Paket ohne Absender

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Danny

Mitglied
Paket ohne Absender

Jeannie wirft mir keinen Blick zu, wenn ich sie durch die Fensterscheibe hindurch beobachte. Men Atem beschlägt die Scheiben, ich lecke ein kleines Guckloch frei. Sie hüpft mit ihrem braunen Kapuzenmantel und ihrer baumelnden Schultasche vorüber. Ich gehe zurück in mein Zimmer. Vorbei an das Schlafzimmer meines Vaters, der bis zwölf Uhr mittags hinauszögert, aufzustehen, sich von einer Seite zur anderen wälzt, sich in den Schlaf schnarcht. Die Tür zu seinem Zimmer steht immer offen. Seine Schnapsfahne verbreitet sich in der ganzen Wohnung. Seit Mutter von uns abgehauen ist, habe ich ihn keinen Tag mehr nüchtern gesehen. Nur einmal, als ich meine Lehre als Friedhofsgärtner an den Nagel gehängt habe, alles hinschmiss, die halb zu Ende gesteckten Kränze, die Tulpenzwiebeln, die auf ihr Bett aus Blumenerde warteten, die unfertigen Trockengestecke. Ich hasste den Geruch von Erde und ewigem Frühling und scheißte auf den Job und das mickrige Lehrgeld. Ich wollte Lehrer werden und an Jeannies Schule unterrichten. Mein Vater hat an diesem Tag nur ein kleines Glas Brandwein getrunken und seinen besten Anzug angezogen. Sein ungewaschenes Haar trug er gescheitelt. Es war das erste Mal, seit Mutter uns verlassen hatte, das er unter die Leute ging. Fast erkannte ich ihn draußen nicht. Sein gestreckter Körper machte ihn schlanker. Ich kannte nur den Mann vor dem Fernseher, in Unterhemd und mit einer Zigarette im Mundwinkel.
Der Gärtnereibesitzer warf uns aus dem Laden. Er könne Bettler nicht leiden. Seit diesem Tag bin ich arbeitslos. Wie mein Vater. Wir stehen morgens nicht aus unseren Betten auf. Nur zum Pinkeln und wenn Jeannie morgens zur Schule geht.

In unserem Mietshaus wohnen nur wenige Mädchen. Jeanie wohnt im vierten Stock mit richtigen Eltern und einem Bruder. Am Wochenende setzt sich die ganze Familie in ihren Caravan, und ich überlege, wo sie wohl hinfahren. In die Berge oder ins Museum. Ihre Eltern sehen gebildet aus. Vater meint, ich könne nie Lehrer werden, dazu sei ich zu blöd. Ich habe auf meinem Abschlußzeugnis eine Fünf in Mathe und eine Vier in Deutsch. Gebildete Berufe kämen für mich nicht in Frage. Aber das Land brauche solche Hohlköpfe wie mich. Von den Intellektuellen allein können wir nicht leben. Die wissen nicht, wie man Brötchen backt oder die miefenden Container in einem Müllwagen entleert. Müllmänner seien mehr wert als Professoren, sagt Vater.

Um zwölf Uhr Mittags fällt Vater aus seinem Bett. Manchmal fällt er auch nachts und schläft auf dem Boden weiter.
Am Nachmittag, als die Kinder schreiend von der Schule nach Hause rennen, schläft er noch immer. Es klingelt an unserer Tür. Der Postbote. Ein Paket für Vater, ohne Absender. Ich bringe es ihm, betrachte es von allen Seiten. Vater liegt stocksteif auf dem Boden. Seitenlage. Speichel läuft aus seinem Mund.
-Du hast ein Paket gekriegt, Vater!
Eine Fliege putzt sich auf seinen Bartstoppeln.
-Ein Paket, an dich adressiert! Ein kleines, aber schweres Paket! WILLST DU ES NICHT AUFMACHEN?
Ich gebe ihm einen Stups mit der Schuhspitze, er kippt auf den Rücken. Meine Hände werden klamm. Das Paket rutscht mir aus den Händen. Es klirrt in seinem Inneren, als es zu Boden fällt.

Komische Männer in Schwarz haben ihn aus unserer Wohnung geschleppt. Herzversagen. Fünfzehn Jahre zu tief ins Glas geguckt. Sie haben mir die Nummer eines Beerdigungsinstitutes in die Hand gedrückt. Ich habe kein Geld für einen Sarg. Wir sind arbeitslose Schweine.

Ich setze mich an den Küchentisch und öffne das Paket, reiße es auseinander. Vater hat noch nie ein Paket zugeschickt bekommen. Sein Bruder ist sein fünf Jahren Tod, ohne Eltern aufgewachsen, ein Waisenkind. Und außer dem obdachlosen Alfred, der immer vor der Trinkhalle hockt und bei uns vorbei geschaut hat, um Vater anzupumpen, hat er keine Freunde.

Ich komme mir seltsam vor. Nicht mein Vater und seine Schnapsflaschen stehen im Mittelpunkt, sondern ich. Nicht die von Nikotin gefärbten Gardinen und Zimmerdecken, sondern ich. Der aufgeklappte Klodeckel und die schmutzige Wäsche im Handwaschbecken rücken in den Hintergrund. Ich habe alle Spiegel mit Laken bedeckt und setze mich in Vaters Fernsehsessel. Eine Spirale drückt mich am Hintern. Ich habe den Inhalt des Paketes auf den Schrank neben den Fernseher gestellt. Ein Bilderrahmen. Das Glas ist in der Mitte zersprungen. Das Foto zeigt einen schlanken Mann. Er lächelt. Neben ihm hält eine Frau einen Brautstrauß in den Händen. Ihr fülliger Körper wirkt eingeengt in dem Brautkleid. Sie reicht dem Mann gerade bis an die Schulter. Auf der Rückwand des Bilderrahmens steht mit zittriger Handschrift geschrieben:
Ich habe Dich nie vergessen und bereue jeden Schritt, den ich getan habe und der mich von Dir und unserem Sohn entfernt hat. Doch jetzt ist es zu spät. Man kann die Zeit nicht zurückdrehen. Ich hoffe, Du verzeihst mir, eines Tages vielleicht.
In Liebe, Deine Marta

Das Paket wurde am 06.09.1989 versendet. Poststempel Hamburg. Ich habe den Postboten gefragt, und er sagte, dass ein Paket von Hamburg bis Köln zwei bis vier Tage benötige. Dieses hat über eine Woche gebraucht.
Er sollte nichts von Mutters Reue erfahren. Das war sein Schicksal.
 
A

Arno1808

Gast
Hm!

Hallo Danny,

wie ich gelesen habe, schreibst du Kurzgeschichten aus dem Bauch. Das ist in dieser Geschichte unverkennbar. Viel Bauchgefühl, aber auch Liebe zum Detail, wo sie angebracht ist.

Die Aussage der Geschichte hat mir gut gefallen.

Schön!

Nun das unweigerliche 'aber': ;-))

Vielleicht gehst du sie noch einmal durch. Mir sind noch einige Fehlerchen aufgefallen. Meist Tipp- oder Kommafehler.
Aber auch Stellen wie :

'Er könne Bettler nicht leiden und dachte, ich scheiße doch auf den Job und das mikrige Lehrgeld'

Dieses kleine vergessene Wörtchen 'ich' führt dazu, dass man ins Stocken gerät und damit (leider) aus der Atmosphäre gerissen wird.

Aber noch einmal: Eine gute Geschichte!

Gruß

Arno
 

Danny

Mitglied
Hallo!

Vielen Dank für Dein Interesse an der Geschichte! Werde sie nochmal durchsehen.
Ich freue mich, dass sie dir gefallen hat.

Danny
 

Zefira

Mitglied
Atmosphärisch unglaublich gelungen, geradezu atemberaubend.
Besonders gut der Anfang: ein fesselndes Bild - er "leckt" ein Guckloch frei, das hüpfende Kind, die Schnapsfahne des Vaters - und erst, wenn man mittendrin ist in der Geschichte, wird das "Hintergrundwissen" nachgeliefert.

Einen Einwand habe ich aber;
Mir gefällt der Schluß nicht so recht. Anfangs hatte ich den Eindruck, die Frau hat vermutlich gut daran getan davonzulaufen - er wird ja nicht nach ihrem Verschwinden von jetzt auf gleich zum Säufer geworden sein. Nun aber ihre "Reue", ein Wort, das für mich ein bißchen mehr transportiert als bloßes Bedauern über ihren Schritt; es hat den Anschein, als habe sie ein schlechtes Gewissen. Warum? Könnte es wirklich so sein, daß er vor der Trennung ein netter Familienvater war und danach völlig ins Gegenteil mutiert ist? Fragen über Fragen.

Versteh' mich richtig, ich sehe da keinen Widerspruch im eigentlichen Sinn, jedenfalls keinen, den man nicht auflösen könnte. Nur, wenn Du an den Schluß eine so moralische Überlegung setzt, finde ich, Du solltest sie noch ein bißchen unterbauen.

Trotzdem großes Kompliment von mir; ich war selten bei einer Geschichte von Anfang an so ins Geschehen gezogen!

Grüßle von
Zefira
 

Danny

Mitglied
Hallo Zefira!

Ich freue mich, dass Dir die Atmosphäre gefallen hat. Deine Tipps finde ich einleuchtend, und ich finde es toll, dass Du dich mit der Geschichte auseinander gesetzt hast. Vielleicht werde ich die geschriebenen Zeilen der Mutter noch mal überarbeiten... Vielleicht hat sie was ganz anderes sagen wollen?

Viele Grüße von

Danny
 



 
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