Ob ich ihr Geld leihen könnte

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Raul Reiser

Mitglied
Ob ich ihr Geld leihen könne
Das kam stark und klar
Keine Möglichkeit sich verhört zu haben
Der schmale Gehweg
Eingemauert in Blechschlangen
Exakt eingeparkt
Kein Ausweg

Ich kenne Dich, sagte sie

Tatsächlich wohnten wir schon lange in derselben Straße
Von Stadtplanern Kiez- oder Problemquartier benannt
In fernen lichtumfluteten Planungsbüros

Als ich sie das erste Mal sah
War sie jung, attraktiv
fast noch zu jung, dachte ich, einen Kinderwagen vor sich her zu schieben
Nie ein Mann dabei

Mit den Jahren wurde sie korpulenter
Zog die Tochter an der Hand
Wie einen unerzogenen kleinen Hund
Dann nur noch solo
Dann mit wechselnden Männern

Ihre Augen wuchsen zu
Schlitze hinter geschwollenen Augenlidern
fetten Tränensäcken

Ihr Gang zunehmend schwer
Leicht gebeugt
Von der Last
Steigender Mengen
Dumpf bollernder Bierflaschen in Plastiktüten

Unsere Straße eint
Nicht nur akustische Gemeinsamkeiten
Fremdparker mit dicken Wägen
Fühlen sich oft ausgegrenzt

Einmal sah ich sie
Beide Unterarme dick verbunden
Hier fragt man nicht
Der Katalog von Antworten
Erregende Themen
Soziologischer Tagungen
Mit fetten Honoraren und Spesen
Für uns Banalitäten des Alltags
Auch wenn unsere Straße
Nur ein Abknick ist
Nicht mehr als 200 Meter von der großen Einkaufsmeile entfernt
die Tag für Tag überfüllt ist mit denen
die noch die Möglichkeit haben, sich ihre Wünsche zu erfüllen


Einer ihrer immer zahlreicherer Männer wurde,
ich bekam es zufällig mit
nachts abgeführt
nachdem er stundenlang vor ihrem Haus
geklingelt, gebettelt und herumgebrüllt hatte

Standhaft geblieben
blieb ihr nur der Polizeieinsatz
Was hier kein größeres Aufsehen erregt

Irgendwann das erste Kopfnicken
Wenn wir uns über den Weg liefen
Im oder auf dem Weg zum Supermarkt um die Ecke,
Besonders umsatzkräftig nach der Erweiterung
Begünstigt durch einen Total-Konkurs
Ein einfacher Wanddurchbruch
Eine leichte Aufgabe für einen Lebensmittelkonzern
Die alten Regale
Weiterhin bis zur Decke gefüllt
Zuvor mit Büchern
Jetzt mit Alkohol in allen Variationen


Unsere Blicke trafen sich
Kaum länger als eine Zehntelsekunde
Die erhöhte Verweildauer ging von mir aus
Von einem bewahrten Bild
Das sie schon lange zerstört haben musste
Um zu überleben

Seitdem fingen wir an uns zu grüßen
So grade im Vorbeigehen

Sie steht vor mir
Das Gesicht dick und schweißig
Die Gestalt unförmig
Die Straße, wir beide
Schutzlos ausgeliefert
der Mittsommersonne
Bergende Schatten chancenlos
Schwarz die Schweißflecken
Auf unseren verschlissenen Klamotten

Ich sage NEIN

Ihre Hand über meiner Schulter
Ein Wisch, ein Hauch
Eine verirrte Vogelfeder
Ein Körperreflex auf eine
Gewünschte Geste

Sie geht weiter

Ich krame nach meinen Schlüsselbund
der sich in der Hosentasche verhakt hat

Seitdem grüßten wir uns wie vorher
Bis ich hörte
Sie sei ausgezogen
In eine bessere Gegend.
 

Rhea_Gift

Mitglied
Das ist ne verdammt gute Kurzgeschichte - sonst mir ja wurscht, aber das doch ganz klar Prosa? Egal - wirklich verdammt gut gelungen!!

LG, Rhea
 



 
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