Outing

Nighel

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1

Er hatte lange am Fenster gestanden und versucht, jeden Gedanken aus seinem Kopf zu verbannen. Die Augen waren gerötet und seine Wunden schmerzten. Die Zigarette in seiner Hand hatte er vergessen zu Ende zu rauchen und die Glut begann nun schwarze Flecken in seine Haut zu brennen. Obwohl er erst Anfang dreißig war, hatte sich Falte für Falte in engen Furchen auf seine Stirn gelegt. Schwere Schatten lagen auf dem Gesicht, spielten in roten, braunen und schwarzen Farben und drückten die Augen weit in das Innere des Kopfes. Seine Frisur war kurz und gepflegt, die Haare lagen unwirklich geometrisch nebeneinander und spiegelten in einem warmen roten Ton das Licht der Neonröhre wider. Der Oberkörper zwängte sich in ein enges T-Shirt, dessen Kragen in einen breiten Schmutzrand getaucht war und an mehreren Stellen rote Flecken getrockneten Blutes aufwies.

In gleichmäßigem Abstand wurde die Stille im Zimmer vom Motorengeräusch der Frachtflugzeuge zerschnitten und die leere Bierdose auf dem Schreibtisch in einen zittrigen Tanz gezwungen. Nur schwer drängte sich das Licht der Scheinwerfer, das den Weg der Maschinen am Himmel vorzeichnete, durch die verschlossenen Fensterläden. Obwohl das Heulen der schubgepeinigten Turbinen ihn, seit er hier wohnte, mit monotonem Zeittakt jede Nacht begleitete, schlug es ihm doch jedesmal wieder ins Bewußtsein und raubte ihm die Konzentration.

Langsam und mit präziser Gleichmäßigkeit ließ seine rechte Hand die Bierdose gegen den Rand der Tischplatte gleiten, bis sie kippte und auf den Boden fiel.

Das Dunkel des Raumes verlor sich erst im angrenzenden Flur. In diesem Licht zeichnete sich die Schrankwand des Zimmers ab, deren Regale ebenso wie die beiden Sessel und der Couchtisch aus imitiertem Nußbaumfurnier mit Büchern überfüllt war. Der Boden war übersät mit Zeitschriften und Papier.

An der Außenwand des Schrankes lehnte das in Ölfarben gemalte Portrait einer alt gewordenen Frau, eingewickelt in eine durchsichtige Folie und überladen mit Staub. Durch das Plastik schimmerten Primärfarben und ließen den expressionistischen Charakter des Bildes erahnen. Der Rahmen war aus schwerem dunklen Holz und drückte auf das dargestellte Gesicht.

Im Flur, der durch eine schwache Lampe beleuchtet wurde, die direkt unter der Decke befestigt war und deren Milchglas mit toten Insektenkörpern gefüllt war, hing eine mit Konzertkarten, Zeitungsartikeln und Notizzetteln zum Bersten bespickte Pinnwand.

Die Wohnung war ausgesprochen klein und durch die große Anzahl ungeordnet im Raum verteilter Gegenstände wirkte sie umso beengender. Entlang der Mitte des Raumes und der Länge des Flures nach schien die Unordnung am Boden einen schmalen Weg frei zu lassen. Er war ihn unzählige Male gegangen, hatte ganze Nächte geopfert, um die kurze Strecke auf und abzuschreiten. Anfangs hatte er diese Zeiten mit Lektüre verbracht, hatte sich selbst laut Romane und Stücke vorgelesen, hatte während des Hin- und Hergehens Rollen gespielt, Gedichte gelesen. Mit auferlegter Disziplin hatte er Teile auswendig gelernt und sich immer wieder vorgesagt, um sie in sich hineinzusaugen. Auf die Arbeit, zu seinen Freunden, hatte er sie getragen, hatte an Tresen bis zur Sperrstunde Fremde damit irritiert. Dann wurden die Teile immer kleiner und seine Ausführungen immer unverständlicher, bis er schließlich Monate mit einem einzigen Satz verbrachte, den er in endlosen Reden zerpflügte und beackerte. Draußen wurde er nun gemieden und er begann damit seine Reden zuhause zu halten, indem er sich die Gesprächspartner ausdachte. Erst waren es nur Monologe, kurz unterbrochen von einzelnen Fragen, dann aber lernte er, sich ganze Diskussionsabende auszudenken, in denen er unter den wohlwollenden Ohren seiner Visionen Standpunkte erklärte, verteidigte und wieder verwarf. Diese Phasen langer und intensiver Beschäftigung mit Literatur wechselten sich mit Zeiten ab, in denen er jeden Kontakt zu Büchern vermied. Dann zwang er die Zeit durch Ablenkung voran, lernte Schacheröffnungen, versuchte sich an verschiedenen Musikinstrumenten, durchsuchte in seinem Keller den an gehäuften elektronischen Schrott nach Teilen, die es ihm wert und sich selbst herausfordernd genug erschienen, sie wieder in Gang zu setzen. Alle diese Teile vereinten sich auf seinem Schreibtisch zu einem abstrakten Gewirr, mit dem er sich nachts an fremde Rechner anschloß, nach Stunden die Sekunde des Einbruchs genoß, sich durch die Dateienbäume langweilte, bis er erschöpft die Verbindung abbrach.

Er begann sich wieder zu bewegen. Mit einer Art wie Verwunderung betrachtete er die linke Hand, in der die vergessene Zigarette tiefe Spuren hinterlassen hatte. Langsam führte er die Schultern nach vorne, um die Verschiebungen der Narben seines Rückens gegeneinander zu genießen. Er drehte sein Gesicht in Richtung des Flures, an dessen Ende sich eine kleine abgetrennte Kochnische befand. Schneller als gewöhnlich brachte er die kurze Strecke hinter sich und entnahm dem Kühlschrank, der durch das an gehäufte Eis um die Kühl flächen schwer und laut atmete, eine weitere Dose Bier. Seine Augen fanden auf dem Kühlschrank ein Päckchen Tabak und so ließ er sich langsam an der Wand zum Boden gleiten und begann damit, eine Zigarette zu drehen. Er beschloß, die Dose bis auf einen kleinen Rest in einem Zug auszutrinken, um sie als Aschenbecher verwenden zu können.

Im schwerelosen Dunst des Zigarettenrauches fand er etwas Ruhe. Sein inneres Auge begann in die Dunkelheit ein Bild der Erinnerung zu zeichnen. Da waren die langen, braunen Haare, die sich gegen den Spot der Deckenbeleuchtung abhoben. Da war die feine, helle Haut mit den weichen Zügen des Gesichtes. Da war die Hand, die mit gelenktem Spiel der Finger eine Sträne hinter das Ohr zurückzwang. Da waren die beiden Ringe und der ein gelassene Stein, der den Kampf gegen das harte Licht aufnahm und siegte. Doch dort, wo die Vision Form und Gestalt, wo sie Person werden wollte, verlor sie sich in Unschärfe. Es fehlte der Erinnerung die laute Musik von damals, das Stimmengewirr der Gespräche. In stummer Ruhe lag sie da.

Er war eingeschlafen. Die Stimme des Radiosprechers zersägte sein Hirn und brachte ihm die Orientierung zurück. Auf dem Boden breitete eine Bierlache ihre bizarre Form aus. Mit einem ihrer Ausläufer hatte sie ein Jandl Buch zu greifen bekommen und den unteren Teil durchtränkt. Der Rauch war unter der Decke zur Ruhe gekommen und teilte die Luft des Raumes in zwei Charaktere. Er hatte nun aufzustehen und lenkte seine Bewegungen sorgfältig, um den Schmerz zu minimieren.

Sein Körper brannte. Vor Wochen hatte er damit begonnen, Schnitte in sein Fleisch zu führen. Erst war es ihm als Spiel erschienen. Mit einer scharfen Rasierklinge hatte er vorsichtig die Haut seines linken Unterarms geöffnet. Er wunderte sich über die ihm zu lange erscheinende Zeit, die der harmlose Schmerz brauchte, bis er sich zu seinem Bewußtsein durchgearbeitet hatte. Er beobachtete die Wunde, betrachtete den winzigen Tropfen Blutes, der sich am Ende der geöffneten Haut nach außen preßte. Geduldig hatte er gewartet, bis die Gerinnung die Wunde wieder verschloß. Immer öfter griff er zur Klinge, verteilte die Schnitte auf seinem ganzen Körper. Vorsichtig begann er damit, die frisch verschlossenen Stellen wieder zu öffnen und zu erweitern. Er hatte die Klinge durch eine dickere Nadel ersetzen müssen, um die Arbeit voranzutreiben. So waren aus den kleinen Verletzungen der Haut große Krater geworden, deren Rand sich gehoben hatte, um nach innen den dunkelroten Wänden entlang tief in den Körper hineinzugleiten.

Er ging zum Schreibtisch. Mit einer leichten Bewegung gegen die Tischplatte beendete er die Arbeit des Screenschoners. Er ließ sich die eingetroffene Post auflisten und aktivierte den Filter, mit dem er über Schlüsselwörter die Reklameschreiben aussortierte. Belustigt verfolgte er das Spiel des Bildschirms, auf dem sich die große Menge an Bezeichnern verkleinerte, bis ein letztes Schreiben übrig blieb, dessen Absender neben der Net-Adresse in Klartext seinen eigenen Nachnamen trug. Langsam zog er mit der Maus den Brief in den Trashcan.

Er beeilte sich beim Duschen, um mehr Zeit zu gewinnen, seinem Körper Pflege zukommen zu lassen. Sorgsam ölte er ihn ein, verband allzu große Wunden mit Mull. Er trocknete sein Haar und legte es in Form. Dann lackierte er die Fingernägel. Dem Schrank entnahm er einen der frisch gereinigt dort hängenden Anzüge, befreite ihn vom Nylonschutz, nahm ebenso ein frisch gesteiftes Oberhemd und kleidete sich an. Noch einmal polierte er seine Schuhe, bevor er sie anzog.

Draußen empfing ihn die Dunkelheit. Die Kälte biß in die weichen Teile hinter seinen Schläfen. Er atmete tief ein. Der Morgen hatte noch nicht begonnen und doch spürte er, daß der Tag die Kälte nicht verlieren würde. Diese Gewißheit echote in seinem Inneren in einer konzentrierten Ruhe.

2

Das neue Jahr verlängerte seine Tage und führte unbarmherzig das Licht durch die engen Ritzen der Rolladen vor den Fenstern der Wohnung. Er betrachtete diesen Vorgang wie jedes mal mit Besorgnis. Das warme Licht der Sonne, die Summe der unzähligen Farbanteile, die sich an den wenigen grün Flecken der Erde brachen, einen Teil des Spektrums abstriff, um einem seiner Farbtöne den Vorzug zu geben, erschien ihm als ein Sinnbild jener Anarchie, die er sich aus seinem Körper herausgeschnitten hatte.

Er zwang sich selbst zur Beschäftigung mit dem Buch, das nun schon seit geraumer Zeit ohne Beachtung auf seinen Beinen lag. Er hatte sich die Literatur zur Gewohnheit gemacht, ja sie war ihm zur Sucht geworden. Er spürte den einfachen Fluchtweg in dieser Hingabe, sie schenkte ihm neue Welten, nicht in Bildern gemalte, aber abstrakte Gedankenwelten, die ihn gefangen nahmen und seine Zeit aufsaugten, daß es ihm gefiel.

Aber es gelang ihm die Ruhe nicht.

Er fand sich auf der Straße wieder und begriff, was er tat. Mit langsamen Schritten schlenderte er in Richtung des Flughafens. Die Luft war erfrischend und der Kerosinanteil war auf der Zunge kaum zu schmecken. Die Sonne wärmte die Haut, er mußte seine Augen vor der ungewohnten Intensität schützend zusammenkneifen. In einiger Entfernung lagen die Betongebäude, die das Flugfeld begrenzten, und er beschäftigte sich eine zeitlang damit, die in grellen Farben gesprühten Graflities zu betrachten, während er voranschritt. Ein etwa zwei Kilometer breiter Grünstreifen trennte den Flugplatz von der Steppenlandschaft des unbewohnten Teiles der Gegend. Hier endete sein Spaziergang vorläufig. Er setzte sich auf das leicht feuchte Gras und fand nun die Ruhe, die ihm zuhause nicht gelingen wollte. Er begann zu lesen, zum erstenmal las er im natürlichen Licht des Tages. Zuweilen hielt er inne und führte seinen Blick über die kahle Landschaft, die der Boden der Wälder gewesen war, die der Autor des Buches mit jener Nebensächlichkeit beschrieb, die der Mensch sich im Umgang mit dem Alltäglichen erlaubte. Er wußte von den antiquierten Startrampen auf Kontinent Drei, die man in Erinnerung der ersten Kontakte des Menschen nut den Welten außerhalb des Erdballs stehen gelassen hatte. Es gab mehrere Relikte der Vergangenheit, die man überleben gelassen hatte. Die Erde war von ihren Fehlern befreit. Die Luft hatte einen definierten Sauerstoffgehalt, durch gen technische Adaption waren die in ihr enthaltenen Schadstoffe nun ungefährlich. Der Wechsel der Jahreszeiten und das tägliche Wetter waren linearisiert. Trotzdem glaubte er, es wäre besser gewesen, einen dieser Wälder stehen zu lassen und das Risiko des Unkalkulierbaren zu tragen. Eine kleine Gruppe schwarzer Kolkraben tummelte sich um die ölgetränkten Pfützen des FIugfeldes. Sie schienen den Beton der angrenzenden Grasnarbe vorzuziehen.

Einmal bemerkte er in der Ferne eine Familie beim Ausflug. Die beiden Kinder waren in ständiger Bewegung, liefen vor und wieder zurück. Sie hatten Stöcke in der Hand, mit denen sie die höher gewachsenen Graspflanzen ermordeten. Ihre Eltern aber waren jung geblieben. Sie sprachen viel und mit dem ganzen Körper, unterbrochen durch herzliches Lachen. Sie hielten sich an den Händen, um sich alsbald wieder zu lösen und in den Arm zu nehmen. Dann aber blieben sie stehen um sich zu küssen.

Er erinnerte sich plötzlich der lauten Musik und des Stimmengewirrs in jener Kneipe damals. Er sah die weißen Hände, die zarten Finger mit geometrischem Nagelbett, eine Zigarette haltend und geschmückt mit zwei Ringen. Ein Lächeln schien er sich erarbeitet zu haben. Sehnsucht befiel ihn und er hielt dieses Gefühl für die Lust zu trinken. Eine Viertelstunde später war er wieder zuhause. Er beschloß, die Dose in einem Zug auszutrinken und nur einen kleinen Rest zu lassen, um sie als Aschenbecher verwenden zu können.

3

Er war die ganze Nacht durchgefahren. Obwohl die Heizung des Wagens nicht funktionierte und die Kälte der Nacht den Innenraum ausfüllte, schwitzte er am ganzen Körper.

Sein Hemd klebte ihm am Rücken. Der Aschenbecher war überfüllt. Er hatte ihn schon mehrmals in der Nacht mit den Fingern entleert. Der Boden der Beifahrerseite war übersät mit zerdrückten Filtern und silbrig glänzender Asche. Schon zu Beginn der Fahrt hatte er die Lüftungsklappen geschlossen, sodaß im engen Raum schwerer Rauch lag, der sich zusammen mit der Feuchte der Luft als schmieriger Film an den Fenstern absetzte. Draußen regnete es in Strömen, die Wischer leisteten Schwerstarbeit. Die Scheiben des Wagens waren beschlagen und er kam nicht umhin, in regelmäßigem Abstand eine Sichtlücke in die Windschutzscheibe zu putzen. Auf dem Beifahrersitz lag eine ungeöffnete Packung Kekse, die er an der ersten Tankstelle, an der er halten mußte, mehr aus Gewohnheit zusätzlich zu den Zigaretten gekauft hatte.

Die Sichtschirme des Armaturenbrettes waren auf dunklen Hintergrund geschaltet. Vor Jahren hatte er sich den Spaß gegönnt, die Codierung zu ersetzen, sodaß die Screens mit technischen Daten über den Momentanzustand des Fahrzeugs überladen waren. Er warf einen kurzen Blick über die Zahlen, las Innen- und Außentemperatur, die sich zur Zeit um weniger als ein Grad unterschieden, Füllstand und Druck der Bremsanlage, Kerntemperatur der Antriebsbatterie. Im linken Anzeigefeld sah er die Landkarte und den blinkenden Punkt, der ihm den Aufenthaltsort zeigte. Er war seinem Ziel schon nahe.

Die Scheinwerfer der entgegenkommenden Fahrzeuge tauchten sein Gesicht für wenige Sekunden in einen hellen Blau ton. Das Licht empfand er als Wärme. Da war einiges durcheinander geraten.

Die Straße verlief gerade und langweilig. Das Steuern des Wagens kostete ihn nicht viel seiner Konzentration. Er dachte an die Begriffe, die sich so stark in seine Welt gedrängt hatten, dachte an Leben, Tod, die Liebe. Es waren Worte, die er als sterile abstrakte Konstrukte kennengelernt hatte und die ihm heute wie das Leben selbst vorkamen. Tag für Tag hatten sie sich mehr in Fleisch verwandelt. Sie hatten ihn aus seiner Konzeption herausgebracht und er hatte sie dafür gehaßt. Er hatte versucht, sie definierend zu fassen und sie so in die Abstraktion zurückzuschicken, doch sie waren immer wieder gekommen. All seine Sinne spielten dieser Metamorphose zu. Er erinnerte sich an einen Roman, den er vor Jahren gelesen hatte. Ein Mann hatte aus für ihn völlig unersichtlichen Gründen einen Mord begangen und plötzlich begann die Vergangenheit ihre Bedeutung zu verändern. Jeder einzelne Teil des Lebens dieses Mannes verlor seinen kausalen Zusammenhang, hatte erst zwei, dann viele Bedeutungen, bis sich alle in Bedeutungslosigkeit vereinten. Der R<> man hatte die Semantik seiner Sinnesorgane verwandelt. Aus Instrumenten zur Erfassung der Umweltbedingungen außerhalb des eigenen Körpers waren trügerische, eigenständige Wesen geworden. Kreatives Denken wurde zu Phantasie. Er konnte sich Dinge vorstellen, die offensichtlich unmöglich waren. Das Absurde heftete sich an seine Fersen und verfolgte ihn. Er begann zu trinken.

Kurz vor Paris hatte er die Autobahn verlassen. Es war spät in der Nacht und draußen ein gewöhnlicher Wochentag, sodaß nicht viel Verkehr in der Stadt zu erwarten war. Der Weg ins Innere der Metropole kam ihm nervenzerreibend lang vor. Er vertrieb sich die Zeit mit einem Gedankenexperiment. Würde man den Fixpunkt eines Koordinatensystems in den Mittelpunkt seines Fahrzeugs legen, so würde die Bahn der Erde, relativ zu diesem Bezugspunkt, einen hektischen, wild springenden Verlauf nehmen, dessen einfache Berechenbarkeit man dem Linienvektor nicht mehr ansehen würde. Die kleinen Zacken der Kurve würde man als überlagertes Rauschen interpretieren. Er selbst spürte weder die Hektik noch die rasende Geschwindigkeit, mit der sich die Erde bewegte. Ruhig, träge zog die in warmes rotes Licht getauchte Notre Dame an ihm vorüber.

Die hohe Leistung des Fahrzeugmotors erlaubte es ihm, seinen Fahrstil zu verschlechtern. Er nahm die Umgebung nicht mehr war. Erst als er sich auf einem der großen Strahlen des Sterns befand, dessen Zentrum der Grund für den Umweg war, zu dem er sich entschlossen hatte, drosselte er die Geschwindigkeit. Als er im Kreisverkehr den Polizeiwagen entdeckte, ließ die Erinnerung ein Lächeln in sein Gesicht fließen und machte es weich. Er beschloß, einmal den Arc de Triomphe zu umrunden, bevor er in Richtung Küste weiterfahren würde. Er spürte sein hartes Herz, hart geworden durch den Kampf gegen die übrigen Organe in seinem Torso.

Die Motortemperatur stieg leicht an, das beunruhigte ihn etwas. Es wollte ihm nicht gelingen, das Faktum zu verdrängen, ausgerechnet jetzt, wo ihm so wenig Zeit blieb. Es war völlig irrelevant, er war nur noch wenige Kilometer von der Küste entfernt, fast hätte er zu Fuß weitergehen können. Dennoch durchbrach er immer wieder die Schärfe seiner Gedanken mit einem Blick auf die Armatur. Es blieb ihm nichts anderes übrig als die komplette Instrumentierung durch einen kräftigen Zug von der Stromversorgung zu trennen.

Er parkte auf dem gleichen Platz, auf dem ihn damals seine Fahrer abgesetzt hatten. Der Regen trommelte auf die Karosserie. Er verließ den Wagen und kämpfte sich gegen den stürmigen Wind zu den Felsen und zum Meer. Sein Gesicht war naß. Das Wasser verband sich auf seiner Haut mit dem getrockneten Schweiß und schmeckte salzig auf der Zunge. Es war der Geschmack des Meeres, das ihm, am Rande der Klippen, tief unter sich ein Schauspiel seiner Gewalten bot. Die Wellen waren hoch und zersprangen in weißem Schaum am Stein, schlugen, mißhandelten ihn. Der Regen durchdrang seine Lederjacke und er spürte die Nässe auf seinem Oberkörper als erotische Berührung der Natur. Durch leichte Bewegungen schaffte er Hohlräume zwischen seiner Haut und der Kleidung. Er genoß das zarte Streicheln der Tropfen, die, der Schwerkraft folgend, eine Linie auf seinem Körper zogen. Am Horizont begann mit einem feinen silbrigen Streifen der Tag sein Leben und drückte kraftvoll die Dunkelheit der Nacht vor sich her. Er hatte sich nicht getäuscht. Es war alles so, wie er es vermutet hatte. Da war wieder die Gegensätzlichkeit der Begriffe, die ihn seit langem in ihren Fesseln hielten. Da waren die toten Dinge, das Wasser, der Felsen, das Licht der fernen Sonne, und ihr Zusammenspiel war Fleisch, war Leben. Hier mußten auch die bedeutungsschwersten Begriffe sich mit der Absurdität der Welt vereinen und ihn aus ihrem Gefängnis entlassen. Hier vereinten sich Tod und Leben zum Nichts, Chemie und Geist zum Individuum.

Er begann, das Atmen bewußt auszuführen. Er spürte die gleichmäßigen Bewegungen seiner Lungenflügel und er hatte das Gefühl, sein Herz würde sich in der gleichen Rhythmik auf und ab bewegen, als kämpfte es noch immer. Er blickte über das Meer und beobachtete das Farbenspiel, das sich aus dem Ringen der Lichter an der Grenze des anbrechenden Tages zur Nacht entwickelte. Die ganze Kraft seiner Sinne benutzte er, um das ihm dargebotene Schauspiel in sich hineinzusaugen. Das Wasser, die Brandung, die Felsen, das Licht mit seinen Farben, wurde Teil seiner selbst und er genoß es. Und er genoß auch die Leichtigkeit seines Standes am Rande des Felsens, die Bewegung der unter seinem Gewicht ins Rollen geratenen Geröllsteine.

Die Tageszeitungen waren dankbar, über den Unfall eines Androiden, der in der letzten Nacht von den Klippen in der Nähe eines kleinen Dorf bei Royan gestürzt war, berichten zu können. Das Ereignis bedeutete, sieht man einmal von konzeptionellen Aspekten ab, auch einen herben finanziellen Verlust.
 



 
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