Odysseus in der Unterwelt

Andrea

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Odysseus in der Unterwelt.

Der Hades war nicht besonders übersichtlich, von einer brauchbaren Beschilderung ganz zu schweigen. Odysseus brauchte nicht sehr lange, um dies herauszufinden. Gleich nachdem Charon ihn am Ufer des Styx hatte aussteigen lassen, machte sich der entthronte König von Ithaka auf die Suche nach dem Tourismuscenter. Nun, da er endlich ins goldene Rentenalter gekommen war, wollte er seine Tage auch genießen. Weshalb er dazu diesen kalten und finsteren Ort aufgesucht hatte, der weder seiner Gicht noch dem Rheuma etwas Gutes bringen würde, war ihm selbst noch schleierhaft. Aber daheim wurde er als der Listenreiche verehrt; also würde er dieses Rätsel wohl auch noch knacken.
Odysseus marschierte daher frohgemut am Ufer des schwarzen Flusses entlang. Mitunter vermeinte er, Seufzer zu hören wie aus den Kehlen geknechteter Seelen, aber Penelope, sein holdes Weib, pflegte sowieso stets zu sagen, daß er nur das hörte, was er hören wollte; besonders wenn es um Dinge wie seine pünktliche Heimkehr oder das Herunterbringen des Mülls ging. Gerade wollte sich Odysseus bei einer der bleichen Gestalten, die überall zu gehen und zu stehen schienen, nach dieser doch ausgefallenen Hintergrundmusik erkundigen, die ihm so fremd erschien, als ihn ein lautes Poltern zusammenfahren ließ.
Hinter ihm donnerte ein riesiger Stein einen Hügel hinab und blieb erst wenige Zentimeter vor dem Ufer stehen. Ein paar der bleichen Gestalten schlurften verbittert von ihren angestammten Plätzen, und dann kam ein ältlicher Knabe den Hügel hinabgestürzt.
„Verdammter Felsch!“, schrie er aus vollem Halse. „Du verdammter, verfluchter Felschbrocken!“
Odysseus kämpfte einen Moment erfolglos gegen seine Neugier, ehe er nähertrat.
„Kann ich dir vielleicht helfen?“ erkundigte er sich freundlich. „Du scheinst ja so deine Probleme mit diesem Felsen zu haben.“
„Probleme? Schagtescht du Probleme?“ Vor lauter Wut spuckte der Alte beim Sprechen, und Odysseus entnahm seinen Gesten, daß er sich besser davor hütete, dem Mann noch näher zu treten.
„Entschuldige“, erwiderte er etwas eingeschnappt. „Ich wollte dir nur helfen.“
„Weischt du denn nicht, wer ich bin?“, fragte der Alte und warf sich in die Brust, auf der dank der täglichen Plackerei die Muskeln wie Radieschen sprießten.
Odysseus wich zurück und musterte den Mann nachdenklich. Anschließend zuckte er mit den Schultern. „Nein“, antwortete er wahrheitsgemäß. „Sollte ich?“
„Aber ich bin es, Schyschyphusch!“ Er drückte den Rücken so weit durch, daß seine Rippen knackten. „Ich bin berühmt!“
Odysseus kratzte sich am Kopf, doch ihm blieb nichts anderes übrig, als bedauernd den Kopf zu schütteln. „Es tut mir leid, aber diesen Namen habe ich noch nie gehört.“
„Ja, lescht ihr denn keine Bücher mehr in der Oberwelt?“ Der alte Mann sabberte vor Enttäuschung.
„Natürlich lesen wir Bücher“, entrüstete sich Odysseus. „Es gibt da sogar einen neuen Bestseller namens Iliade, der..“
„Intereschiert mich nicht.“ Der Alte winkte ab. Seine Wut schien langsam zu verdampfen. „Hilf mir lieber mal mit dem Felsch.“
Gemeinsam mit Odysseus, der sich irgendwie schuldig fühlte, stemmte er sich gegen den Stein, der sich auch prompt langsam in Bewegung setzte. „Hilfscht du mir noch ein Weilchen?“, fragte der Alte hoffnungsvoll. „Mit etwasch Plaudern vergeht die Scheit bescher. Und vermutlich hascht du eh nichtsch schu tun.“
Wieder zuckte Odysseus die Schultern. Im Prinzip hatte der alte Mann ja recht, aber dieser Hügel erschien ihm doch etwas steil, und er hatte sich etwas Anderes für seine Rentenzeit vorgestellt.
„Vielleicht ein anderes Mal“, versprach er und ging hastig von dannen. Der Alte jagte ihm einige freundliche Flüche zum Abschied hinterher.
Eine Weile irrte Odysseus durch den Hades. Irgendwo mußte das verdammte Tourismuscenter doch stecken! Wäre es ihm nicht zu peinlich gewesen, hätte er ja nach dem Weg gefragt. Schließlich entschied er sich, doch irgendwo sorgfältig Erkundigungen einzuholen. Unauffällig natürlich. Sollte ihm nur niemand nachsagen, er hätte sich verirrt.
Daher war Odysseus hoch erfreut, als ihm eine reichlich aufgedunsene Dame mit Federballschläger in die Arme lief.
„Sieh nur, Paris, Schätzchen“, flötete sie und winkte mit dem Federballschläger zu einem Mann, der dicht am Wasser auf dem Bauch lag und mit einem Holzpferd spielte, das er in seine Einzelteile zerlegte. „Wir bekommen Besuch!“
„Halt die Klappe, Schlampe“, knurrte Paris liebenswürdig. „Hol mir lieber noch einen Lethe-Sixpack.“
„Er sagt immer so süße Sachen“, säuselte die Dame, deren Gesicht man die verzweifelten Versuche, die Schönheit zu bewahren, ablesen konnte. Noch ehe Odysseus sie ausquetschen konnte, stakste sie von dannen. Odysseus näherte sich daher dem verkannten Galan und hockte sich in gebührendem Abstand nieder.
„Gesegnete Grüße“, begann er mit größter Freundlichkeit.
„Behalt deinen Segen für dich“, erwiderte Paris ebenso höflich. „Meine Alte ist Segen genug für dreißig Jahre. Oder Jahrhunderte.“ Er blickte aus blutunterlaufenen Augen zu Odysseus auf. „Kannst du mir verraten, warum wir früher so ein Buhei um die Weiblichkeit gemacht haben?“ Odysseus schüttelte den Kopf. „Und neulich“, fuhr Paris fort, „war sogar einer wegen einer Frau hier unten! Kannst du dir das vorstellen?“ Odysseus fuhr mit Kopfschütteln fort. „Orpheus hieß er, irgend so ein Troubadour. Und ein hoffnungsloser Idiot.“ Paris spie aus. „Statt sich ein schönes Leben zu machen..“
„Paris, Liebling!“ Ein gewaltiger Schatten fiel über die beiden Männer. „Ich habe noch ein paar Schnittchen gefunden.“
„Dann stopf dir damit das Maul“, fuhr Paris sie liebevoll an. „Ich will keins von deinen Scheiß-Butterbroten!“
„Aber vielleicht unser Gast“, erwiderte die Dame distinguiert. „Wie ist überhaupt sein Name?“
„Weiß nicht. Ist mir auch egal. Hast du das Lethewasser?“
Gekränkt reichte die Dame ein paar braune Flaschen an ihren Partner, während sie sich um ein Lächeln für Odysseus bemühte. Dieser fühlte sich bedroht, beschloß aber dennoch, der Höflichkeit genüge zu tun.
„Mein Name ist Odysseus“, stellte er sich vor und klopfte sich den Dreck von den Knien. „Ehemaliger Seefahrer, Kriegsheld und König von Ithaka.“
„Helena von Troja, geschiedene von Sparta, angenehm“, erwiderte die Dame sichtlich erfreut.
Paris‘ Kopf war ruckartig aufgefahren, und er unterbrach sogar seinen Versuch, das kleine Holzpferd mit dem Boden seiner Flasche zu zerquetschen. „Odysseus von Ithaka?“, fragte er und musterte den Gast mit zusammengekniffenen Augen. „Kenne ich dich irgendwoher? Warst du mal in Troja?“
„Och, ich war schon so ziemlich überall“, gestand Odysseus. „Meist aber nur auf der Durchreise.“
„Hm.“ Paris schien angestrengt nachzudenken. Schließlich gab er es auf und bot Odysseus eine Flasche Lethewasser an, „um die verschissenen Knifften runterzuspülen, die meine Alte dir gleich aufs Auge drücken wird“, wie er sich ausdrückte.
Odysseus nahm geschmeichelt an. Wer behauptete denn da bloß, daß alte Menschen Probleme mit sozialen Kontakten hatten? Erfreut stieß er mit Paris an und ließ sich das kühle Naß die Kehle herabrinnen. Von der ganzen Rennerei war er reichlich durstig geworden.
„Also Odysseus heißt du“, wiederholte Paris und stieß mit ihm an. „Und was treibst du hier so?“
Odysseus wischte sich den Schaum aus dem Bart und mußte erst einen Moment überlegen. „Eigentlich mache ich Urlaub. Ja genau.“ Irritiert starrte er erst Paris, dann Helena und schließlich das zerbrochene Holzpferd im Schlamm an. „Soll ich dir beim Kleben helfen?“, bot er an. Dann blinzelte er verwirrt. „Wo war ich gleich noch mal?“
 
G

Gelöschtes Mitglied 4259

Gast
Hallo Andrea,

große Klasse, Dein Text! Eine gelungene Persiflage antiker Figuren und Mythen. Wie geht es weiter? -Es muß doch eine Fortsetzung geben, oder?

In der Hoffnung auf eine solche schickt liebe Grüße aus der

Oberwelt


Pen.
 



 
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