Nussknacker-Ballett

Petra

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Gestern wurde ich Zeuge einer kuriosen Begebenheit.
Gerade brütete ich - gramgebeugt über einer heiklen und überaus schwierigen Aufgabe sitzend - über mögliche Lösungen hin; sinnierend starrte ich direkt auf den kleinen Nußknacker, der da auf seinem Holzbein auf dem Schreibtisch vor mir stand. Im Hintergrund flackerte eine Kerze. Sie warf eigentümliche Schatten. Der Nußknacker zeigte sich hiervon unbeeindruckt und schaute sehr ernsthaft drein.
Längere Zeit nun hatte ich ihn betrachtet, tief und tiefer war ich in seine Betrachtung versunken, als er - ich traute meinen Augen kaum - plötzlich seinen kleinen Mund aufriß, herzhaft zu gähnen begann und seine Arme reckte; alsdann machte er eine Kniebeuge, und als er sich zu voller Größe aufrichtete, hatte er anstelle des gehörigen einzelnen Holzbeins zwei richtige! Ganz in der Absicht, aufzuwachen, verpaßte ich mir eine schallende Ohrfeige. Vergeblich allerdings. Denn der kleine Holzmann bewegte sich tatsächlich.
Mit seinen Stiefelchen begann er sofort über meine Unterlagen zu marschieren, hob jedes einzelne Blatt Papier empor und warf einen Blick darunter. Alsdann rannte er zu meinem Briefständer, zog einen jeden Brief hervor und inspizierte die Stelle eingehend. Doch als er auch hinter dem letzten nicht fand, wonach er offensichtlich gesucht hatte, stellte er alle Briefe fein säuberlich an ihren Platz zurück und schüttelte ratlos den Kopf.
Als nächstes durchsuchte er sämtliche Kistchen und Döschen, die auf meinem Schreibtisch herumlagen, auch den Anspitzer verschonte er nicht und öffnete ihn. Doch seine Miene verdunkelte sich umgehend, seine kleinen Schulter hingen traurig herab.
Auf dem Weg zum letzten Schächtelchen allerdings fiel nun sein Blick auf die Stifte. Er wählte, nachdem er sich kurz besonnen, einen aus und biß mit sichtlichem Vergnügen hinein, doch schüttelte er sich. Angewidert und auch ein wenig steif in der Bewegung legte er den blauen Schreiber an seinen Platz zurück und wandte sich der übriggebliebenen Schachtel zu. Er öffnete den Deckel, spähte hinein und schien endlich, seine Miene verriet es, gefunden zu haben, was er begehrte. Mit allerlei Verrenkungen fischte er darin herum, doch trotz allen Zappelns gelang es ihm nicht, den begehrten Gegenstand zu erlangen. Er erinnerte sich des Spitzers, holte ihn heran, dann stieg er mühsam hinauf. Während ich mich, aufs äußerste gespannt, vorbeugte, verschwand sein rot-livrierter Oberkörper in den Tiefen der Schachtel. Er hatte den Gegenstand bereits gefaßt, da verlor er mit einem verhaltenen Plumps seinen Hut im Innern der Schachtel. Einen Moment unschlüssig in der Schwebe hängend, ließ er doch den Gegenstand wieder los, ergriff den Hut und legte ihn außerhalb der Schachtel nieder. Dann erst bemächtigte er sich ein zweites Mal des Gegenstandes und tauchte endgültig auf. Er hielt eine Nuß in Händen.
Natürlich!, schoß es mir durch den Kopf. Darauf hätte ich auch von selbst kommen können. Die ganze unwirkliche Atmosphäre hatte mich schläfrig gemacht.
Mit dem Ausdruck eines Gourmets, der sich auf sein Handwerk versteht, warf sich der kleine Mann nun die Nuß in den Mund, biß zu ... und ... knack ... es fielen die braunen Schalen, zu Dutzenden von Scherben zerborsten, zu Boden. Der leckere Kern hingegen verschwand im Innern des Nußknackers. Zufrieden hielt der sich den Bauch und streichelte ihn wohlig, dann machte er sich daran, die Scherben der Schale einzusammeln.
Das alles war ja schon an sich höchst wunderlich gewesen, aber um so überraschter war ich, als das kleine Holzmännchen sich anschickte, die Nußschalen wieder zusammenzufügen. Stückchen um Stückchen probierte er, er lief und holte, und ein ums andere Mal setzte er sich glückselig auf den Deckelrand, Ellenbogen und Kopf aufgestützt; andernmals jedoch betrachtete er sein Werk in Trübsal, schüttelte verdrießlich den Kopf und nahm, nicht ohne recht sichtbar dabei zu seufzen, alles wieder auseinander.
Die Arbeit war langwierig, der kleine Mann mühte sich redlich. Doch letztlich war es geschafft, er hielt ein kunstvolles dreidimensionales Mosaik in Händen. Ganz sanft strich er mit der Hand über die Nahtstellen, da waren diese verschwunden. Freudestrahlend nahm der kleine Kerl die Nuß in beide Händchen, warf sie übermütig in die Luft, dann rolllte er sie zu seinen Füßen hin und her. Da entwendete ich sie ihm auf einen Augenblick. Erstaunlich! Sie war tatsächlich unversehrt.
Mein Blick fiel zurück auf den kleinen Nußknacker. Furchtsam stand er vor mir, er salutierte schüchterner, als es sich für einen Offizier der Nußknacker-Garde geziemt, und bat, indem er wortlos die Hände ausstreckte, die Nuß zurückzuerhalten. Ich händigte sie ihm aus.
Voller Übermut warf er sie sich nun ein weiteres Mal in den Holzmund, wieder knackte es, und wieder fielen die Scherben zu seinen Füßen. Er kniete nieder, wiederum begann das seltsame Spiel des Zusammensetzens. So ging es eine geraume Zeitlang in einem fort.
Draußen dunkelte es bereits. Mechanisch entzündete ich eine weitere Kerze; die erste war unbemerkt erloschen.
Plötzlich, ich weiß nicht, wie es geschah, rannte mit einem Mal der kleine Nußknacker im Laufschritt quer über den Tisch bis an den Rand, wo er - da er mit einem Satz hinuntersprang - meinen Blicken entschwand. Schon kurze Zeit darauf sah ich ihn sich an der Gardine emporhangeln. Auf der Fensterbank angekommen, zückte er ein Taschentuch und betupfte sich die Stirn, dann ging es weiter - an den Töpfen entlang - zur Gießkanne. In großer Anstrengung kletterte er hinauf; um Haaresbreite wäre er hineingestürzt. Jedoch im allerletzten Augeblick konnte er sich festhalten. Sein Kopf verschwand im Innern. Dem Geräusch nach zu urteilen, trank das kleine Kerlchen.
Auf meinem Schreibtisch liegt, seit längerer Zeit übrigens schon, da ich recht unordentlich bin, ein silbern glänzender Fingerhut. Den ergriff ich nun, füllte ihn randvoll mit Tee, der im übrigen schon seit Stunden neben mir vor sich hinköchelte, warf einen klitzekleinen Kandis hinein und reichte ihn dem Nußknacker. Er blickte zunächst skeptisch, den Kopf schräg gelegt, sein Blick wanderte unablässig von mir zum Fingerhut, wobei er jeweils einen Augenblick verharrte; doch nahm er schließlich doch den Becher und wärmte seine kleinen Hände daran. Vorsichtig probierte er einen Schluck, dann leerte er den Becher in zwei Zügen. Das leere Gefäß stellte er auf den Boden, verbeugte sich in formvollendeter Manier und kletterte, nachdem er den Soldatenhut, den ich ihm reichte, zurechtgerückt hatte, auf die Yucca-Palme und nahm Platz. Von dort schaute er, während seine Beinchen lustig schaukelten, in die Welt hinaus. Ich folgte seinem Blick.
Träumerisch mochten wir lange wohl so am Fenster gesessen haben. Ich erwachte erst, als es draußen finster war. Ich blickte mich um nach meinem Freund und erblickte ihn im Regal, reglos auf seinem Holzfuß stehend.
Selbstverständlich hatte ich mir dies alles nur erträumt.
Aber wenn dem so ist - warum um alles in der Welt sind dann alle Nüsse leer, die ich aufknacke? Und woher hat dann mein Liebingsfarbstift einen zaghaften Biß?
 
Liebe Petra,

auch diese Geschichte finde ich wunderschön und ich musste grad mit einem Anflug von schlechtem Gewissen daran denken, dass mein treuer Nussknacker aus meiner Kindheit eingepackt auf dem kalten Speicher sein Dasein fristet, ich glaub ich werd ihn nachher herabholen.

Vom Schluss der Geschichte bin ich allerdings nicht 100%-ig begeistert, dass bei dir alle Nüsse leer sind zerstört in meinen Augen die phantastische Stimmung, die du zuvor so toll aufgebaut hast.
Aber alles in allem gut dargestellt.

Liebe Grüße,
Christina
 

Petra

Mitglied
Hab Dank!

Liebe Christina!

Vielen Dank für Deine aufbauende Kritik! Es ist, ach seufz, Balsam meiner Seele!
Daß Dich das Ende enttäuscht, finde ich einerseits schade, andererseits läßt es mich relativ kühl - es kann nicht in jedermanns Augen perfekt sein. Ich finde allerdings, daß etwas Mystisches schon hineingehörte, sonst wäre es ja bei purer Einbildung verblieben, die mir widerfahren ist (denn daran, daß die Geschichte mir in natura widerfahren ist, kann kein Zweifel bestehen!!!).
Darüber hinaus bin ich natürlich stetig bemüht, weiterhin und verstärkt allen Ansprüchen gerecht zu werden! Also - befleißigt Euch weiterer Kritik, bitte!
Viele liebe Grüße.
Petra
 

iso

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Es lebe die Phantasie!

Ich habe auch so einen Nussknacker im Regal stehen. Ich glaube, ich muss mal ein paar Nüsse in seine Nähe legen. Mal sehn, was passiert. Natürlich müssen die Nüsse leer sein, sonst fehlte ja das verbindende Glied zwischen Phantasie und Realität. Sie gefällt mir, Deine Geschichte. Grüße von iso
 

Petra

Mitglied
Hallo Iso!

Zunächst vielen Dank fürs Kompliment!!!

Zum zweiten - natürlich mußt Du Nüsse hinlegen, sonst kann sich ja nichts ereignen! Welche Nüsse allerdings, das hängt sehr davon ab, aus welchem Holz Dein Nußknacker geschnitzt ist - sie sind da mitunter doch recht wählerisch. Und können auch recht mäklig sein. Aber ansonsten bringen sie auch viel Freude.

Eine heiter-besinnliche Adventszeit und viele Grüße.

Petra
 
Liebe Petra,

den Tipp mit den Nüssen werd ich meinem fünfjährigen Neffen verraten, der hat nämlich auch einen, den er so schon über alles liebt.
Das macht ihm sicher Freude, außerdem werde ich die Geschichte ihm und seinem Bruder erzählen, die stehen auf so was.

Liebe Grüsse,
Christina
 

Petra

Mitglied
Liebe Christina!


Aber bitte sehr - ich bitte sich höflichst an meiner Geschichte zu bedienen!

Es fragt sich, in welchem Alter Deine Neffen sind - ich habe noch ein Mondenmärchen, das ich mich hier nicht zu posten traue, eher eine Gute-Nacht-Geschichte für Kleinere. Bei Bedarf dürftest Du - eventuell (!) - ganz vertraulich einmal einen Blick hineinwerfen.

Schönen Abend noch.
Petra
 

Petra

Mitglied
Hallo Iso!

Noch einmal herzlichen Dank - diesmal für die separaten Grüße. Leider kann ich mich nicht revanchieren, da ich hier nirgendwo Deine Email-Adresse ausfindig machen konnte!
Eine sehr nette Idee!

Viele Grüße.
Petra
 

iso

Mitglied
E-mail

Hallo, Petra! Freut mich, dass dir meine mail gefallen hat. Du brauchst nur rechts über dem Adventskalender auf "reply to iso" zu klicken, den Rest macht Bluemountain dann für dich und zeigt dir meine Adresse. Nur zur Information. Tschüs -iso
 



 
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