Nur geübt

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Dirk Radtke

Mitglied
Melissa wollte längst wieder zurück sein. So gegen drei. Ich schaue auf die Uhr. Jetzt ist es fast vier. Normalerweise verspätet sie sich nie. Schon gar nicht um beinahe eine Stunde. Und wenn, würde sie anrufen, wäre ihr etwas dazwischengekommen.
Oder etwa nicht?
Vor vierzehn Tagen hätte ich meine Hand dafür ins Feuer gelegt. Ohne zu zögern. Da war unsere vierjährige Beziehung noch in Takt – glaube ich wenigstens. Doch von dem einen auf den anderen Tag bildeten sich Furchen und Ritze in das - bis dahin - beständige Mauerwerk unserer Liebe. Genau genommen, ab dem Tag, an welchem sie sich vor unserer Haustür von einem mir unbekanntem Typen verabschiedete, just in dem Moment, als ich früher von der Arbeit kam.
Klassisch eigentlich. Dämlich klassisch.
Der Mann kommt zu früh nach Hause und erwischt seine Freundin in flagranti mit einem anderen Kerl. Tausende Gehörnte vor mir hatten dieses alptraumhafte Szenario bereits erlitten, und nun durfte auch ich mich in den Club der betrogenen Deppen einschreiben?
Vertreter sei er gewesen, hatte Melissa mir klarzumachen versucht. Versicherungsvertreter. Während dieser fadenscheinigen Erklärung war sie nicht in der Lage mir in die Augen zu sehen. In ihrem ausweichenden Blick flackerte Unsicherheit, die seitdem an den dünner werden Fäden meines Gemütes zerrt. Ein nagendes, bohrendes Gefühl; an handfesten Situationen – wie Anrufe von Unbekannten, oder das erneute Erscheinen des angeblichen Versicherungsvertreters - nicht festzumachen. Dennoch ist es latent vorhanden, forciert sich sogar schmerzhaft, jetzt, da sich der Zeitraum ihrer Abwesenheit um weitere Minuten summiert.
Mein Mund wird auf einmal staubtrocken. Vor meinem geistigen Auge startet plötzlich eine unfreiwillige Diashow, zeigt mir in kurzen, aufeinander folgenden Sequenzen das Gesicht des Vertreters, sein strahlendes Lächeln, die unbeschwerte Art…
„Scheiße!“ stoße ich wütend aus und greife nach dem Handy. Ich durchblättere das Menü bis zu Melissas Nummer. Nach kurzem Zögern starte ich die Verbindung. Sofort erklärt mir eine nette Frauenstimme, dass der gewünschte Gesprächsteilnehmer zurzeit nicht erreichbar ist. Demnach hat sie das Telefon abgestellt, was überhaupt nicht ihre Art ist. Sie dazu zu bewegen bedürfte es höherer Gewalt.
Oder aber…
Ein mulmiges Gefühl frisst sich in meine Magengegend wie ein bösartiges Geschwür. Eine Vorahnung düsteren Ursprungs, die sich ausschließlich von der Existenz des angeblichen Versicherungsvertreters ernährt.
Ich blicke erneut auf die Uhr. Der unaufhaltsame Marsch der Zeiger scheint Melissa im Sekundentakt von mir fort und zu ihm hinzuschieben. Nein, so was darf ich nicht denken, auch wenn mein Hirn sich allmählich selbstständig jeglicher Objektivität entziehen will.
Bestimmt ist der Grund ihrer Verspätung völlig harmlos. Zeit verpennt, Freundin getroffen. Den Typen getroffen…
Himmel, ich muss irgendetwas tun um mich abzulenken, bevor ich in einem morbiden Gedankensumpf ersaufe.
Melissa wollte in die Stadt. Vielleicht sollte ich mich dort umsehen, nach ihr suchen? Immer noch besser, als hier zu hocken und mich von Wahnvorstellungen zerquetschen zu lassen.
Die Stadt als solche zu betiteln, grenzt ein wenig an Größenwahn, im Vergleich zu anderen Metropolen, die eine Bezeichnung dessen eher verdienen. Auf einer einzigen Einkaufsstrasse reihen sich hauptsächlich Boutiquen, Schuh- und Schmuckläden aneinander. Für Frauen ein kleines Mekka. Für deren männliche Begleiter der sicherste Weg zur tödlichen Langeweile. Melissa liebt diese kleinen Läden, in denen sie stundenlang mit Begeisterung stöbern kann - was ich im Moment inständiger hoffe als jemals zuvor in unserer Beziehung. Ich stehle mich an den Geschäften vorbei. Schaue hinein. Verharre vor jedem einzelnen mit suchendem Blick, wenn ich sie nicht erblicke und gehe erst dann weiter, wenn ich mir sicher bin, sie tatsächlich nicht darin zu wissen. Eine nervenzerreißende Aufgabe. Mit jedem Geschäft, in dem ich sie nicht erblicke, sinkt die Hoffnung auf eine harmlose Erklärung ihres Fortbleibens. Dafür wächst der innige Wunsch, sie endlich irgendwo zu entdecken, um ein Vielfaches. So wie der Kloß in meinem Hals. In meiner Wunschvorstellung sehe ich sie plötzlich aus einer Umkleidekabine herausrauschen, in ein neues Top gekleidet, die Augen vor Freude strahlend. Eine ihrer Freundinnen ist bei ihr, der Grund, warum sie die Zeit einfach vergessen hatte. Für einen kurzen Augenblick scheint sich mein Wunsch auch zu erfüllen, denn aus dem Augenwinkel sehe ich eine Person, die ich als Melissas Freundin erkenne. Ich trete zwei Schritte zurück, blicke in die kleine Boutique und irre mich nicht. Svenja heißt sie und winkt mir zu. „Hey, wo hast du Melissa gelassen?“
Natürlich begreife ich sofort, dass sie diese Frage nicht gestellt hätte, wenn Melissa mit ihr unterwegs wäre. Also winke ich nur zurück und deute mit der anderen Hand auf die gegenüberliegende Straßenseite.
„Lass sie nicht zu lange alleine“, ruft Svenja, „sonst gibt sie zu viel Geld aus!“
Ich nicke, presse ein Lächeln in mein Gesicht und gehe rasch weiter. Ich merke, wie mich die Enttäuschung in ein Gespinst der Frustration zieht, aus dem zu entkommen es einen größeren Kraftaufwand bedarf. Viele Läden gibt es nicht mehr abzuklappern und somit schrumpft meine Hoffnung unaufhaltsam weiter. Dazu blitzt wieder das Bild des Vertreters vor mir auf. Diesmal als eine Fiktion - Melissa in seinen Armen. Ich schlucke trocken. Die Luft um mich herum wird stickiger. Heißer. Oder liegt das an meinen wirren Gedanken, die mich drangsalieren, den Fokus nur noch auf eine bestimmte Person lenken?
Plötzlich komme ich mir vor wie ein Idiot. Was tue ich hier eigentlich? Was treibt mich dazu, einem Phantom nachzulaufen? Wahrscheinlich ist Melissa längst zu Hause und sorgt sich nun an meiner Stelle, da ich ihr keine Nachricht hinterlassen habe wo ich bin. Wie konnte ich mich dazu hinreißen lassen, mich so dämlich zu benehmen? Wie konnte ich den banalen Besuch eines Vertreters zum Anlass nehmen, Gefühle in mir wachsen zu lassen, die sich zu einer ausgeprägten Eifersucht manifestieren?
Das alles basiert doch nur auf einer Einbildung. Purer Einbildung. Ich habe viel zu überspitzt reagiert, aus der berühmten Mücke einen noch berühmteren Elefanten gemacht. Einen riesigen Elefanten, der mir das Wort „Idiot“ in die Ohren posaunt, welches noch lange in ihnen nachhallen wird. Laut und deutlich.
„Geh nach Hause“, sage ich mir, „geh nach Hause und sprich mit ihr. Erkläre ihr deine Gefühle. Unterrichte sie davon. Sonst wird sie nicht verstehen, was in dir vorgeht. Wird es nicht begreifen, worüber du dir Gedanken machst, worauf deine Ängste sich begründen.“
Doch bevor ich dieses halbherzig zusammengeschusterte Vorhaben in die Tat umsetzen kann, sehe ich sie.
Melissa.
Sie strahlt, sie lächelt, in dem einzigen Eiskaffee gegenüber einem Typen, der kein geringerer ist als dieser gottverdammte Vertreter.
Schlagartig zersplittert das gerade eben noch so mühsam zusammengeflickte Konstrukt aus Glaube, Hoffnung und Vertrauen. Mein Magen krampft sich zusammen und ein Schwall glühender Lava scheint sich in meinen Brustraum zu ergießen. Ich muss mich beherrschen, die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken. Ich fühle mich in eine imaginäre Schrottpresse gesaugt, in der ich langsam zermalmt werde.
Melissa lacht. Der Typ grinst. Sie sieht so glücklich aus, so zufrieden. Beinahe golden umsäumt das lange Haar ihr zartes Gesicht im warmen Sonnenlicht.
Der Anblick treibt mir einen Dolch durchs Herz!
Ich trete einen Schritt beiseite, nutze eine mannshohe Werbetafel als Sichtschutz. Traumhafte Flitterwochen werden darauf günstig angepriesen. Wie schön! Solche Reise werde ich mit Melissa in der Form wohl nicht mehr antreten.
Bei dem Gedanken durchfährt mich eine Hitzewelle. Wut, Hass und Verzweiflung mischen sich zu gleichen Teilen zu einem erbärmlichen Gefühlsgebräu. Am liebsten würde ich brüllen wie ein Kleinkind, aber gleichzeitig dem Kerl an die Gurgel gehen. Ich überlege ernsthaft, wie ich es schaffen könnte, die Zeit zurückzudrehen um all das Geschehende rückgängig zu machen. Doch natürlich bin ich mir über die Albernheit dieses Gedankens im Klaren, dessen Bewusstsein darüber nur weiteres Öl ins Feuer der Verzweiflung gießt.
Verstohlen blicke ich um den Rand des Plakates. Melissa hält die Hand des Typen in der ihren. Mit der anderen nestelt sie an seinen Fingern herum. Irgendetwas funkelt und blitzt. Ich kneife die Augen zusammen, versuche, Details auszumachen, das merkwürdige Funkeln zu ergründen. Aus der Distanz ist das allerdings fast unmöglich, obwohl auch eigentlich nicht nötig, denn ich habe bereits eine Ahnung, was dort direkt vor meinen Augen zelebriert wird.
Sie tauschen gegenseitig Ringe aus.
Freundschaftsringe? Verlobungsringe? Im Grunde kann es mir egal sein. Die Tatsache dessen trifft mich schon hart genug und muss nicht unbedingt weiter erörtert werden. Willkommen im Club der Gehörnten. Sie haben die Aufnahmeprüfung mit Bravour bestanden. Alle Achtung vor dieser Meisterleistung.
Ich lache tonlos. Dann kann ich mich der Tränen nicht länger erwehren. Sie rinnen mir heiß über die Wangen, tropfen zu Boden, wo sie winzige dunkle Punkte hinterlassen. Die Welt zerfließt in einem wässrigen, brennenden Schleier, deren gradlinige Wege plötzlich zu einer holprigen Schotterpiste werden. Fassungslos trotte ich gesenkten Hauptes darauf zurück in ein anderes Leben, das nie mehr so sein wird wie vor wenigen Minuten, als der letzte Hoffnungsfunke noch glimmte. Nein, so was hätte ich Melissa nicht zugetraut. Nicht in der Form, nicht mit solch brutaler Härte. All die gemeinsam verbrachte Zeit wirft sie einfach so fort, als ob es darin niemals Liebe gegeben hätte.
Für einen angeblichen Versicherungsvertreter…

Das Knacken des Türschlosses reißt mich aus meiner Lethargie. Melissa kehrt zurück. Ich habe beschlossen, mich ihr gegenüber zunächst neutral zu verhalten. Sie soll die Chance haben, mir aus eigenem Antrieb ihre Affäre zu beichten. Vielleicht hat sie wenigstens das Herz zur Aufrichtigkeit, obwohl dies an der Tatsache nichts ändern würde. Ich klammere mich nur an den allerletzten Grashalm.
„Wartest du schon lange auf mich, Schatz?“ Sie hastet auf mich zu, haucht mir einen Kuss auf die Wange und verschwindet sofort auf der Toilette.
„Du wolltest viel eher wieder zurück sein“, rufe ich ihr hinterher.
„Ich weiß. Entschuldige. Hab Svenja in der Stadt getroffen. Weißt doch, wie sie ist, wenn sie shoppen geht. Das Weib kriegt einfach kein Ende. Dann waren wir noch Kaffee trinken und haben uns völlig in der Zeit verschätzt.“
Die Toilettenspülung rauscht. Kurz darauf steht Melissa im Türrahmen zum Wohnzimmer. „Hast du dir Sorgen gemacht?“
Ich schüttle den Kopf. Ihre verlogenen Ausreden schmerzen und verletzen mich zutiefst. Ich frage mich, was sie damit bezwecken will. Warum legt sie die Karten nicht offen auf den Tisch? Die Sache wäre beendet. Jeder könnte seinen individuellen Weg suchen um damit klarzukommen. Aber anscheinend hält sie das nicht für nötig. Vielleicht will sie ihre Affäre erst einmal so lange weiterführen, bis sich herauskristallisiert, ob der Andere tatsächlich bessere menschliche Qualitäten besitzt als ich. Die Vorstellung treibt mir einen weiteren Dolch ins Herz. Wie kalt und herzlos sie agiert. Ich fühle mich einer Fremden gegenüber gestellt.
„Ich hätte dich ja angerufen, aber der Akku vom Handy war plötzlich leer. Obwohl ich ihn erst heute Morgen ans Ladegerät angeschlossen hatte. Wahrscheinlich ist das Ding kaputt.“
„Hätte Svenja dir nicht ihres leihen können?“
Kaum wahrnehmbar zuckt es unter ihrem Auge. Wenigstens eine Regung in ihrem emotionslosen Selbst.
„Hey, kann es sein, dass du stinkig bist?“ Sie blickt mir tief in die Augen und ich frage mich, wie abgebrüht sie in Wirklichkeit ist, wenn sie mich so ansehen kann, ohne das ihr die Schamesröte ins Gesicht steigt. Ich kämpfe mit den Tränen und würge nur ein feuchtes „Nein“ hervor. Die Schmerzen zerreißen mich innerlich.
„Geht es dir nicht gut?“ fragt sie.
Ich hebe die Hände um ihr mein gespieltes Wohlbefinden zu signalisieren. Melissa zerwuselt meine Haare und verschwindet im Schlafzimmer. „Kommst du gleich auch?“
„So früh?“ Meine Stimme klingt belegt.
„Ich habe eine Überraschung für dich!“
Der Sumpf meiner Gefühle beginnt um mich herum zu blubbern. Ich fühle mich bis aufs Äußerste verarscht, gekränkt und getreten. Ihre lockere, unbeschwingte Art mutiert zu kleinen, grinsenden Teufeln, die mich auslachen und mit dem Finger auf mich zeigen. Der Betrogene bekommt noch eine Überraschung präsentiert. Eine weitere Lügengeschichte? Oder die Wahrheit, bei Kerzenschein und Champagner?
Nein, so kann das nicht weitergehen. Ich mache mich lächerlich. Vor ihr und vor mir selbst. Wie weit will ich mich noch in den Strudel der Unwahrheiten hineinziehen lassen? Mich peinigen und verhöhnen lassen?
Entschlossen stehe ich auf. Ich bin bereit, sie von meinen Beobachtungen zu unterrichten. Bereit, mich der Wahrheit zu stellen. Ich werde keine weiteren Lügen mehr dulden. Und wenn sie es von sich aus nicht tut, werde ich einen Schlussstrich unter die Beziehung setzten.
Soll sie mit ihrem verfluchten Vertreter glücklich werden!
„Schatz, wo bleibst du?“ säuselt es aus dem Schlafzimmer zu mir herüber.
„Ich komme!“
Normalerweise blubbert mir bereits im Flur der Fernseher entgegen, doch heute ist es still. Durch die geöffnete Schlafzimmertür fällt seidiges Licht, welches von keiner der dort befindlichen Leuchten ausgeht. Mich befällt eine grausame Vorahnung, die ich bestätigt bekomme, als ich durch den Türrahmen ins Zimmer spähe.
Melissa hat unzählige Teelichter verteilt und angezündet, die den Raum in ein romantisches Licht tauchen. Das kaum merkliche Zucken der Flammen erzeugt eine warme, lebendige Atmosphäre. Unter anderen Umständen hätte ich dieses verführende Umfeld sinnlich und erregend empfunden. So aber sehe ich ihre Inszenierung nur als eine geschmacklose Metapher. Meine Vorahnung erhärtet sich. Melissa hat sich in ein rosafarbenes Seidennachthemd gehüllt. Der matt glänzende Stoff offenbart mir mehr von ihrem zarten Körper als er verdeckt. Ich balle die Fäuste hinter meinem Rücken. Der dritte Dolch durchbohrt mein Herz, zerfetzt es irreparabel. Melissas Absichten sind unverkennbar und unbegreiflich zugleich. Wie kann sie es so auf die Spitze treiben? Wen habe ich die Jahre über geliebt? Wie konnte sie es schaffen, die monströsen Abgründe ihres Ichs in der langen Zeit vor mir zu verbergen?
„Das glaube ich nicht“, sage ich und sehe mich am Rande einer von Fassungslosigkeit ausgelösten Ohnmacht. Ich liege am Boden, bin am Ende – dennoch wird weiterhin auf mich eingetreten. Gnadenlos, Gefühllos, mit unmenschlicher Brutalität.
Melissa lächelt mich an. „Komm, setz dich zu mir.“
Ich erlebe die Schritte zum Bett wie in Trance. Meine Füße berühren den Boden, aber irgendwie tun sie es nicht. Mein Wahrnehmungsvermögen ist in dicke Watte eingehüllt. Nichts dringt mehr ungefiltert in mein Bewusstsein.
Ich setzte mich und versinke in Melissas wunderschönen Augen. Ich versuche, all das Erlebte von mir abzuschütteln, zu glauben, nur einen schlechten Traum durchlebt zu haben.
„Sieh mal“, flüstert sie mir zu und deutet auf ein rotes Samttaschentuch vor ihr auf der Matratze. Darunter liegt etwas Eckiges verborgen.
„Was ist das? Was soll das?“ frage ich, zu kraftlos für irgendwelche weiteren, verlogenen Spielchen.
„Schau nach.“
Ich tue, was sie verlangt. Ziehe das Taschentuch von dem darunter befindlichen Gegenstand und lege ein kleines Kästchen frei.
„Mach auf“, haucht sie. Ihre Augen glitzern aufgeregt im Kerzenschein. Träume ich? Oder ist sie wirklich die berechnende, kalte Persönlichkeit, die ich hinter ihrer Fassade vermute?
Mit zitternden Fingern hebe ich das Kästchen hoch. Ich brauche eine Weile, bis ich den Verschluss gefunden und geöffnet habe. Der Deckel springt auf. Im Inneren der Verpackung funkeln zwei goldene Ringe.
„Willst du mich heiraten?“ Bleischwer legt sich die Frage in den Raum. Ich bin entsetzt. Wie kann sie mir diese Frage stellen, obwohl sie noch Stunden zuvor mit einem anderen rumgeturtelt hat? Wie tiefgründig ist ihre Bosheit und wie berechnend ihr Gemüt?
Als ob sie meine überschäumenden Emotionen spürt, legt sie den Finger auf meine Lippen und macht: „Schhhh…“ Leise und gefühlvoll. Mitleid spiegelt sich in ihren Augen. Mitleid und Mitgefühl.
„Ich weiß, dass du mich heute Nachmittag in der Stadt beobachtet hast.“ Ein Kichern huscht über ihre Lippen. Dann stupst sie zart an meine Schulter. „Du warst nicht zu übersehen!“ Sie schenkt mir ein Lächeln, was sich tief in meine Seele gräbt. Ich fühle mich haltlos auf einem viel zu schnell kreiselnden Karussell.
„Sicher fragst du dich, wer der Typ war, mit dem ich mich getroffen habe?“ Sie nickt anstelle meiner. „Das war Carsten. Carsten Weiland. Du hast ihn vor zwei Wochen schon einmal gesehen. Erinnerst du dich? Der Tag, an dem du früher von der Arbeit gekommen bist. Ich habe dich angeschwindelt, und dir gesagt, er sei Versicherungsvertreter.“
Ihrer Worte tropfen langsam in mein Bewusstsein. Dennoch bleibt mir der Sinn verborgen. Die Situation erscheint mir genauso unwirklich wie der vergangene Nachmittag.
„Carsten Weiland ist Pastor und ein ehemaliger Klassenkamerad. Ich hab mich mit ihm getroffen, um…, na ja um schon mal ein bisschen die Modalitäten der Trauung zu besprechen. Also, wie man die Festlichkeiten so gestalten könnte, damit dieser Tag auch wirklich der Schönste im Leben wird. Natürlich nur, wenn du meinen Antrag annimmst.“
Melissa sieht mich aus leuchtenden Augen an. In dem Moment ergibt alles plötzlich einen völlig anderen Sinn.
„Aber, aber du hast ihm den Ring…“, schluchze ich.
„Schhhh…“, fährt sie dazwischen und wischt eine Träne von meiner Wange. „Das war nur geübt.“
 



 
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