Nur eine Frage
Er schien überrascht, ja fast schockiert, als er die Frage vernahm. Dann sah er von seinem Schreibtisch auf und holte tief Luft:
„Wissen sie, seit 216 Wochen schon bitte ich jeden Mittwoch einen ihrer Kollegen hier in mein Büro. Jede Woche seit dieser gottverdammte Krieg begonnen hat, sitze ich einem sensationssüchtigen, karrieregeilen Journalisten gegenüber und beantworte alle Fragen die mir gestellt werden. Und nach 216 Wochen sind sie der erste, der mir diese Frage stellt. Man merkt, daß sie noch nicht so lange im Geschäft sind, sonst hätten sie das Gleiche gefragt wie alle anderen auch. Wie hoch sind die Verluste? Gibt es Fortschritte? Was ist geplant, um die prekäre Lage an der Ostfront zu verbessern und so weiter.
Dazu die üblichen Lobeshymnen. Was kann der Held von Passionville tun? Wie wird General Cartrich das Ruder herumreißen, um den Krieg zu gewinnen?
Ich habe es satt, diese Fragen zu beantworten, wenn ich gerade erst die neueste Verlustliste auf den Schreibtisch gelegt bekommen habe. Wenn die Schreie aus dem Lazarett noch in meinen Ohren widerhallen. Ich habe es satt, über tapfere Soldaten zu sprechen, wenn im gleichen Moment Tausende von Männern auf den Schlachtfeldern nach ihren Müttern rufen. Männer, die ich zum Sterben dort hingeschickt habe. Männer, die bis vor kurzem noch nie eine Waffe in Händen gehalten haben, Familienväter, Lehrer, Briefträger, Bankangestellte und weiß der Teufel, was für Berufe sie ausgeübt haben. Nun sind sie dort draußen und kämpfen gegen einen übermächtigen Feind, sterben, weil ich es ihnen befohlen habe.
2467 Menschen ließen ihr Leben, um mich zum glorreichen Helden von Passionville zu machen. 2467 Menschen, die geopfert wurden, geopfert in einem Himmelfahrtskommando, einem absolut chancenlosen Kampf gegen eine unbezwingbare Übermacht. 2467 Seelen, die ihr Leben als Ablenkungsmanöver beendet haben, damit andere Soldaten an anderer Stelle den ersten verdammten Sieg in diesem hoffnungslosen Krieg erringen konnten. Und ich habe sie ausgewählt. Ich habe entschieden, wer leben darf und wer nicht. Ich habe entschieden, wessen Eltern eine Fahne überreicht wird und wer als gefeierter Held zurückkehren durfte.
Ich habe in den letzten Tagen viel Zeit damit verbracht, Briefe zu schreiben. Aber 2467 sind einfach zu viele. Ich schaffe das nicht. Hier, das ist der letzte den ich schreiben werde. Der Junge war gerade einmal 20 Jahre alt. Studierte Geoökologie im ersten Semester. Einer dieser Weltverbesserer. Idealist, Mitglied einer Umweltorganisation. Hatte der rücksichtslosen Ausbeutung dieses Planeten den Kampf angesagt. Den Planeten hat er nicht retten können, aber immerhin ist er bei der Verteidigung seiner Heimat gefallen. Wie hätte sein Leben wohl ausgesehen, wenn die Werber ihn nicht gefunden hätten? Er war verlobt. In drei-vier Jahren hätte er vielleicht geheiratet, sein Studium abgeschlossen, eine Familie gegründet. Vielleicht hätte er sich ein Haus gebaut, mit Solarzellen auf dem Dach und einem sorgfältigen Mülltrennungssystem im Hof. Vielleicht wäre auch zu Greenpeace gegangen und hätte unserer Regierung noch eine Menge Ärger bereitet. Oder er hätte sich für das neue Landgewinnungsprojekt im Südpazifik beworben. Wir werden es nie erfahren, denn er wird nicht mehr die Chance bekommen, sich zu entscheiden. Die Entscheidung wie es in seinem Leben weitergeht, wurde nicht von ihm getroffen. Nein, sie wurde von mir getroffen. Ich habe beschlossen, daß er geopfert werden muß. Ich habe das Todesurteil unterzeichnet als ich ihn und seine ganze verdammte Einheit auf diese Mission schickte. Aber wie kann ein einzelner Mann entscheiden, wer Leben darf und wer nicht? Was gibt mir das Recht, über den Wert eines Lebens zu urteilen? Wie zur Hölle können die Abzeichen auf meiner Uniform mich dazu berechtigen, dem Mechaniker Vorrang zu gewähren vor dem Studenten?
Sein Name war Sean Jameson. Das sollten sie in ihren Bericht schreiben – Jameson mit einem „s“ und er starb, weil ich es so bestimmte, weil ich, der Held von Passionville, an Gottes Stelle getreten bin und mit einer einzigen Unterschrift sein Leben beendete. Erklären sie das seinen Eltern, erklären sie ihnen, warum es ihr Sohn gewesen ist und nicht irgendein anderer. Ich kann es nicht. Ich kann noch so viele Briefe schreiben und noch so viel Bedauern aussprechen. Aber letztlich kann ich ihnen nicht einmal einen Grund nennen. Ein anderer würde vielleicht sagen, daß er für sein Volk starb, daß er ein Held war, ein Opfer, das gebracht werden mußte, um der großen Sache zu dienen. Aber ich kann nur sagen, er starb für mich, an meiner Stelle, weil ich nur die Befehle gebe und andere sie ausführen müssen. Sie sind die Bauern auf dem Schachbrett, das ich jeden Tag aufs neue betrachte, auf dem ich sie hin und her schiebe und von dem ich sie letztlich irgendwann einmal entferne.
Aber das wird jetzt ein Ende haben. Ich habe die letzte Figur gezogen, ich habe zum letzten Mal entschieden, ob das Leben des Einen wichtiger ist als das des Anderen. Sagen sie seinen Eltern, daß es mir leid tut und daß ich in der Hölle dafür büßen werde.“
Bei diesen Worten ergriff er die Dienstwaffe, die vor ihm auf dem Tisch lag, steckte sich den Lauf in den Mund und drückte ab.
Nur wenige Sekunden darauf stürmten die Wachen in den Raum. Sie fanden den jungen Journalisten, der völlig verstört auf seinem Stuhl saß und mit weit aufgerissenen Augen auf den riesigen Blutfleck an der Wand starrte.
„Ich habe ihm doch nur eine Frage gestellt“, stotterte er immer wieder als die Soldaten ihn aus dem Raum brachten. Einer von ihnen schlug ihm ins Gesicht und brüllte ihn an:
„Was haben sie ihn gefragt?“
„Ich, ich wollte doch nur wissen, wie es ihm geht.“, antwortete er.
Er schien überrascht, ja fast schockiert, als er die Frage vernahm. Dann sah er von seinem Schreibtisch auf und holte tief Luft:
„Wissen sie, seit 216 Wochen schon bitte ich jeden Mittwoch einen ihrer Kollegen hier in mein Büro. Jede Woche seit dieser gottverdammte Krieg begonnen hat, sitze ich einem sensationssüchtigen, karrieregeilen Journalisten gegenüber und beantworte alle Fragen die mir gestellt werden. Und nach 216 Wochen sind sie der erste, der mir diese Frage stellt. Man merkt, daß sie noch nicht so lange im Geschäft sind, sonst hätten sie das Gleiche gefragt wie alle anderen auch. Wie hoch sind die Verluste? Gibt es Fortschritte? Was ist geplant, um die prekäre Lage an der Ostfront zu verbessern und so weiter.
Dazu die üblichen Lobeshymnen. Was kann der Held von Passionville tun? Wie wird General Cartrich das Ruder herumreißen, um den Krieg zu gewinnen?
Ich habe es satt, diese Fragen zu beantworten, wenn ich gerade erst die neueste Verlustliste auf den Schreibtisch gelegt bekommen habe. Wenn die Schreie aus dem Lazarett noch in meinen Ohren widerhallen. Ich habe es satt, über tapfere Soldaten zu sprechen, wenn im gleichen Moment Tausende von Männern auf den Schlachtfeldern nach ihren Müttern rufen. Männer, die ich zum Sterben dort hingeschickt habe. Männer, die bis vor kurzem noch nie eine Waffe in Händen gehalten haben, Familienväter, Lehrer, Briefträger, Bankangestellte und weiß der Teufel, was für Berufe sie ausgeübt haben. Nun sind sie dort draußen und kämpfen gegen einen übermächtigen Feind, sterben, weil ich es ihnen befohlen habe.
2467 Menschen ließen ihr Leben, um mich zum glorreichen Helden von Passionville zu machen. 2467 Menschen, die geopfert wurden, geopfert in einem Himmelfahrtskommando, einem absolut chancenlosen Kampf gegen eine unbezwingbare Übermacht. 2467 Seelen, die ihr Leben als Ablenkungsmanöver beendet haben, damit andere Soldaten an anderer Stelle den ersten verdammten Sieg in diesem hoffnungslosen Krieg erringen konnten. Und ich habe sie ausgewählt. Ich habe entschieden, wer leben darf und wer nicht. Ich habe entschieden, wessen Eltern eine Fahne überreicht wird und wer als gefeierter Held zurückkehren durfte.
Ich habe in den letzten Tagen viel Zeit damit verbracht, Briefe zu schreiben. Aber 2467 sind einfach zu viele. Ich schaffe das nicht. Hier, das ist der letzte den ich schreiben werde. Der Junge war gerade einmal 20 Jahre alt. Studierte Geoökologie im ersten Semester. Einer dieser Weltverbesserer. Idealist, Mitglied einer Umweltorganisation. Hatte der rücksichtslosen Ausbeutung dieses Planeten den Kampf angesagt. Den Planeten hat er nicht retten können, aber immerhin ist er bei der Verteidigung seiner Heimat gefallen. Wie hätte sein Leben wohl ausgesehen, wenn die Werber ihn nicht gefunden hätten? Er war verlobt. In drei-vier Jahren hätte er vielleicht geheiratet, sein Studium abgeschlossen, eine Familie gegründet. Vielleicht hätte er sich ein Haus gebaut, mit Solarzellen auf dem Dach und einem sorgfältigen Mülltrennungssystem im Hof. Vielleicht wäre auch zu Greenpeace gegangen und hätte unserer Regierung noch eine Menge Ärger bereitet. Oder er hätte sich für das neue Landgewinnungsprojekt im Südpazifik beworben. Wir werden es nie erfahren, denn er wird nicht mehr die Chance bekommen, sich zu entscheiden. Die Entscheidung wie es in seinem Leben weitergeht, wurde nicht von ihm getroffen. Nein, sie wurde von mir getroffen. Ich habe beschlossen, daß er geopfert werden muß. Ich habe das Todesurteil unterzeichnet als ich ihn und seine ganze verdammte Einheit auf diese Mission schickte. Aber wie kann ein einzelner Mann entscheiden, wer Leben darf und wer nicht? Was gibt mir das Recht, über den Wert eines Lebens zu urteilen? Wie zur Hölle können die Abzeichen auf meiner Uniform mich dazu berechtigen, dem Mechaniker Vorrang zu gewähren vor dem Studenten?
Sein Name war Sean Jameson. Das sollten sie in ihren Bericht schreiben – Jameson mit einem „s“ und er starb, weil ich es so bestimmte, weil ich, der Held von Passionville, an Gottes Stelle getreten bin und mit einer einzigen Unterschrift sein Leben beendete. Erklären sie das seinen Eltern, erklären sie ihnen, warum es ihr Sohn gewesen ist und nicht irgendein anderer. Ich kann es nicht. Ich kann noch so viele Briefe schreiben und noch so viel Bedauern aussprechen. Aber letztlich kann ich ihnen nicht einmal einen Grund nennen. Ein anderer würde vielleicht sagen, daß er für sein Volk starb, daß er ein Held war, ein Opfer, das gebracht werden mußte, um der großen Sache zu dienen. Aber ich kann nur sagen, er starb für mich, an meiner Stelle, weil ich nur die Befehle gebe und andere sie ausführen müssen. Sie sind die Bauern auf dem Schachbrett, das ich jeden Tag aufs neue betrachte, auf dem ich sie hin und her schiebe und von dem ich sie letztlich irgendwann einmal entferne.
Aber das wird jetzt ein Ende haben. Ich habe die letzte Figur gezogen, ich habe zum letzten Mal entschieden, ob das Leben des Einen wichtiger ist als das des Anderen. Sagen sie seinen Eltern, daß es mir leid tut und daß ich in der Hölle dafür büßen werde.“
Bei diesen Worten ergriff er die Dienstwaffe, die vor ihm auf dem Tisch lag, steckte sich den Lauf in den Mund und drückte ab.
Nur wenige Sekunden darauf stürmten die Wachen in den Raum. Sie fanden den jungen Journalisten, der völlig verstört auf seinem Stuhl saß und mit weit aufgerissenen Augen auf den riesigen Blutfleck an der Wand starrte.
„Ich habe ihm doch nur eine Frage gestellt“, stotterte er immer wieder als die Soldaten ihn aus dem Raum brachten. Einer von ihnen schlug ihm ins Gesicht und brüllte ihn an:
„Was haben sie ihn gefragt?“
„Ich, ich wollte doch nur wissen, wie es ihm geht.“, antwortete er.