Oktoberwind

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Renee Hawk

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Oktoberwind


„Adrian hat gestern in der Schule einen Klassenkameraden verprügelt.“, erzählte mir Elke und ein ausführlicher Bericht über die Entstehung des blauen Fleckes an Adrians Ellenbogen folgte. Ich jedoch hörte kaum hin, meine Aufmerksamkeit galt der Vorbereitung meiner Hochzeit. Noch drei Wochen und ich würde vor dem Standesamt stehen und mit Salih gemeinsam ein neues Leben anfangen.
„Hast du dein Brautkleid noch?“, fragte ich Elke unvermittelt, wusste sie doch noch gar nichts von der Hochzeit, geschweige denn von Salih.
„Ja, warum?“
„Ich werde am 19. November heiraten.“ So, nun war es raus. Mein Herz pochte wie wild, ich war nervös und zitterte innerlich.
„Wen?“
„Meinen Freund.“
„Seit wann kennt ihr euch?“
„Ist das wichtig?“
„Nicht unbedingt. Warum hast du mir nichts von ihm erzählt?“
„Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich weil ich es selbst noch nicht begreifen kann.“
„Wie heißt er?“
„Salih, aber alle sagen Seggy oder Mohamed zu ihm.“
„Er ist Türke?“
‚Oh nein, nun kommt sie mir mit dem Scheiß, wenn ich ihr sage, dass er ein Marokk ist, wird sie bestimmt über mich herfallen und versuchen, mir die Hochzeit auszureden.’
„Nein, er ist Marokkaner und lebt schon sehr lange in Europa.“, warum habe ich jetzt gelogen, verflucht ich wollte Elke nicht anlügen und hab es doch getan.
„Wann lerne ich ihn kennen und was sagt Marlene dazu?“
„Morgen wirst du ihn kennen lernen, ok?! Und meine Mutter weiß nicht, dass ich einen Freund habe und sie weiß nicht, dass ich heiraten werde. Sie würde mir den Kopf abschlagen und mir es ausreden wollen, so wie damals, als ich mit Karl-Heinz verlobt war.“
„Aber das war doch was anderes, damals warst du noch zu jung ...,“ ich fiel ihr ins Wort und wurde dabei laut: „... zu jung? Ich war zu jung? Ich war erstens schon über achtzehn und zweiten in diesen scheiß Kerl verliebt und drittens war ich schwanger von ihm. Was also war der Grund?“, ich war wütend.
„Schrei mich nicht an. Ich kann nichts dafür.“, versuchte Elke in einem beruhigenden Ton mir zu erklären.
„Nein. Du nicht. Ich etwa?“, fragte ich ironisch.
„Frag Marlene.“
„Glaubst du wirklich, dass ich das nicht getan habe? Ich habe sie gefragt, ob sie mich wirklich vor die Tür gesetzt hätte, wenn ich das Kind bekommen hätte. Damals hatte ich nicht die Kraft zum Kampf, ich weiß nicht warum ich mich habe so unterdrücken lassen. Ich habe mein eigenes Kind getötet.“ Tränen brannten in meinen Augen. Ich war wieder an dem Punkt meines Lebens angekommen wo ich nicht wusste, ob ich das Richtige tat.
Elke reichte mir ein Taschentuch, steckte eine Zigarette an und reichte sie mir herüber.
„Hast du schon mal mit ihr darüber gesprochen?“, wollte sie wissen.
„Einmal ... sie hat abgeblockt. Es sei alles nicht so schlimm gewesen. Ich leide heute noch darunter, ich habe mein Kind getötet. Elke, du als Mutter von vier Kindern, sag mir was ich falsch gemacht habe.“
„Ich weiß es nicht. Ich kann dir das nicht sagen. Ich kann dir nur zuhören.“
„Als ich damals beim Frauenarzt war, da war ich zuerst allein in der Praxis, es war der Arzt meiner Mutter. Der Termin war schon recht früh, wenn ich mich recht daran erinnere. Als er mich dann untersuchte, fühlte ich mich wie ein Stück Fleisch. Ich weiß auch nicht, mir war nicht wohl. Dann musste ich mich wieder anziehen und im Wartezimmer Platz nehmen. Es dauerte lange, daran kann ich mich noch sehr gut erinnern. Ich malte mir aus, wie mein Bauch immer dicker wurde, wie ich das Kind in mir spürte und wie ich mein Kind später in meinem Arm halten werde. Das Ergebnis des Schwangerschaftstestes kannte ich nicht, und doch habe ich es insgeheim gewusst. Dann sah ich meine Mutter durch die Praxistür kommen. Sie lächelte nicht, ihr Gesicht war wie versteinert. Zielstrebig kam sie auf mich zu und sagte mir: ‚Wenn du schwanger sein solltest und du keine Abtreibung machen lässt, kannst du heute noch deine Koffer packen.’ Elke, ich hatte angst. Ich wusste nicht wohin.“
In der Zwischenzeit hatte ich die Zigarette bis zum Filter geraucht und drücke sie im überquellenden Aschenbecher aus. Elke schenke Kaffee in meine Tasse nach. Im Kinderzimmer konnten ich die Kinder hören, sie spielten wahrscheinlich mit ihren Autos und Adrian, der Älteste, versuchte in dem Chaos eine Struktur zu erkennen oder wenigstens seine Geschwister zu einem vernünftigen Spiel zu bringen.
„Warum bist du nicht ins Frauenhaus gegangen?“
„Frauenhaus, betreutes Wohnen, Familienfürsorge, Mutter und Kind-Heim, von all dem, Elke, hatte ich keine Ahnung. Ich war mit meinen achtzehn Jahren blind, naiv und ein Kind, das beginnt erwachsen zu werden. Ich habe bis dahin mit Leidenschaft Eishockey gespielt, habe mich gern mit Freunden getroffen, habe Partys gefeiert und habe mich amüsiert. Aber sexuell gesehen hatte ich null Erfahrungen gehabt. Ich weiß, ich bin ein Spätzünder. Mit achtzehn noch Jungfrau, das glaubt mir doch eh keiner.“
„Doch, ich glaube dir das. Du hattest einfach andere Prioritäten in deinem Leben. Dir war der Spaß in der Gruppe mehr Wert, du wolltest einfach Leben.“
„Ja schon, aber überleg mal, hatte ich einen Freund? Nein, hatte ich nicht. Hatte ich jemand, mit dem ich knutschen konnte? Nein, hatte ich auch nicht. Hatte ich jemals das Gefühl gehabt dass mich jemand liebt? Nein, das Gefühl habe ich heute noch nicht.“
„Und warum willst du nun heiraten?“, fragte mich Elke.
„Weil ich wahrscheinlich nicht allein sterben will. Ach, ist doch egal. Er will mich heiraten und das reicht mir schon.“, sagte ich bestimmend. „Hast du noch dein Brautkleid?“, fügte ich hinzu.
„Ja, wenn du willst, kannst du es anprobieren.“ Dann standen wir auf und gingen ins Schlafzimmer.


Reneè Hawk ©November 2001
 

Arkona

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Hallo Renee,

klingt fast genau wie die Geschichte einer Kollegin, deren 18-jährige Tochter vor Jahren schwanger wurde. Sie besorgte ihrer Tochter sofort einen Abtreibungstermin bei ihrer Frauenärztin, weil der Mann ( Opa in spe )von der Schwangerschaft nichts erfahren sollte. Für mich war das Verhalten dieser Kollegin schockierend. Nochzumal ich zu dieser Zeit insgeheim gehofft hatte, selbst bald Oma zu werden. Leider hat sich dieser Wunsch bis heute nicht erfüllt.
herzl. Grüße
 

Renee Hawk

Mitglied
Hallo Arkona,

es liegen nun viele Jahre (16) dazwischen und ich kann immer noch nicht verzeihen, wahrscheinlich werde ich es auch niemals können, denn für mich ist mein sehnlichster Wunsch (trotz allen der Medizin zur Verfügung stehenden Mitteln) nach eigenen Kindern nicht erfüllbar.
Doch wie sagt man so etwas seiner eigenen Mutter ohne es als Vorwurf klingen zu lassen?

Danke

liebe Grüße
Reneè
 

Tekky

Mitglied
Reneé,

ich habe meine eigenen Ansichten zu dem Thema, aber Dein Text zusammen mit Deinem Beitrag oben machen mich betroffen.

Lieber Gruß
 



 
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