Ordnung muß sein

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Ein ruhiger Samstagvormittag, ich sitze am Frühstückstisch, blättere gelangweilt in der Zeitung. Aber jedesmal, wenn ich mich nach vorne beuge, um die Kaffeetasse zu packen, wackelt der Stuhl. Nicht heftig oder gar gefährlich, mitnichten. Nur ein kleines Schaukeln ist spürbar, hervorgerufen von einer seit seiner Fertigstellung bestehenden Ungleichheit der Stuhlbeinlängen. Immerhin, es reicht aus, den Kaffee kräftig überschwappen zu lassen.
Ich lese die Wochenendausgabe zu Ende, verteile dabei noch einige Male mehr oder weniger geschickt jede Menge des schwarzen Muntermachers gleichmäßig über den Tisch. Und über meine Hosen. Dennoch will es mir einfach nicht gelingen, die Stuhlbeine durch regelmäßiges monotones Wippen auf gleiche Höhe zu bringen. Mir bleibt keine Wahl: Ich werde den Stuhl wohl oder übel in Ordnung bringen müssen. Jetzt oder nie! Meine Frau liegt mir diesbezüglich seit Wochen in den Ohren.
Mit einer weit ausholenden Armbewegung räume ich das Geschirr beiseite. Eine Tasse vermag sich der Schwerkraft nicht zu widersetzen und zerschellt mit einem provokativen Klingeln kopfüber auf den Küchebodenfliesen, was mich wiederum veranlaßt, den Stuhl –kopfüber - auf den Tisch zu stellen. Mitten in die Kaffeetunke. Das spielt jetzt auch keine Rolle mehr. Gemächlich schlendere ich zum Schuhschränkchen hinüber.
In dessen oberer Schublade befindet sich das Werkzeug für den Hausgebrauch. Überaus vorsichtig, wie ein Dieb in der Nacht, ziehe ich an der Lade, denn seit einiger Zeit ist sie in einer Art Selbstauflösung begriffen. Ist eben auch nicht mehr die Jüngste. Mit der linken Hand halte ich die eine Seitenwand fest, während meine rechte behutsam den Zollstock ertastet. Ebenso vorsichtig drücken meine Finger die altersschwache Schublade wieder zu. Ich werde mich morgen drum kümmern.
Oder übermorgen. Der Anblick des umgedrehten Sitzmöbels in der Küche ruft bei meiner Rückkehr Erinnerungen an Hausputz wach. Gräßlich. Oder an Kneipenbesuche nach der Sperrstunde. Diesen Zustand gilt es möglichst rasch zu beenden.
Ein Nachmessen der vier Stuhlbeine zeitigt ein erstaunliches Resultat: Drei davon sind exakt 40 Zentimeter lang, das vierte nur 39,5. Was wäre da zu tun? Daran zu ziehen dürfte nicht übermäßig viel bringen. Ich müßte am kurzen Bein einen halben Zentimeter anleimen. Oder anschrauben. Tackern?
Andererseits könnte ich in die eigenwillige Kreativität des Möbelschreiners eingreifen und die drei langen Stuhlbeine um einen halben Zentimeter kürzen, was zur Folge hätte: Alle vier wären dann 39,5 cm lang. Das würde bedeuten, eine Säge müßte her! Wo finde ich eine Säge? In der Garage! Eine kleine steckt auch in der Lade des Schuhschrankes, diese jedoch möchte ich aus oben genannten Gründen nicht überstrapazieren. Nur wenn es unbedingt nötig ist. Sonst fällt sie mir doch noch auseinander.
Das Garagentor verliert allmählich seine ohnehin matte Farbe, die dadurch entstandenen Flecken sehen aus wie schmutzige Lachen, wie unförmige, große Pfützen. Das Schloß klemmt ein wenig, schon seit langem wollte ich etwas Öl hinein pumpen, weiß aber nicht wo. Irgendwie bekomme ich es schließlich auf, ziehe das knarrende Tor unendlich langsam in die Höhe – eine der beiden Rahmenbefestigungen ist ein bißchen lose – und betrete die Garage.
Werkzeug habe ich genug, von aller feinster Qualität. Alles in unserem Baumarkt um die Ecke erstanden. Für alle Fälle. Fein säuberlich an der Werkzeugtafel aufgehängt. Hammer neben Hammer, jede Menge Schraubenschlüssel, Schraubenzieher, Sägen und hundert andere Dinge. Unter größter Sorgfalt nehme ich eine Säge von der Werkzeugtafel. Dieses hölzerne Wandbrett mit seinen zahllosen Haken wurde von mir eigenhändig dort befestigt. Es ist unglaublich schwer, sitzt aber ein wenig locker.
Mit der Säge unterm Arm mache ich mich auf den Rückweg, werfe dem Werkzeugbrett einen bangen Blick zu – es hängt noch. Im Zeitlupentempo wird die Garage wieder geschlossen, alles bleibt heil. Gott sei Dank!
Zurück in der Küche, frage ich mich, wie ich zu Werke gehen soll. Die Werkbank mit dem Schraubstock befindet sich nämlich auch in der Garage, dort könnte ich die Holzbeine einspannen, um sie abzusägen. Dazu jedoch müßte ich das baufällige Garagentor wieder öffnen, aber genau das gilt es zu vermeiden. Ich werde es vielleicht irgendwann in der nächsten Woche reparieren. Ergo setze ich mich auf den anderen Küchenstuhl, der nicht wackelt, klemme mir das erste Stuhlbein zwischen die Knie, und setze die Säge an.
Pedanten hätten jetzt mit Bleistift, Zirkeln und anderem geometrischem Gerät akkurat großartige Linien gezogen, ich brauche das nicht. Ich besitze ein exzellentes Augenmaß, bei mir geht das fix. Nach kurzem Sägen liegt ein rundes Stückchen Holz fein säuberlich zwischen den Splittern der Kaffeetasse am Küchenboden. Etwas später zwei weitere.
Der Stuhl wird umgedreht und von mir nicht ohne Stolz in seine ursprüngliche Lage gebracht. Ein erstes Probesitzen zeigt eines deutlich: So wie vorher wackelt er längst nicht mehr. Zuvor hatte es nämlich zwei Himmelsrichtungen gegeben, nach denen er bewegt werden konnte. Nun sind es deren drei! Ein eifriges Nachmessen ergibt: Zwei der Beine haben über einen Zentimeter eingebüßt, das dritte mehr als 2. Das vierte ist nach wie vor 40 cm lang. Mir scheint, ich habe versehentlich das ohnehin zu kurze Stuhlbein abgesägt. Bei mir geht so was fix, wie gesagt. Also noch einmal das ganze.
Nach einer guten Stunde betrachte ich zufrieden mein Werk. Der Boden ist übersäht mit hellen Spänen, alle Beine sind exakt gleich; aber nur noch halb so lang wie zu Beginn.
Wie ein Schleier legt sich ein Déjà vu über mein Haupt, unangenehm werde ich an letzte Weihnachten erinnert. Heiligabend hatte mich meine Gattin nämlich gebeten, den Baum herzurichten, was ich mit Freuden getan habe. Ich bin ein leidenschaftlicher Heimwerker, wie man unschwer am Ergebnis zu meinen Füßen erkennen kann. Hätte ich ansonsten diese unglaubliche Werkzeugstaffelei in meiner Garage? Säße ich sonst voller Tatendrang hier in der Küche?
Der Christbaumgigant also, der mich um mehr als einen Meter überragte, weigerte sich seinerzeit standhaft, in den Christbaumständer zu passen, und mit Axt und scharfen Messern bewaffnet rückte ich dem renitenten Nadelgewächs zu Leibe. Weil ich jedoch mit der Axt nicht richtig ausholen konnte, ohne das Aquarium zu gefährden, nahm ich ein Messer, um einen dieser dichtstehenden widerspenstigen dicken Äste am unteren Ende des Baumes abzuschneiden.
Dabei muß ich wohl mit der Klinge irgendwie abgerutscht sein. Denn unversehens lagen neben dem dicken Tannenzweig noch einige seiner weiter oben postierten dünneren ‚Kollegen’ am Boden. Dieses Manöver zwang mich, um der Symmetrie willen, weitere Äste abzuschneiden - mit vergleichbarem Resultat. Kurz darauf sah der Baum aus, als hätte eine Wildsau eine Bresche hineingefressen. Am Ende meiner Bemühungen, als mir die Nordische Edel-Bonsai-Tanne nur noch bis knapp unter die Kniekehlen reichte, durfte ich losziehen, den letzten Weihnachtsbaum zu ergattern, der in der Stadt noch feilgeboten wurde. Er kostete nicht viel, erweckte aber trotzdem den traurigen Eindruck, mehrfach überbezahlt zu sein.
Nun stehe ich in der Küche, betrachte nachdenklich den Stuhl und philosophiere über den Sinn der Weihnacht. Für einen Fußschemel ist dieser Stuhl eindeutig zu hoch, zudem stört die Lehne. Aber noch bin ich nicht mit ihm fertig. Nach einer weiteren halben Stunde habe ich es geschafft. Er schaukelt definitiv nicht mehr! Auch die letzten Reste der störenden Beine sind mehr oder weniger entfernt worden.
In diesem Moment kommt mir meine Frau in den Sinn. Was wird sie wohl zu diesem Stuhl sagen, den fraglos die Moderne geküßt hat? Der nun nicht mehr wackelt, und an dem nur noch Sitz und Lehne daran erinnern, welchem Zwecke er einst gedient. Aber ich denke auch an Paul.
Paul ist unser Nachbar und meiner Gattin gegenüber äußerst hilfsbereit. Äußerst! Er ist ein Hans Dampf in allen Gassen. Für ihn wäre dieser Stuhl hier kein Problem gewesen. Aber in letzter Zeit wirft er meiner Frau so seltsame, so vielsagende Blicke zu. Für meinen Geschmack ein wenig zu vielsagend! Gut gebaut sei er, hat meine Frau geschwärmt. Neulich standen die beiden beieinander und flüsterten. Soll ich ihn anrufen? Wegen einer solchen Lappalie? Den kümmerlichen Rest des Stuhles im Augenwinkel schreite ich zum Telefon.
„Paul? Ja, ich bin’s. Du, bei - uns - wackelt ein Stuhl. Könntest Du mal rüberkommen?“
Paul hat selbst jede Menge im Garten zu tun, erklärt sich jedoch sofort bereit, mir – uns - zu Hilfe zu eilen. Bevor er eintrifft, entferne ich vorsorglich die Holzreste vom Küchenboden zusammen mit den Sägespänen. Und die Tasse, die gewesene. Es braucht schließlich nicht gleich jeder zu sehen, wie konsequent ich arbeite.
Wenige Minuten später kracht es draußen auf der Treppe verdächtig. Holz splittert, jemand heult herzzerreißend auf. Offenbar ist Paul durch die dritte Stufen gebrochen. Die ist morsch und wartet seit Jahren sehnsuchtsvoll darauf, von mir ausgetauscht zu werden. Ich hätte Paul warnen sollen. Meine Frau und ich sind Leichtgewichte. Uns tragen die Stufen locker. Wenn aber ein schwerer Mensch darauf tritt, wie z. B. der gutgebaute Paul, kann es durchaus passieren, daß sie etwas nachgeben. Und Paul ist ziemlich schwer ... Hoffentlich hat er sich nicht zu sehr verletzt, ich bräuchte ihn nämlich noch.
Schließlich erscheint unser Nachbar in der Küche, reibt sich heftig das linke Schienbein unter seiner bunten Carohose und sieht sogleich, was hier vorgefallen ist. Ein süffisantes Lächeln umspielt seine Lippen, während er sich unsicher umschaut. Sucht wohl die Dame des Hauses, die aber ist gar nicht anwesend. Sie ist beim Friseur; das enthalte ich ihm vor. Und das ist ganz gut so! Es fehlte noch, daß die beiden hier turteln. Unter meinen Augen.
Meine Hand zeigt auf die Rudimente des Stuhles, und Paul schüttelt ungläubig den Kopf.
„Wie hast du denn das angestellt?“ will er wissen.
Na, wie man so etwas eben anstellt, wenn man zwei linke Hände hat. Und mit beiden gleichzeitig sägt. Paul benötigt lediglich etwas Rundholz, sagt er, um daraus vier neue Beine zu fertigen. Rundholz habe ich genügend im Keller.
„Hast du Werkzeug hier?“ fragt er mich.
„Ja. Im Schuhschränkchen“, rutscht es mir heraus.
Schon steht er am Schränkchen, zieht an der Lade, und ehe ich ihn warnen kann, liegt sie samt Inhalt zerborsten am Boden, den Griff hält Paul noch in der Hand. Als er meinen düsteren Blick bemerkt, sagt er:
„Das ist überhaupt kein Problem. Das mache ich sofort wieder heil!“
Bevor ich mit meiner Erklärung aufwarten kann, ist er aus der Tür, um nach wenigen Augenblicken wieder hier zu erscheinen. Herein schleppt er Holzleim, ein paar Schrauben und eine Schraubzwinge. Unter meinen staunenden Augen entsteht in Windeseile eine fast neue Schublade, professionell geleimt und mit der Zwinge zusammengepreßt. Ich bin beinahe sprachlos.
„Weiß du, Paul“, sage ich, „das wäre nicht nötig gewesen. Die alte Schublade ...“
Aber er winkt nur großmütig ab und erklärt mir, daß er das, was er kaputt macht, auch wieder in Ordnung bringt. Ich empfinde das als eine überaus noble Geste.
Im Keller suche ich die Rundhölzer, schleppe sie hinauf und lege sie auf den Küchentisch. Paul ist verschwunden. Da vernehme ich ohrenbetäubendes Hämmern. Es kommt von draußen und hört sich an, als würde jemand in größter Eile unser Haus abreißen. Auf Zehenspitzen schleiche ich zum Fenster und sehe, daß ich mit meiner Vermutung nicht ganz Unrecht habe. Paul macht sich an den Stiegen zu schaffen. Offenbar hat er vorhin gleich die passenden Bretter mitgebracht. Es dauert nicht lange, und die Stufe, die er zertreten hat, ist wieder fabrikneu. Die oberste, die nur wenig wackelte, hat er auch gleich repariert.
„Hast du einen Schraubstock“, fragt er, als er mit schweißnasser Stirn wieder in der Küche steht und die Rundhölzer beäugt.
„Habe ich“, antworte ich. „In der Garage!“
Wahrscheinlich ist es mit dem Schraubstock doch erheblich einfacher, denke ich, grapsche mir die Ersatzteile und laufe zur Tür hinaus in Richtung Garage. Paul trägt Säge und Leim.
Eben will ich die Holzteile vor der Garagentür auf den Boden legen, um dieselbe vorsichtig zu öffnen, da hat Paul den Garagentürgriff schon in der Hand. Ein kräftiger Ruck - Paul ist unglaublich stark - das Tor öffnet sich ratternd, fällt aus dem Rahmen und ihm mit viel Getöse entgegen, mir bleibt gerade noch die Zeit mich in Sicherheit zu bringen. Etwas ratlos stemmt sich mein hilfsbereiter Nachbar gegen das entfesselte Garagentor und schüttelt den Kopf.
„Heute habe ich aber ein kräftiges Händchen“, murmelt er zerknirscht, und läßt das schwere Tor auf die Einfahrt sinken.
Zuerst betrachtet er sich den Schaden, den er angerichtet hat, danach mein betretenes Gesicht, und ist schon wieder auf dem Heimweg. Ein wenig hilflos stehe ich vor der torlosen Garage, die mir wie ein kolossaler Rachen entgegengähnt.
An der linken Außenwand lehnt die alte Holzleiter. Vielleicht sollte ich sie entfernen, sie ist nicht mehr ganz zuverlässig. Dazu müßte ich aber die Rundhölzer aus den Händen legen und mich bücken ... Also laß ich die Leiter stehen. Es braucht ja niemand draufsteigen.
Wenig später kommt Paul mit schwerem Gerät zurück in unsere Garage, bohrt Löcher in die Wände, steckt mächtige Dübel hinein, schlägt mit einem Hammer alles gerade, was ihm krumm erscheint. Ich stehe staunend daneben, halte während der ganzen Zeit über die Hölzer und die Reste des Stuhls in meinen Händen. Das bewahrt mich davor, mit anpacken zu müssen. Nach einer knappen Stunde ist das Tor montiert, Paul öffnet und schließt es einige Male zur Probe, ist mit sich zufrieden und schiebt es schließlich ganz nach oben. Es sieht toll aus, trotz seiner Rostflecken.
Gemeinsam betreten wir die Garage, endlich kann ich die Teile auf die Werkbank legen. Paul schickt einen fachmännischen Blick auf das von mir selbst angebrachte und schwarz gestrichene hölzerne Brett, wo chromblitzendes Arbeitsgerät auf ihn wartet. Was sucht er denn jetzt?
„Hast du keinen Zollstock?“ fragt er, und eine Spur von Ungeduld scheint seine Stimme zu leiten.
„Doch!“
Der Zollstock liegt in der Küche; mit seiner Hilfe habe ich zuvor erfolgreich die original Stuhlbeine auf gleiches Maß gebracht ... Ich mache kehrt, laufe ins Haus, finde ihn auf dem Tisch, greife ihn und sehe mich noch einmal prüfend um. Es wirkt ziemlich aufgeräumt hier. Als ob nie ein Durcheinander geherrscht hätte. Damit will ich keineswegs andeuten, ich hätte etwas gegen Unordnung.
Als ich eine Minute später wieder in der Garage eintreffe, ist Paul gerade dabei, die hölzerne Werkzeugtafel wieder an die Garagenwand zu dübeln. Ein Teil des Werkzeugs liegt auf der Werkbank, der Rest hat sich gleichmäßig auf dem Boden ausgebreitet. Welch herrliches Tohuwabohu! Es scheint, als hätte sich das gesamte Werkzeug gegen ihn verschworen.
Als er meinen offenen Mund sieht, entschuldigt sich der gutgebaute Paul gleich mehrmals dafür, daß er heute so ungeschickt ist und mehr zerstört als repariert. Beim Versuch, eine Feile vom Werkzeugbrett zu nehmen, sei die ganze Chose von der Wand gefallen. Was für ihn jedoch kein Problem bedeutet. Und in der Tat, nach wenigen Minuten sitzt das Brett so fest an der Garagenwand, daß ich ernsthaft grüble, wie ich es jemals wieder losbekommen soll. Diesmal helfe ich ein wenig mit, die Utensilien zurück an die dafür vorgesehenen Haken zu hängen.
Endlich können wir, das heißt - kann Paul - beginnen, sich dem Stuhl zu widmen. Er spannt das erste Rundholz, aus dem mal ein Stuhlbein werden soll, in den Schraubstock ein, zieht ihn fest und greift nach dem Zollstock.
Ein leises Knacken deutet an, daß der Schraubstock die längste Zeit an der Werkbank befestigt war. Langsam neigt er sich in Richtung Garagenboden, Paul läßt den Zollstock fallen, kann den Schraubstock gerade noch auffangen und auf die Werkbank legen. Dabei zerreißt er sich seine schicke Carohose bis hinunter zum Knie, unter dem Stoff erscheint ein strammer Oberschenkel. Meine Frau hatte Recht: Er ist wirklich gut gebaut.
Der arme Paul ist maßlos erschrocken. Ich weniger; ich kenne den Zustand meiner Werkbank. Dennoch rolle ich traurig mit den Augen.
„Durch die ständigen Wassertropfen vom lecken Garagendach ist sie wohl etwas -aufgeweicht“, führe ich ins Feld.
„Das Dach leckt?“ fragt Paul.
Er läßt mich stehen, und bevor ich einschreiten kann, ist er aus der Garage und klettert die Leiter empor. Erwartungsvoll spitze ich die Ohren.
Es vergehen keine fünf Sekunden, als es auch schon entsetzlich kracht. Dem Geräusch nach dürfte es die fünfte oder vielleicht die sechste Sprosse gewesen sein, die Pauls Ungestüm nicht standzuhalten vermochte. Kurz darauf erscheint er hinkend vor der Garage, links und rechts je einen Leiterholm in Händen. Es sieht aus, als trüge er zwei riesige Kämme, bei denen die meisten Zinken ausgebrochen sind.
Mit der Sprosse hatte ich recht behalten. Es war die fünfte. Gesenkten Hauptes starre ich ihn an. Paul wischt sich heimlich die Nase, offenbar hat er sich bei diesem unfreiwilligen Abstieg dieselbe gestoßen. Diesmal nimmt er die Leiter mit zu sich nach Hause. Mit bleibt wieder nur zu warten.
Nach erstaunlich kurzer Zeit ist Paul zurück, trägt neben der Leiter jetzt noch die rote Nase im Gesicht, anstelle seines überlegenen Lächelns. Und andere Hosen. Die Leiter sieht aus wie neu, ist robust und hält jetzt mit Sicherheit jedes Gewicht aus. Paul stellt sie an ihre alte Stelle. Ich betrachte mir seine Nase. Sie blutet ein wenig. Ergo mache ich mich auf den Weg, ihm ein Taschentuch zu holen, während er aufs Garagendach klettert. Anscheinend läßt ihm dieses belanglose Leck dort keine Ruhe.
Als ich zurückkehre, ist Paul nicht auf dem Dach. Er wird doch nicht nach Hause gegangen sein? Um Dachdeckerutensilien zu holen?
Aber mitnichten. Paul liegt auf der Werkbank, auf dem Rücken, wie ein Käfer, direkt neben dem Schraubstock. Es ist ein schöner, schwerer, gußeiserner Schraubstock, neben dem Paul da liegt, und den er vor kurzem vor dem Absturz gerettet hat; von mir eigenhändig blau angestrichen. Im Garagendach, direkt über Paul, klafft ein riesiges Loch. Die Sonne lacht hindurch; sieht schick aus. Paul lacht nicht, stattdessen flucht er leise. Es ist das erstemal, daß ich Paul fluchen höre.
Ein wenig umständlich und ziemlich fassungslos krabbelt Paul von der maroden Werkbank und postiert sich davor. Seine Entschuldigungen wollen nicht abreißen. Er läßt mir noch nicht einmal die Zeit erschrocken dreinzuschauen. Zum wiederholten Male versichert er mir, alle Dinge wieder in Ordnung zu bringen, die er zerstört. Es hat den Anschein, als glaube er, ich sei der Ansicht, er hätte das alles mit Absicht getan. Meiner Frau zuliebe. Aber nicht doch! Wie könnte er nur so niederträchtig von mir denken?
Erneut ist Paul unterwegs. Er selbst ist bestens ausgestattet. Paul ist Schreiner von Beruf, hat zu Hause seine Werkstatt und ist im Handumdrehen zurück. Mitgebracht hat er jede Menge Holz, gutes hartes Holz. Es riecht richtig frisch, als ob es noch lebendig wäre.
Und sogleich macht er sich an die Arbeit, die alte Werkbank zu renovieren. Er sägt, bohrt, hobelt und schraubt, von mir nicht ohne Neid beobachtet. Im Geiste fasse ich tüchtig mit an. Nur im Geiste! Und der Werbeslogan eines schwedischen Möbelkonzerns kommt mir in den Sinn: „Wohnst du schon, oder schraubst du noch?“
Als Paul mit Werkbank und Schraubstock fertig ist, schaut er auf die Uhr und hält den Kopf ganz schräg.
„Es ist schon so spät“, sagt er schließlich, „ich muß noch dringend zu einem Kunden. Sein Dach ist undicht. Hab’s versprochen.“
Dabei wirft er einen verstohlenen Blick durchs Garagendach gen Himmel. Niemand hat dafür mehr Verständnis als ich. Auch meine Garage leckt jetzt etwas intensiver.
„Ja, klar. Wenn du weg mußt, mußt du weg“, stammle ich ein wenig wehmütig.
„Ich komme natürlich morgen vorbei“, sagt er. „Dann repariere ich das Garagendach. Und den Stuhl. Abgemacht?“
Abgemacht. Paul sucht seine Siebensachen zusammen und ist verschwunden, bevor ich mich für seine Hilfe bedanken kann. Aber was heiß hier eigentlich bedanken? Schließlich hat er dieses ganze Chaos verursacht! Hätte sich eben etwas vorsehen sollen, der Gutgebaute. Wenn er schon mit meiner Frau flirtet. Hoffentlich erscheint er morgen pünktlich, um den Schaden zu reparieren.
Da er, wie er mir versichert hat, was er kaputt macht, auch wieder in Ordnung bringt, werde ich mir in der Zwischenzeit überlegen müssen, was in unserem Haus noch alles einer Renovierung bedarf. Der Rasenmäher stottert verdächtig. Und der Kühlschrank, glaube ich, macht auch seit geraumer Zeit merkwürdige Geräusche...
Wenn ich meine Frau mit einspanne, dann denke ich, müßte es uns doch leicht gelingen, Paul noch für den einen oder anderen Schaden verantwortlich zu machen. Inzwischen werde ich mir ein paar neue verzweifelte Gesichtsausdrücke zurechtlegen.
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Francesco, vielleicht kannst Du diese ellenlange Geschichte straffen, sonst schläft man ein, besonders zu Beginn. Das ist schade, denn später wird sie besser.
:)

Es wäre auch schön, wenn Du Dich mal zu Deinen Werken äußern würdest.

LG Doc
 

Hagen

Mitglied
Hallo Francesco,

das war ja wohl eine gelungene Story!
Etwas, was mir auch laufend passiert.
Mehrmals und vor allen Dingen gerne gelesen.
Ich hoffe, wir bekommen mehr davon!

Viele liebe Grüße
yours Hagen

_________________
egal was schief geht,
tue so als wäre es Absicht!
 

molly

Mitglied
Hallo Francesco Lupo,

auch ich habe Deine Geschichte sehr gern gelesen. Ein Heimwerker muss sich einfach nur zu helfen wissen, und sei es nur das Wissen, dass der Nachbar ein gutgebauter, stämmiger Kerl ist.

Viele Grüße

molly
 

Maribu

Mitglied
Ordnung muss sein

Hallo Francesco Lupo,

Über deinen Text konnte ich schmunzeln!
Ich würde ihn auch - wie "doc" bereits vorgeschlagen hat -
kürzen. Die ersten "Unfälle" wirken noch ziemlich witzig, später erwartet man es und auch der Schluss ist vorhersehbar.

Die Idee ist allerdings originell mit dem Nachbarn, der nicht nur Schreiner, sondern ein "Allrounder" ist. Trotzdem fehlt ihm eine Schraube im Gehirn, dass er so naiv ist. Deshalb hätte ich diesen Text in "Humor und Satire" eingestellt.

Es ist sogar zum bestbewerteten Werk aus 2 Wochen aufgestiegen.
Dass hast du in erster Linie einem Leser oder einer Leserin zu verdanken, die dafür 10 Punkte vergeben hat. Aufgeschlüsselt heißt das: "Für mich zählt der Text zu den besten, die ich jemals gelesen habe".
Ohne dir zu nahe treten zu wollen: Da wird jemand den falschen Bewertungsbalken angeklickt haben. Wenn nicht, ist das wohl die erste Kurzgeschichte, die gelesen wurde!
L.G. Maribu
 
D

Dominik Klama

Gast
Ich zitiere mal einfach irgendwo:
Andererseits könnte ich in die eigenwillige Kreativität des Möbelschreiners eingreifen und die drei langen Stuhlbeine um einen halben Zentimeter kürzen, was zur Folge hätte: Alle vier wären dann 39,5 cm lang. Das würde bedeuten, eine Säge müßte her! Wo finde ich eine Säge? In der Garage! Eine kleine steckt auch in der Lade des Schuhschrankes, diese jedoch möchte ich aus oben genannten Gründen nicht überstrapazieren. Nur wenn es unbedingt nötig ist. Sonst fällt sie mir doch noch auseinander.
Für was genau werden hier 9 und 10 erteilt? Oder sind das deine privaten Freunde, dann kann ich es ja verstehen. Oder gibt's jetzt 9 und 10, sobald ein Text keinerlei Rechtschreib-, Tipp-, Zeichensetzung- und Grammatikfehler aufweist?

Ansonsten ist das doch wohl - und eben auch die zitierte Sequenz - aber doch wirklich alles durch und durch - gezogen wie Kaugummi und also langweilig und also: schlecht!
 
A

aligaga

Gast
Mir ist aufgefallen, dass kaum einer der in Literaturforen angemeldeten User ein "Leser" im eigentlichen Sinne ist. Den meisten fehlt ganz offenbar die Zeit und die Geduld, die erforderlich sind, Texte so aufzunehmen und auf sich wirken zu lassen, dass die literarische Seele Nahrung hätte.

Mag sein, dass auch der eigene Ehrgeiz im Weg steht und jene Türchen zu fest verschlossen hält, durch die ein fremder Gedanke ins Innere des Rezipienten finden könnte.

Die gegenständliche Geschichte ist nach Art und Umfang ein Klassiker. Sie hat keinen wirklichen Verlauf und keine echte Schlusspointe, sondern lebt aus der Situationskomik, die immer wieder neu entsteht und die vom Autor hier trockenen Stils durchaus gekonnt erzeugt wird. Wer mit Till Eulenspiegel, Pat und Patachon oder Karl Valentin etwas anzufangen weiß, kann sich durchaus an dieser Geschichte ergötzen, wobei sie sich nur für den "wie Kaugummi zieht", der an den (für den Fortgang der Story wichtigen!) Details nicht interessiert ist und sie in der Hoffnung überfliegt, es fände sich am Ende doch noch die übliche Leiche im Keller. Dass er enttäuscht wird, ist dann aber wirklich nur sein Problem.

Das man einem Autor den Erfolg missgönnt und der Überzeugung ist, eine Ehrung erfolgte ganz und gar unberechtigt, ist im Literaturbetrieb physiologisch. Pathologisch wird's erst, wenn die Schelte öffentlich erhoben wird und sogar jenem Vetterleswirtschaft unterstellt wird, der Kraft seines zurückgezogenen Forendaseins gar keine Vettern haben kann - wie ebendieser mysteriöse "Lupo".

Bleib also mal lieber locker, Dominik, und lerne, wie man anderen etwas gönnt, auch wenn man zutiefst davon überzeugt ist, dass er's nicht verdient habe. Stell dir vor, "Lupo" wäre noch ein ganz junger Mensch, der trotzdem schon so gut schreiben kann und über den du nun herfällst, als hätte er etwas angestellt.

Er muss sich aber keiner Schuld bewusst sein. Sein Text hat eine Reihe von Usern berührt. Mich auch. Ich hatte die alten Schwarzweißfilme vor mir. Damit kein Missverständnis aufkommt: Ich benote nie, denn von diesem System halte ich nichts.

Gruß

aligaga
 
D

Dominik Klama

Gast
Der Befund, dass die meisten Mitglieder lieber eigene Texte einstellen und zuschauen, wie die von irgendjemand gut gefunden werden, als viele Texte möglichst vieler und unterschiedlicher anderer Autoren, auch lange, zu lesen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen, trifft auf sämtliche Texterforen im Internet zu, die mir bisher bekannt sind. Hier gilt es aber auf die Klickzahl anonymer Gastleser zu achten, von denen es anscheinend gerade für die LL mehr gibt als für die meisten anderen Foren. Diese Leser melden sich allerdings niemals zu Wort, man kann also nicht wissen, was sie beim Lesen gedacht haben.

Ich beharre: Nur mal die paar Zeilen sehr genau lesen, die ich kopiert habe. Von der Mikrostruktur zur Makrostruktur des Textorganismus. Ich sage nach wie vor: Eine langweilige Erzählung über eine langweilige Frage, man hätte das sowohl kürzer wie auch ansprechender gestalten können. (Oder einfach komplett weglassen und irgendwo in die raffenden Sätze einfließen lassen, durch die man vier, fünf Absätze der Geschichte ersetzt.)

Ich selbst habe über Jahre hinweg nach allen möglichen von mir entwickelten Zufallsprinzipien Texte aus der gesamten Geschichte der LL ausgewählt, auch die längsten davon gelesen und sehr viele sehr intensiv kommentiert. Spuren sind in meinem Werkverzeichnis genug zu finden. Bis es mir eines Tages einfach zu dumm wurde. Die geballte Ladung eines betulichen Mittelmaßes ließ mich nach dem "richtigen" Buch verlangen, für dessen Lektüre meine Lebenszeit ja ebenso eingegrenzt ist wie für die von LL-Arbeiten. Da lese ich nun einen "Verdacht" von Dürrenmatt vor einem "F" von Daniel Kehlmann nach einem "Versuch über den geglückten Tag" von Peter Handke - und ich würde diese Bücher alle hart kritisieren, denn wirklich gefallen hat mir kein einziges davon, aber eines steht nun mal fest: Sie lohnen sich viel mehr als 333 LL-Texte, die ich zwischen 2008 und 2012 gelesen habe. (Dies besagt keineswegs, dass meine eigenen Texte besser wären, denn auch diese lese ich zur Zeit ja keineswegs und ich verlange auch von überhaupt niemanden, er solle das mal tun.)

Der Hinweis auf die literarischen Gehversuche junger männlicher Debütanten, denen ich mich sympathetisch annähern könnte, verfängt nicht im Geringsten, da ich so ein Leser und Rezensent niemals gewesen bin. Auch das lässt sich sehr wohl überprüfen in der Liste meiner Antworten. Bzw, du müsstest schon Monate suchen, bevor du mir eine Stelle zeigen könntest, wo ich einem möglicherweise attraktiven jungen Autor irgendwie schön getan hätte.

Wer der mysteriöse aligaga ist, interessiert mich nicht die Bohne. Aber sein Wohnort scheint sich von dem der Herren Paul Schubert Jake und Val Sidal nicht besonders weit entfernt zu befinden.
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
@aligaga:
Den meisten fehlt ganz offenbar die Zeit und die Geduld, die erforderlich sind, Texte so aufzunehmen und auf sich wirken zu lassen, dass die literarische Seele Nahrung hätte.
Die meisten haben offenbar noch ein anderes Leben neben der LL...

;)
 



 
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