Ophelia.

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San Martin

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Ophelia

Im Haar ein Nest von jungen Wasserratten,
so treibt sie auf der Oker stumm dahin;
die Weiden hüllen sie in dichten Schatten,
in schwarzem Samt, wie eine Königin.

Am Tage lauscht sie in die große Stille,
die sich im Innern mit dem Tod vermischt;
dann schwimmt ein Funke in ihrer Pupille,
bevor er in der Ewigkeit erlischt.

Nur manchmal glaubt sie einen Mann zur Buße
auf Knien am andern Uferrand zu sehn;
sie höbe gern den Arm zum scheuen Gruße,
doch kann sie ihren Leib nicht zu ihm drehn.

Sie schläft des Nachts in einem Bett aus Schweigen,
bedeckt von Laub und bleichem Sternenlicht;
voll Mitleid will der Mond sich zu ihr neigen,
denn Gott vergisst allmählich ihr Gesicht.


04. 09. 2004

***

Dieses Gedicht ist eine Homage an Subway to Sally, Georg Heym und Bertolt Brecht. Und das kam so: Subway to Sallys Gitarrenspieler und Textschreiber Bodenski hat das Lied "Die Rose im Wasser" geschrieben, dessen Text sich hier findet: http://www.darklyrics.com/lyrics/subwaytosally/hochzeit.html#2
Der Text ist eine Homage an Georg Heyms Gedicht "Ophelia", dessen Text es hier gibt: http://ingeb.org/Lieder/imhaarei.html
Beide beginnen mit "Im Haar ein Nest von jungen Wasserratten", und so beginnt auch mein Gedicht mit dieser Zeile. Es passt übrigens rhythmisch zum Subway to Sally-Lied; man könnte es also als Alternativtext mitsingen.

Letztlich kommt die Verbindung zu Brecht durch die letzte Zeile zustande. Vergleiche Brechts Bild von Gottes Vergessen in seinem "Vom ertrunkenen Mädchen": http://deutsch.agonia.net/index.php/poetry/55530/

Sowohl Brechts Bild als auch Heyms und Bodenskis Gedichte finde ich genial, und aus diesem Grunde habe ich mit diesem Gedicht etwas geschrieben, was "dazwischen" passt. Ich hoffe, es sagt jetzt keiner, dass ich mir Ideen zusammen gestohlen habe. :(

PS: Es gibt da einen netten Artikel zu "Die Wasserleichenpoesie des Expressionismus" an dieser Stelle: http://www.phil.uni-erlangen.de/~p2gerlw/express/expres3.html
 

Montgelas

Mitglied
lieber san martin,


ich weiß nicht ob rimbaud diese verse schon als sehender schrieb ?
sein engagement für die pariser kommune, was in der regel, denkt man an seine dichtung kaum erwähnung findet, schlägt sich auch in seiner „ophelie“nieder.
und wagt man den vergleich ophelie=paris,
dann nimmt der „erleuchtete kommunarde“
rimbaud in den zeilen -

Von Liebe träumtest du, von Freiheit, Seligkeit;
du gingst in ihnen auf wie leichter Schnee im Feuer.
Dein Wort erwürgten deiner Träume Ungeheuer.
Dein blaues Auge löschte die Unendlichkeit.


Nun sagt der Dichter, daß im Schoß der Nacht du bleich
die Blumen, die du pflücktest, suchst, in deine Schleier
gehüllt, dahinziehst auf dem dunklen, stillen Weiher,
im Schein der Sterne, einer großen Lilie gleich.
(übers. Klammer) –


die niederlage der kommune vorweg.

der aktuelle bezug war für die leser
der damaligen zeit sicher sofort erkennbar.
wir heutigen, die geschichtliches denken als oral-history im wesentlichen (siehe guido knopp) vermittelt bekommen, erkennen höchstens noch einen romantische themenlinie, die vor allem durch den teil des dt. expressionismus repräsentiert wird, dessen aufschrei sich eher narzisstisch an der „kalten person“ orientiert. bei trakl spürt man noch eine ahnung, bei brecht wird auf soziales verwiesen, bei benn ist enthistorisierung und entindividualisierung dann schon programm, und tönt als l’art pour l’art durchaus faszinierend durch den raum.

deine in der oker, nahe braunschweig,
schwimmende ophelia hat als wasserleiche wieder ein gesicht.
als leser freut man sich über die vollkommenheit
der verse, der bilder und ärgert sich über die rückkehr
eines motives, das auch bei dir nur im individuellen wurzelt.

hermeneutisch in deine zeilen versenkt,
bewundere ich hier die perfektion,
die inhalt und form sehr gut verschränken.
der literarische rückgriff ist spielend gelungen.

steige ich aber aus dieser sicht aus,
dann ist mir „ophelie“= paris näher.
das blut der kommunarden, dass die
seine rot färbte und das rimbaud entsetzte.

danke für deine verse
und gutes gelingen weiterhin

wünscht

montgelas
 

Montgelas

Mitglied
lieber san martin,

noch ein nachtrag zu rimbaud:

Welch Träumen, arme Irre, von Liebe! Freiheit! Himmel!
Du schmolzest für ihn hin wie Schnee, den Feuer taut,
Gewaltige Visionen erstickten deine Stimme
– Unendliches erschreckte deiner Augen Blau!

Und der Dichter sagt, dass, wenn die Sterne strahlen,
Kommst du nachts zu suchen die Blumen, die du brachst,
Und dass auf dem Wasser, in langen Schleiern schlafend,
Bleich wie eine große Lilie treibt Ophelia.


übersetzung eric boerner

diese übersetzung ist näher an meinen gedanken,
als die von klammer. den ganzen text findest du hier:

http://www.leselupe.de/lw/showthread.php?threadid=59567&pagenumber=23

gute tage an der oker

montgelas
 

San Martin

Mitglied
Ironischerweise, nach all den Informationen über Rimbaud, die ich nun erfahren habe: mein Gedicht schrieb ich in völliger Unkenntnis der Tatsache, dass es Rimbaud war, der als erster das Ophelia-motiv in die Dichtung eingeführt hat. Ich kannte, als ich das Gedicht letztes Jahr schrieb, tatsächlich nur Heyms und Brechts Versionen (und natürlich die von Subway to Sally). Das empfinde ich nun als schade, weil ich über die Breite der Thematik erst im Nachhinein erfahre.

Danke für dein Lob, Montgelas. Wenn ich dich recht gelesen habe, kritisierst du die Individualität Ophelias bei mir. Dazu kann ich nur entgegnen, dass ich dabei sehr wenig an Shakespeares Ophelia dachte, sondern an ein archetypisches Mädchen. Sehe ich mir heute das Gedicht an, vermisse ich etwas in der Aussage; so ist es eine ästethisierte Momentaufnahme einer auf der Oker (eingefügtes Lokalkolorit aufgrund meines Umzuges nach Braunschweig) treibenden Frau. Vielleicht versuche ich mich ein anderes Mal an einer neuen Version, in der ich das Thema variiere.

Martin
 

Montgelas

Mitglied
lieber san martin,

mir ist ein schnitzer unterlaufen !

ich habe heym mit trakl verwechselt,
muss wohl am gemeinsamen
vornamen gelegen haben ;).

heym hatte die ahnungen, nicht trakl, sorry ;)!!

auf eine neue variante der "wasserleiche"
bin ich jetzt schon gespannt !


herzlich

montgelas
 
E

Edgar Wibeau

Gast
Eine beeindruckende Klickliste hast Du da zusammengestellt, erspart sie einem doch die Mühe, selbst darauf kommen zu müssen, woher man das Ganze schon kennt. Irgendwie verlockt sie mich aber nicht, mich auf den Text einzulassen, ihn zu erforschen, zu sezieren.
Bräche man ihn auf wie die Brust jenes Mädchens, das zu lange im Schilf gelegen hatte, worauf stieße man? Auf noch ein Nest junger Ratten? Würfe man sie allesamt ins Wasser? -Ach, wie die kleinen Schnauzen quietschten!
Gelungen erscheint mir in jedem Fall die Erwähnung der Oker: ein nettes heimatdichterisches Element von überraschender Eigenständigkeit.

Gruß

EW
 

San Martin

Mitglied
Freut mich, dass es dir in Teilen gefällt, Edgar. Die "Klickliste" fand ich als Referenz nötig, denn erst im Zusammenhang mit den Vorgängern ergibt sich das ganze Bild. Zumal ich es ein wenig plagiatistisch (Adjektiv zu Plagiat?) gefunden hätte, wenn ich die Quellen für die 1. Zeile und das Gedichtthema nicht sofort genannt hätte.
 

San Martin

Mitglied
Danke für die Aufklärung: dem Ausgang des Martins aus seiner selbst verschuldeten Unwissenheit. Dass ich mich zum Thema Plagiat nicht auskenne, finde ich gar nicht so schlecht. ;)
 



 
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