, so a la „Bananen-Dieter“ oder „Blumen-Paul“, doch damit löste ich nur eine weitere Kakophonie und Raserei aus, denn sie schlug mir erstens vor, zum Teufel zu gehen, und als ich ihr daraufhin ganz unschuldig grinsend offenbarte, ich könne mir vorstellen, dass es bei ihrem Enkel wenigstens ein bisschen ruhiger zugehen würde, zweitens eine halbvolle, wohlgemerkt, eine halbvolle Bierflasche über den Kopf, schleifte mich, jetzt blutüberströmt und nach Bier stinkend wie ein Penner am Tag der Sozialhilfeauszahlung, vor die Tür und rief, als ich mich nach einer Stunde immer noch nicht aufgerappelt hatte, mit unschuldig säuselnder Stimme einen Notarzt an und erzählte, sie hätte einen dieser widerlichen Obdachlosen, die man ja in letzter Zeit nicht nur in der Großstadt, sondern auch schon so oft in unserer sonst so beschaulichen Vorstadtsiedlung anträfe, völlig betrunken und schwerverletzt in ihrem Vorgarten gefunden und zehn Minuten später befand ich mich, angeschnallt auf einer Trage, in einem Rettungswagen des Malteser-Hilfsdienstes, und ein überaus netter junger Arzt, Typ Komm-ich-heut-nicht,-komm-ich-morgen, kümmerte sich, nachdem er mich geringschätzig von oben bis unten angeschaut und sich in aller Ruhe die Aids-Handschuhe übergestreift hatte, um meine Verletzungen und schrie mich dabei fortwährend an, ich solle mir ja nicht einfallen lassen, ihm seinen schönen, neuen Wagen vollzukotzen, was aber durch den oben bereits erwähnten Tinnitus irgendwie nicht richtig bei mir angekommen sein muss, denn ich erbrach mich während der Fahrt ins Krankenhaus doch noch, allerdings nicht in den schönen, neuen Wagen sondern in die Kitteltasche des netten, jungen Mannes, der mich daraufhin für den Rest der Fahrt nicht nur nicht mehr be-, sondern anscheinend auch verachtete und auf dem Doktorstuhl des Rettungswagens saß und über den Missbrauch der sozialen Einrichtungen unseres Vaterlandes dozierte bis wir schließlich die Klinik erreichten, aber mir noch einige Verwünschungen hinterherschickte, als ich in den OP verfrachtet wurde, die sich von denen meiner Ehefrau Lore in keinster Weise unterschieden, worauf mir spontan der Gedanke kam, bei dem jungen Mann könne es sich um den von Lore angesprochenen Herrn Teufel handeln, doch das spielte ja jetzt keine Rolle mehr, da ich in die Obhut einer Krankenschwester entlassen worden war, die mich entfernt an ein Wesen erinnerte, vor dem ich mich vor noch gar nicht allzu langer Zeit in einem dieser grässlichen Mitternachts-Gruselschocker im Fersehen gefürchtet habe, nur dass diese eine Brille auf dem Rüssel,-Entschuldigung, auf der ..Nase, trug, durch deren Gläser sie mich mit klodeckelgroßen Augen anstarrte, Gläser, die sicher nicht von einem Optiker stammten sondern von OBI, Abteilung Glasbausteine, und die anscheinend so schwer waren, dass die Frau sich nur noch vornübergebeugt fortbewegen konnte, weswegen sie auch sofort den mich umgebenden Biernebel wahrnahm und mir mit den Worten, hier käme wohl in letzter Zeit nur noch so ein asoziales, stinkendes Geschmeiss an, dass sich im besoffenen Kopp denselbigen aufgeschlagen habe und sie käme sich langsam vor wie die Putzfrau in der Bahnhofsmission, ein Spritze von der Größe eines Bocksbeutels verabreichte, die mich ad hoc ins Reich der Träume versinken ließ, aus dem ich, nach ich weiß nicht wie langer Zeit, durch einen stechenden Schmerz im Schenkel zurück in die brutale Realität gerissen wurde, einer Realität, die im Wesentlichen daraus bestand, dass ich erst einmal blind war und außer dem Wort „Thrombosespritze“ und einem darauffolgenden, heftigen Türknallen, nichts hören konnte, was in mir aber, wie Sie jetzt vielleicht erwartet haben könnten, keine Panik auslöste, denn nachdem ich festgestellt hatte, dass das Blindsein von einem festen Verband rund um meinen Schädel stammte und ich mich durch herumtasten davon überzeugt hatte, dass ich mich auf einer Pritsche in einer Art Besenkammer befand, wodurch ich mir auch die hier herrschende Ruhe erklären konnte, ließ ich mich ganz entspannt zurückfallen und genoss das Gefühl des Nichts-sehen-und-hören-könnens oder -wollens, ein Gefühl, dass ich bisher nur an meinem gemütlichen Schreibtisch in meinem Büro im Untergeschoss des Einwohnermeldeamtes, in dem ich für Namensänderungen, Buchstabe W-Z, zuständig bin, genießen konnte, doch dann fiel mir siedendheiß ein, dass sich ja, wenn ich jetzt für eine längere Zeit ausfallen sollte, niemand um mein Aquarium, dass ich mit der Gewissenhaftigkeit eines deutschen Beamten pflege und das mir durch das lustige herumflitschen der Schleierschwänze und das behäbige Auf-dem-Grund-liegen des Welses einen gewissen Ausgleich zum Stress des Tagesgeschäftes bietet, kümmern würde, denn meine Sekretärin, Frau Schulze-Löckebömm, hatte mir bereits mehrfach ihre Abneigung gegenüber diesen „glitschigen Dingern“ bekundet und Petersen, der Bürobote, war so dumm wie ein Toastbrot, der würde wahrscheinlich an dem Aquarium den Knopf zum umschalten suchen, also nahm ich mir vor, schon allein aus Verantwortungsgefühl den mir anvertrauten Lebewesen gegenüber, sehr schnell wieder gesund zu werden und als der Schädelbasisbruch dann nach einiger Zeit keine Beschwerden mehr bei mir verursachte habe ich das Krankenhaus auf eigene Verantwortung verlassen und genau so fand ich dann auch unser Haus vor, -verlassen nämlich, aber mit überquellendem Briefkasten, aus dem ich zwischen Prospekten, Rechnungen, Mahnungen, „letzten Mahnungen“ und anderen postalischen Ergüssen auch einen Brief eines Anwalts fand, in dem er mir mitzuteilen sich herabließ, seine Mandantin, Frau Hannelore St*** habe die Scheidung der Ehe beantragt und, zwecks Einhaltung der Trennungsfrist von einem Jahr, die gemeinsame Ehewohnung ab dem 20.04.1998 verlassen, und sie habe außerdem zur Wahrung ihres Lebensstandards ihre eigenen, von ihr selbst in die Ehe eingebrachten Möbel, den Sperrmüll also, der seit Jahren auf dem Dachboden vor sich hin moderte, sowie die Hälfte der gemeinsam während der Ehe angeschafften Möbel und Gebrauchsgegenstände einbehalten, wobei mir auffiel, dass wir sehr, sehr bescheiden gelebt haben müssen, denn die Räume waren so gut wie leer, doch zurück zum Brief des Anwalts, in dem er schrieb, seine Mandantin habe die Hälfte des gemeinsamen Sparguthabens vom Konto 08/15 4711 bei der SPAKA für sich selbst abgehoben und die verbleibende zweite Hälfte zur Sicherung kommender Ansprüche kennwortgeschützt neu angelegt, sähe sich aber nicht in der Lage, mir das Kennwort preiszugeben, sei jedoch jederzeit bereit, mich über den Kontostand, der sich zur Zeit auf DM 316,28 belaufe, zu informieren, was eine Nachricht war, die mich ein wenig besorgt werden ließ, denn ich schien bei dem Schädelbruch doch einiges zurückbehalten zu haben, anders konnte ich es mir nicht erklären, dass die Hälfte von circa 17.000 plötzlich nur noch 316,28 ist, aber ich beruhigte mich schnell wieder, denn der Brief war ja von einem Anwalt, und da wird ja wohl alles seine Richtigkeit haben, und ich las gleich weiter und war erstaunt, ..dass seine Mandantin von mir den ihr nach der „Düsseldorfer Tabelle“ zustehenden Ehegatten-Unterhalt zum Leben in Höhe von 3/7 meiner monatlichen Einkünfte fordere und, da ich auf eine entsprechende erste Aufforderung nicht reagiert hätte, bereits einen, ebenfalls kennwortgeschützten, Dauerauftrag bei der SPAKA erteilt habe wobei ich mit den verbleibenden DM 800.- ja sehr gut zurechtkommen müsste, da ich ja, im Gegensatz zu seiner Mandantin, keine Miete zu zahlen hätte, was in mir den Verdacht aufkeimen ließ, ich hätte eventuell eine Mathematik-Reform verpasst, denn dass 4/7 von 4900 Mark 800 Mark sind, war mir vollkommen neu, doch als deutscher Beamter nimmt man erst einmal alles als gegeben hin, was irgendwo niedergeschrieben steht und rechnet später nach, wenn der Vorgang den Unterschriftenweg hinter sich hat, und so akzeptierte ich auch diese neue Rechenart unter Vorbehalt und war nur froh, dass sie nicht vergessen hatten, dass das Haus, welches ich von meinen Eltern geerbt habe, mir ganz allein gehört, aber die Freude erhielt gleich im nächsten Satz einen Dämpfer, als er mir mittteilte, dass seine Mandantin, sollte sie erfahren, dass ich beabsichtige, das Haus zu veräußern, gezwungen sei, die Erbansprüche der gemeinsamen Kinder Bernd und Andrea in Höhe von 50 v.H. des Erlöses geltend zu machen, außerdem für sich selber die Hälfte der während der Ehedauer erzielten Wertsteigerung von Grundstück und Gebäude, was nach meiner Rechnung für mich einen Erlös von Null ausmachen würde, denn nachdem ich alle Forderungen erfüllt hätte, würde sich den Rest mit Sicherheit das Finanzamt holen, wobei ich die Kollegen von der Lohn- und Einkommenssteuer, Buchstabe S bis SCH, die für mich zuständig sind, nicht schlecht machen will, im Gegenteil, beim jährlichen Weihnachtskegeln der Stadtverwaltung haben wir immer eine Menge Spaß miteinander, doch ich will nicht abschweifen, der Brief war ja noch nicht zu Ende, er wurde sogar ein bisschen persönlicher, denn der Anwalt teilte mir im Auftrag seiner Mandantin mit, dass sie die entstandene Situation bedaure, einen Versöhngsversuch, falls er von mir eingefordert werden sollte, aber nicht akzeptieren würde, wobei mir das Wort „Versöhnungsversuch“ im Zusammenhang mit Lore einige Kopfschmerzen bereitete, im wahrsten Sinne des Wortes sozusagen, denn ich konnte mich nur froh und glücklich schätzen, dass wenigstens meine Haare schon wieder ein bisschen nachgewachsen waren, deshalb überflog ich diesen Abschnitt des Briefes auch zügig und kam dann zum Ende, in dem es wieder einmal ums liebe Geld ging, denn der Anwalt schrieb, dass er sich, da sich seine Mandantin derzeit in einer durch mich verschuldeten finanziellen Notlage befände und nicht in der Lage sei, sein, des Anwalts, Honorar in Höhe von DM 14.326,75 zu begleichen, an mich als den zur Zeit noch rechtmäßigen Ehegatten seiner Mandantin wende und um Begleichung der Rechnung innerhalb 14 Tagen auf eines der unten angegebenen Konten bitte, woraufhin ich sofort zu Stift und Papier griff und ihn in schriftlicher Form, aber immer höflich und niemals beleidigend, wie er es dem Hohen Gericht heute weismachen wollte, darauf hingewiesen habe, ich würde ihm wegen erwiesener Dummheit, denn anders kann man es ja wohl nicht nennen, eine Frau wie Lore zur Mandantin zu nehmen, sein Honorar auf, sagen wir mal, DM 316,28 kürzen, die er sich dann von meinem Restguthaben auf dem Sparkonto 08/15 4711 bei der SPAKA, für das ich ihm mit diesem Schreiben die Vollmacht erteile, abholen könne, vorausgesetzt, er erführe das Kennwort, doch worauf ich eigentlich bei meinen ersten kurzen Ausführungen heraus wollte, Herr Richter, ist, den Antrag von Lore, Verzeihung - der Klägerin, die Ehe vor Ablauf des Trennungsjahres wegen erwiesener seelischer Grausamkeit, begründet auf der absurden Anschuldigung, ich würde niemals auf den Punkt kommen, zu scheiden, als völlig überzogen abzulehnen, und was mein Aquarium angeht...Herr Richter, Herr Richter schlafen sie?
 

La Luna

Mitglied
Hallo Sailor,

eine tolle Story - ehrlich, ich lachte mich kringelig.

Allerdings finde ich einen Schädelbasisbruch der durch eine Bierflasche hervorgerufen wird, etwas weit hergeholt.

Ich vermute stark, dass da schon ein Vorschaden bestand.
Könnte mir lebhaft vorstellen, dass der Gute des öfteren, aus lauter Langeweile, mit seinem Bürostuhl kippelte - schließlich kann der Besucherandrang bei den Buchstaben W-Z nicht allzu groß gewesen sein - wobei er hin und wieder das Gleichgewicht verlor und mit dem Kopf gegen das Aquarium "ditschte".
Ja, so wird es gewesen sein. ;)


Liebe Grüße
Julia
 

sailor

Mitglied
Hallo Julia,

freut mich, wenn's dir gefallen hat.

Doch, doch, dass mit dem Schädelbasisbruch hat schon seine Richtigkeit. Denn wo Lore, die wie gesagt der lebendige Protest gegen jedweden Versuch der Einhaltung der Brigitte-Diät aussah, hinschlug, wuchs im wahrsten Sinne des Wortes kein Gras (Haar) mehr. Die hätte es sogar ohne Bierbuddel geschafft, unserem armen Beamten auszuknocken. :)

Gruß und ahoi

sailor
 

urte

Mitglied
Begeistert

Hallo, sailor,
auch ich bin begeistert von Deiner Geschichte mit dem langen Atem - ganz großartig beobachtet und erzählt!
Herzlichen Glückwunsch! Raffiniert an vielen Punkten, wie immer wieder die naiven Erwartungen des Lesers "enttäuscht" werden und sich heiter neue Perspektiven auftun ... Sehr sehr gut gemacht!
Viele Grüße, Urte
 

Nachtalb

Mitglied
Jo!

Jo, schöner Text!
Einige Interessante Wendungen, wobei das eigentliche Ende und die darin enthaltene Pointe schon etwas früh ersichtlich sind. Auch sind einige Kommas zu konstruiert. Man hätte einfach einen Punkt setzen müssen.
Aber was solls, ich will hier ja niocht rummeckern.
Glückwunsch.
Ich finds lustig
 
B

Bruno Bansen

Gast
Nur ein Satz...

allein der Titel ist 'ne Frechheit und wenn man "den Satz" nach ner geraumen Weile intus hat und am Ende angelangt ist, ist man nicht nur etliches älter geworden, nein man ähnelt auch, wenn man solches öfters zu Lesen bekommt, sehr schnell der bekannten Madame Plissee, der faltenreichen... von wegen der Lachfalten. Hi, Sailor! ziemlich grandios, herrlich witzig, kurzweilig uessweh, uessweh! Ansonsten steht alles schon da, was ich Dir zu sagen hätte.

Gruß! Bruno
 

sailor

Mitglied
Danke

Hallo zusammen,

dank euch allen für eure Zustimmung. :)

@ Nachtalb: ich gelobe Besserung bzgl. der Interpunktion. War aber sowieso nur ein Test, ob ich es schaffe, so lange Schachtelsätze zu konstruieren.

Gruß und ahoi

sailor
 

Nachtalb

Mitglied
Das mit der Interpunktion ist schon in Ordnung. Schließlich ist das ja der Hauptaufhänger in dem Text. Manchmal sagt der Kopf einfach "Punkt!" und es folgt doch nur wieder ein Komma. Bei der Geschichte muss es wohl so sein und bei "normalen" Texten wirst Du Dir wohl kaum die Mühe machen, solche Sätze zu formulieren. (Das macht man höchstens in Deutsch-LK-Arbeiten im Einleitungssatz...)
Aber lass mich Dir eine Frage stellen:
Woher kam die Inspiration? Ich würde jetzt mal auf ein Werk von Kleist tippen, aber es gibt ja einige, die so schrieben...
Also?
greetings
Jörg|i|
 

sailor

Mitglied
Hi Nachtalb,

sorry für die späte Antwort, ich hatte ein paar Tage gar nicht mehr an meinen Beitrag in dieser Rubrik gedacht.
Ja klar, sonst schreibe ich natürlich nicht so undiszipliniert und weiß schon, wann ich einen Punkt zu setzen habe. In dieser Geschichte hätte ein Punkt aber nicht gepasst, nicht wahr?
Inspiriert hat mich eigentlich ein Arbeitskollege, bei dem man sich, wenn er erst mal mit einem fertig ist, von der Vollzähligkeit seiner Ohren überzeugen muss. Der redet und redet und redet....manchmal glaube ich, der holt überhaupt keine Luft dabei. :)
Die Geschichte selber aber habe ich dann einfach begonnen und mich dabei auch an Kleist gehalten der einmal gesagt hat:
Zitat:
Ich glaube, daß mancher große Redner, in dem Augenblick, da er den Mund aufmachte, noch nicht wußte, was er sagen würde. Aber die Überzeugung, daß er die ihm nötige Gedankenfülle schon aus den Umständen, und aus der daraus resultierenden Erregung seines Gemüts schöpfen würde, machte ihn dreist genug, den Anfang, auf gutes Glück hin, zu setzen. Zitat Ende

Ein anderes schönes Beispiel, auch von Kleist:
Zitat
Aber weil ich doch irgendeine dunkle Vorstellung habe, die mit dem, was ich suche, von fern her in einiger Verbindung steht, so prägt, wenn ich nur dreist damit den Anfang mache, das Gemüt, während die Rede fortschreitet, in der Notwendigkeit, dem Anfang nun auch ein Ende zu finden, jene verworrene Vorstellung zur völligen Deutlichkeit aus, dergestalt, daß die Erkenntnis zu meinem Erstaunen mit der Periode fertig ist. Ich mische unartikulierte Töne ein, ziehe die Verbindungswörter in die Länge, gebrauche wohl eine Apposition, wo sie nicht nötig wäre, und bediene mich anderer, die Rede ausdehnender, Kunstgriffe, zur Fabrikation meiner Idee auf der Werkstätte der Vernunft, die gehörige Zeit zu gewinnen. Zitat Ende

Ein wahrer Meister der Schachtelsätze :)

Gruß und ahoi
sailor
 
K

Kadra

Gast
Hallo!

Der längsten Satz, den ich jemals gelesen habe, stammt von Marcel Proust (von wem sonst ;) ) "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" (Band fünf) und man braucht wirklich Zeit...

Diejenigen der alten Verdurischen Möbel, die hier, manchmal sogar unter einer Beibehaltung einer bestimmten Anordnung erneut Platz gefunden hatten und denen ich selbst in La Raspeliére wiederbegegnet war, fügten in den gegenwärtigen Salon Teile des alten ein, die augenblicklicherweise mit nahazu halluzinatorischer Deutlichkeit jenen früheren noch einmal heraufbeschworen, gleich darauf aber fast unwirklich schienen, weil sie inmitten der umgebenden Wirklichkeit Bruchstücke einer untergegangenen Welt, die man an einem anderen Ort wähnte, wiederentstehen ließen: ein aus Träumen entstiegenes Kanapee zwischen neuen, sehr wirklichen Sesseln, kleine, mit rosa Seide bezogene Stühle, eine durchwirkte Tischdecke auf dem Spieltisch, die zur Würde einer Person erhoben schien, denn wie eine Person besaß sie eine Vergangenheit, ein Gedächtnis, behielt sie doch im kalten Dunkel des Salons am Quai Conti jene Bräunung bei, welche die durch die Fenster der Rue Montaliviet einfallende Sonnenstrahlung (deren genaue Stunde die Decke ebenso gut kante wie Madame Verdurin selbst) bewirkt hatte, sowie die, die durch die Glasfenster bei Doville sich ergoß - wohin man jenes Requisit mitgenommen hatte und wo es den ganzen Tag über den Blumengarten hinweg das tiefe Tal überschaut hatte in Erwartung der Stunden, da Costard und der Gegner ihre Kartenspiele absolvieren würden - oder auch ein Strauß aus Veilchen und Stiefmütterchen in Pastell, Geschenke eines befreundeten großen Künstlers, der sicher verstorben war, einziges hinterbliebenes Fragment eines Lebens, das sonst keine Spuren hinterlassen hatte; jetzt sprach nur dieses Bild noch - in ganz summarischen Zügen - von einem großen Talent und von einer langen Freundschaft, als einziges Überbleibsel erinnerte es noch an Elstirs sanften Blick, an die schöne, füllige und traurige Hand, mit der er immer gemalt hatte; ein gefälliges Durcheinander, eine Wirrnis aus Geschenken der Getreuen, die der Hausherrin überallhin gefolgt waren und schließlich die feste Prägung eines Charakterzuges, einer Sicksalslinie angenommen hatten, eine Fülle von Blumensträußen und Pralinenschachteln, die hier wie dort in einer ganz gleichen Art von üppigem Wchstum wuchernd sich entfalten; eine merkwürdige Einsprengung aus sonderbaren und überflüssigen Objekten, jenen Dingen, die noch aussehen, als kommen sie eben erst aus der Verpackung hervor, in der sie als Geschenk überreicht worden sind, und die das ganze Leben hindurch bleiben, was sie zunächst gewesen sind, nämlich Geschenke zum 1. Januar; alle jene Gegenstände endlich, die man von den anderen hätte trennen können, die aber für Brichot, den alten Besucher der Verdurinschen Feste, eine Patina und Weichheit bekommen hatte, wie sie Dingen eigen sind, denen ein geistiges Abbild ihrer selbst in unseren Innern eine Art von Tiefe hinzuzufügen scheint - all dies ließ perlend in ihm jeweils Töne erwachen, welche in seinem Herzen geliebte Anklänge weckten: verworrene Erinnerung, die gerade hier in diesem ganz und gar die Gegenwart verkörperndem Salon, indem sie vereinzelte Lichtreflexe schufen - so wie an einem schönen Tag die Sonne im Viereck geradezu die Atmosphäre eines Raumes hineingezeichnet - die Möbel und Teppiche gleichsam ausschnitten und mit einer Rahmenlinie umzogen, wobei sie von einem Kissen zu einer Blumenvase, einem Hocker zu einem noch lose anhaltenden Duft, einer Beleuchtungsart zu einem Vorherrschen bestimmter Farben hinübereilten und in plastisch und gleichzeitig beseelter Gestalt eine Form vor Augen rückten, welche gleichsam die ideale allen aufeinanderfolgenden Heimen anhaftende Urgestalt des Salons der Verdurins war.

Lieben Gruss von

Kadra :)
 
J

josipeters

Gast
supersupersupertoll

Deine Geschichte ohne Satzende, alle Achtung, gut geschrieben.

Ein Kunstwerk ist ein durch die Brille des Temperaments gesehenes Stück Schöpfung. (Zola)
 

urte

Mitglied
längste Sätze

Hallo, ich hatte den Eindruck, die längsten Sätze bei Thomas Bernhard gelesen zu haben, und was für welche! gleich über mehrere Seiten gehend. Grüße, Urte
 



 
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