Parsa

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Man konnte es hören durch den infernalischen Lärm „Ich werde wieder kommen! Und ich werde es wieder tun! Ihr könnt Scheiterhaufen anzünden so viel ihr wollt, ich werde wieder kommen! Ich werde es wieder tun!" Ihre Stimme überschlug sich hinter dem Prasseln trockener Hölzer. Sie fühlte die vernichtende Hitze um sich lodern. Der Schweiß rann in raschen Bächen von ihrer Haut. Ihr Haar, für Sekunden eine Flammenaura um ihren Kopf, zerstob nach oben. Sie hörte ihren eigenen lang gezogenen Schrei, fühlte die animalische Kraft, mit der sie sich dem Pfahl zu entwinden suchte. Als die Fesseln verbrannt waren, war es zu spät. Und eine kleine Stimme flüsterte, übertönt vom Gejohle der geifernden Menge, eine geheime Botschaft im Rauch, von stiebenden Aschefetzen umwirbelt: Ihr könnt meinen Körper töten, aber meinen Geist tötet ihr nicht. Ich werde wieder kommen …

Parsa ging durchs Lager. Bedächtig, im wiegenden Gang, Hüften, Schultern, Arme, Hände, eine Symphonie der Bewegung, in der sich jedes Glied seiner selbst im höchsten Maße bewusst war. Jedes Haar auf ihrer Haut, jedes kleinste Fingerglied stimmte beseelt in den Kanon der Bewegung mit ein, der den ganzen Körper in einem schwingenden, tönenden Akkord agieren ließ. Ein grauer Fetzen, der einmal ein Kleid gewesen war, umspielte ihre Knöchel. Auf dem Pfad lagen Scherben, die sich weich in ihre nackten Sohlen drückten, indem sie einen Fuß vor den anderen setzte. Vom verdorrten Gras zu beiden Seiten des Pfades sah man nicht viel. Der Boden war voll von Menschen. Männern. Die hockten am Boden so weit das Auge reichte, bis an den Horizont, der am Meer endete, welches als schmale leicht glitzernde Linie im Dunst verschwamm.
Zerrissene bärtige Gestalten verbreiteten einen unsauberen Geruch, der wie eine bleierne Wolke über dem Lager hing. Hier hielt sich einer sein durchschossenes Knie, dort presste sich einer ein Tuch auf das auslaufende Auge. Dort wand sich einer und rief vergeblich um Hilfe. Die Gesunden standen in Gruppen zusammen und rauchten. Der wolkenschwere Himmel sank tiefer. Es begann zu nieseln.
Im Gehen fuhr sich Parsa mit der Hand an den Kopf. Wie zufällig glitt ihre Hand über die verformte nach hinten ausladende Ausbuchtung ihres Schädels, der runzlig aus einem Kranz fahlgrauer Locken wucherte, fuhr zurück, gleichsam erschreckend über die glatte Haarlosigkeit, erfasste die aschgraue runzlige Haut, die sich über einem Schädelgebilde spannte, der groß und schwer auf der zierlichen Gestalt ruhte wie ein Stein auf einer Blume. Die Hand glitt ab, der Arm sank hinab in einer achtsamen Kurve, pendelte wieder rhythmisch und im Wechselspiel mit dem Anderen an ihrer Seite. Ihr spinnendünner nackter Arm, der im Vorübergehen das Haar eines Mannes streifte, der, auf verbrannter Erde hockend, sich einen Splitter aus einer Fleischwunde zog. Schwarzes lockiges Haar. Er sah kurz auf und wandte sich rasch wieder seinem zerfleischten Bein zu, das er mit einem schmutzigen Fetzen zu umwickeln begann.
Es war verboten. Doch der Mann erhob erneut den Kopf und sah ihr nach aus tief in den Höhlen liegenden Augen, sein Gesicht war von Bartwuchs kaum zu erkennen. Er sah der Frau nach, die hier unter Todesgefahr durchs Lager ging, und in seinen leeren Augen schwamm unsäglich Erlebtes. Dieses Gesicht hatte jeglichen Ausdruck verloren. Dann hielt er mechanisch die blutige Scherbe gegen das trübe Licht. Es war verboten. Überall waren Augen, die beobachteten, was er tat, Menschen in grau-weißen Uniformen mit Kapuzen, die zwischen den Sitzenden umher gingen wie Aufseher.
In den Baracken beim Bootssteg präparierten sie das Kind. Sie wickelten den Körper aus mehreren Stoffschichten und warfen die Fetzen auf einen Haufen. Von der Decke herab baumelten zahlreiche gleich große Bündel mit kleinen Kadavern. Der Säugling hatte denselben verformten Schädel wie Parsa. Die Ärmchen zappelten insektenhaft, als sie es auf den Holzblock legten und auf den Bauch drehten. Es gab keinen Laut von sich. Eine klobige Hand griff die Drahtbürste aus einem Wasserkübel und begann, den dreckverkrusteten kleinen Kadaver zu bürsten, die Bürste ins Wasser zu tauchen, weiter zu bürsten. Das Wasser färbte sich dunkel. Zwei Pranken packten es wie ein Stück Schlachtfleisch, wendeten es prüfend hin und her. Das Fleisch begann zu schreien. Einer stopfte ihm ein Stück Stoff ins Maul. Das verkniffene Gesichtchen wurde krebsrot, später blau. Männer und Frauen in hellgrauen Schutzanzügen bewegten sich abgezirkelt und schweigsam in der halbdunklen Baracke zwischen Kübeln mit schmutziger Waschlauge und Bergen von Kleidung, die man den Toten abgenommen hatte.
Draußen legten noch immer Boote an. Die Bucht war voll mit Booten, die auf einen Anlegeplatz warteten. In jedem Boot kauerten Leute in Lumpen, die Wochen kaum gegessen oder getrunken hatten. Manche trugen Schlafanzüge. Frauen stiegen aus den schwankenden Booten, ihre nackten Füße berührten seit Langem wieder festen Boden, der glitschig wurde vom Regen. Leute in Schutzanzügen schoben sie in Richtung der Baracken. Sie trugen alle dieselben verformten Schädel wie Parsa, kahl, nach hinten schwer ausladend und von einem schmalen Haarkranz gesäumt; bei Manchen waren die Gesichter vernarbt und entstellt. Einige sanken in die Knie, einige wurden gestützt, bis sie wieder gehen konnten.
Nackte Füße schlingerten über glitschige Pfade. Der Regen nahm zu, bildete das einzige Geräusch, denn weit und breit war keine menschliche Stimme zu hören. Es erklang das müde Klatschen des Wassers an den schlingernden Booten, ersterbende Motoren, das Rascheln von Kleidung, das Aneinander Reiben menschlicher Körper, die Wärme suchten, das leis’ knisternde Einsinken von Füßen im gelben Gras, selten, dass eine Stimme einen Befehl ausstieß oder eine andere zu einem unartikulierten Schrei sich erhob unter Schlägen. Am Ufer sah man ältere Kinder sitzen, die einander Läuse aus dem Haar pulten.

„Wo hast du dein Kind, Parsa?“ rief der Mann hinter ihr her. Sie blieb stehen, presste die Sohlen an den Boden. Wer kannte ihren Namen? Wer sah sie? Sie sah sich um nach dem Rufer, der sie anstierte aus aufgerissenen Augen. Oh nein, es war ein Versehen gewesen, sie habe ihn nicht streifen wollen, auf keinen Fall, das würde sie später beim Verhör beteuern unter Gebrauch ihrer Stimme. Jemand hatte ihren Namen gerufen. Sie blieb stehen wie eine abgelaufene Spieluhr. Köpfe wandten sich nach ihr. Sie stand da, den Oberkörper nach hinten gedreht, in Schrittstellung verharrend, die Arme leicht nach außen gestellt wie zwei Flügel, und sah dem Rufer ins Gesicht, ziegenhaft und mit halb geöffneten Lippen, die sie mit einem langsamen Zungenschlag anfeuchtete. Schöne ebenmäßige Lippen. Ihre Blicke trafen sich. Ein beiderseitiges Aufblitzen, ein gegenseitiges Erkennen, ein archaisches Relikt, das Parsa durch ein abruptes Abwenden des Blicks im Keim erstickte. Der Mann hielt die Spiegelscherbe in der Hand und starrte auf die Frau. Ein unterbrochener Traum, dessen Folgen sich nicht mehr abwenden ließen. Der Mann wiederholte es: „Wo hast du dein Kind Parsa?" Noch einmal sah sie in die Abgründe seiner Augen und drehte sich auf den Zehenspitzen, ihre Arme schwangen dabei mit, auch die Fetzen ihres grauen Kleides wirbelten mit herum und sie ging weiter, durchs Lager, tanzte vielmehr, wiegend, federnd, ein einziger Atem, der sie vorwärts trudeln ließ wie der Wind ein Blatt fort trudelte. Noch einmal hob sie die Hand an ihren nackten Hinterkopf, dieses Mal rasch und entschlossen, die direkte Berührung nicht scheuend, so als wolle sie die überbordende Schädelmasse stützen, sich ihres Vorhandenseins vergewissern, eine seltsam hässliche Geste, während sie sich unaufhaltsam aufs Wasser zu bewegte, das sich, näher kommend, aus dem Dunst schälte und mit sternenhaft tanzenden Lichtreflexen zu schimmern begann.
Der Himmel öffnete sich ein wenig. Für kurze Zeit stachen Sonnenstrahlen wie Messer durch die Spalten zwischen den Dielen, die die Wände der Baracke bildeten. Sie hielten sich die Hände vor die Augen die das Licht nicht ohne Schmerzen ertrugen. Einer der Uniformierten hob den zugerichteten Kinderkörper aus einer dampfenden Lauge. Die Haut des Kindes war runzlig, an mehreren Stellen blutend, der große formlose Schädel rosa. Auf dem fest getretenen Boden hatten sich Pfützen gebildet mit ätzenden Rändern aus Schaum, in denen sie standen mit ihren Stiefeln. Vier weiß behandschuhte Hände hoben den schwach zuckenden Balg hoch in die Luft. Aus dem Holzblock, wo es zuvor gebürstet worden war, ragte nun eine teleskopartig ausgefahrene Klinge, einen Meter lang, auf der kleine nervöse Lichter auf und ab glitten wie Insekten. Langsam schob sich der kleine Kadaver die Klinge hinab bis aufs Holz, sodass das Blut in die Schlachtrinne floss und der Körper den Stahl sauber umschloss. Sie nahmen es vom Messer, wickelten es in Tücher und hängten es an einen Balken, wo es mit anderen von der Decke baumelte.
Parsa hatte das Meer erreicht.
 

Retep

Mitglied
Eine gewaltige, erschreckende, schreckliche Vision erscheint da. Ich bin beeindruckt, verstehe die Geschichte nicht ganz, kann vieles nicht deuten.

Welche Sprache!

Etliche Stellen müsste man sicherlich noch einmal überprüfen.


Gruß

Retep
 



 
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