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Regenbogen

Mitglied
Die dunklen Wälder rauschten, die Flüsse flüsterten leise vor sich hin.
Ein einsamer Adler zog langsam seine Unheil bringenden Kreise. Selbst der Mond zeigte nur sein schwarzes Gesicht und die letzten Sterne versteckten ihr Antlitz hinter großen, dunklen Wolken. Der Wind wurde leise und verstummte. Die Nacht war da.
Jetzt musste ich nicht mehr mein Gesicht verstecken, konnte endlich zeigen, wer ich war.
Ich schlüpfte aus meiner Fassade und lief in die Nacht hinein.
Der Geruch der Freiheit ließ mich schneller laufen. Die Kälte des Tages wich der Wärme der Nacht. Ich tauchte ein in die unendliche Dunkelheit, die mich mit offenen Armen empfing. Doch dann, ein großer Schatten schwang seine Flügel, nahm mich auf und trug mich fort in die tiefe, unendliche Weite. Immer höher stiegen wir, verließen Zeit und Raum. In der Ferne konnte ich das Ziel erkennen. Immer näher kam es und der süße Duft der Ewigkeit betörte meinen Verstand. Die Wärme, die dieses Licht ausstrahlte, lähmte jeden Gedanken, der nach dem letzten Rest der Vernunft zu greifen versuchte. Leises Flüstern, kaum zu hören, eigentlich ahnte ich mehr den Inhalt dieser Worte:
Komm hierher, und geh nicht fort,
bleib bei uns an diesem Ort.
Keine Qual und keine Schmerzen,
nie wieder gebrochene Herzen.
Schau nicht zurück,
dort gibt es kein Glück,
bei uns musst du bleiben,
in Ewigkeit treiben.
Nur zu gern ließ ich mich treiben, hinein in das Licht, dass Erfüllung und Frieden versprach. Nur einmal noch blickte ich zurück und sah die Dunkelheit aus der ich kam.
Ich wendete mich ab und hörte plötzlich den Ruf des Adlers. Noch einmal drehte ich mich um, um ihn ein letztes Mal zu sehen, doch nach was hielt ich Ausschau, wie sah er aus?
Verschwommen sah ich in Gedanken nur ein Paar Flügel, die Kreise vor der untergehenden Sonne zogen. Doch welche Farbe hatte diese, und was war eigentlich eine Sonne?
Was hatte mich überhaupt hierher gebracht und warum war ich hier?
Ich musste es wissen, es nur einmal noch sehen, bevor der letzte Rest der Erinnerung verschwinden würde. Ich riss mich los und überhörte den süßen Klang des Friedens und machte mich auf den Weg zurück. Durch tiefe, unendliche Weiten gelangte ich dort hin. Doch der Adler war nicht mehr da.
An der Stelle, an der meine Fassade lag, fand ich eine schwarze Feder. Ich hob sie auf und blickte gen Himmel. Die Wolken zogen vorbei, und in weiter Ferne kündigte sich, mit sanften Glanz, der neue Tag an. Die Dunkelheit war fort, die Chance vertan, und ich zog wieder die alte Fassade an.
 
W

willow

Gast
Hoppentosse, Regenbogen!

Das ist ein Gemälde, wundervolle Bilder zeichnest du. Das Gedicht in der Erzählung hat es mir am meisten angetan, ich habe es mir immer und immer wieder durchgelesen.

Diese dunkle Nacht, unmaskiert und schutzlos und nur dann tritt man aus Schatten um zu sein und macht eine Erfahrung. Welcher Art... das bleibt dem Leser überlassen. Das gefällt mir sehr gut. Die Nacht als warm zu erfahren, den Tag im Kontrast dazu als kühl, das ist ungewöhnlich interessant.

Allerdings bin ich immer wieder an der gleichen Stelle hängengeblieben:

"An der Stelle, an der meine Fassade lag, fand ich eine schwarze Feder. Ich hob sie auf und blickte gen Himmel. Die Wolken zogen vorbei, und in weiter Ferne kündigte sich, mit sanften Glanz, der neue Tag an. Die Dunkelheit war fort, die Chance vertan, und ich zog wieder die alte Fassade an."

Der erste Satz zeichnet mir ein Bild von einer zerstörten oder verschwundenen Fassade. Dort, wo sie früher gestanden hatte, war nun nur noch eine Feder vorzufinden. Ich war erstaunt, als dann im letzten Satz die Fassade doch noch steht.

Mit den hoppentossigsten Wünschen für einen wertvollen Tag,

willow
 

Regenbogen

Mitglied
Hoppentossiges Danke

Freut mich, das dir die Geschichte gefallen hat, willow.
Mit der Fassade meinte ich das, was jeder Mensch für sich als Schutzmantel aufgebaut hat, was er anderen von sich zeigt. Nicht jeder ist mit dieser selbstgewählten Art zu leben glücklich, aber mancher findet keinen Weg zu zeigen, wie er wirklich ist. In dem Moment, als die Figur meiner Geschichte die Möglichkeit hatte, ihr Leben zu ändern, nahm sie die Feder als Hinweis, das alte Leben fortzusetzen.
Vielleicht hätte ich besser : Neben der Stelle... geschrieben.

LG
 



 
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