Pater noster, qui es in caelis

Retep

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Ein Schreibversuch, dessen Base meine Tochter verfasst hat; ich habe ihn ein wenig überarbeitet. Kommentare würden uns beide sehr interessieren.



Pater noster, qui es in caelis…

„Schließ die Augen und du wirst feststellen,
dass es nicht annährend so schwarz sein wird wie der Himmel.“
Das hatte seine Mutter damals geflüstert, als sein Vater ihr und ihm und all den Anderen den Rücken kehrte und ging. Es war Frühjahr und dennoch glich das Wetter einem scheußlichen Herbsttag. Es war im Mai. Der erste Tag im neuen Monat. Ohne ein einziges Mal sich umzudrehen , ging er, sie saßen auf der Terrasse und aßen Kuchen. Zwetschgenkuschen. Sein Lieblingskuchen. Seit diesem Tag an schmeckte ihm der Kuchen nicht mehr. Seine Mutter hatte auch hinter ihm her geschrieen und geheult. Aber nicht im Mai, dem ersten Tag des Monats. Nicht in diesem Garten. Bedauerlicherweise fiel ihm der Satz nicht ein, er sah in seinem Bild der Erinnerung seine Mutter mit hochgekrempelter Bluse, einer Schürze, die ein großes blaues Herz aufgemalt hatte und einem blassen, müden Gesicht und Buchstaben, die den Satz der vergangenen Tage nicht mehr bilden konnten.
Schwitzend saß er da und konnte es nicht fassen. Seinem inneren Befinden nach hätte er einem Obdachlosen leicht Konkurrenz machen können.
Als er an der Bushaltestelle saß mit den mittlerweile verwelkten Blumen in der einen Hand, dem Aktenkoffer in der anderen, dachte er an nichts, beziehungsweise bemüht sich, an nichts denken zu müssen.
Ein kleines Mädchen zupfte ihrer Mutter am Kleid.
Die Mutter warf ihr einen fragenden Blick zu.
„Wieso sieht der Mann trotz Anzug traurig aus?“
Die Mutter lächelte und fragte leise:
„Hat ein Mann im Anzug nicht auch das Recht traurig zu sein?“
„Recht schon“, sagte das Mädchen, „hat ja jeder Mensch, aber ungewöhnlich ist es.
Menschen in Anzügen sind wütend oder unfreundlich aber nicht traurig, denn traurig zu sein beansprucht zu viel Zeit.“
Die Mutter wandte sich von ihrer Tochter ab, um eine ältere Dame nach der Uhrzeit zu fragen. Der Mann im Anzug, Herr Thomson, wartete seit geraumer Zeit auf die Buslinie 184. Diese Buslinie sollte Herrn Thomson zum Friedhof Zehlendorf bringen. Seine Mutter war kürzlich verstorben. Zur Beerdigung konnte er nicht kommen. Er war gerade in Wales geschäftlich unterwegs. Frau Blumenthal, eine ehemalige Nachbarin von Herr Thomson, setzte sich zu ihm auf die Bank. Eigentlich wollte sie nichts sagen, doch die unangenehme Stille brachte sie dazu den Mund zu öffnen und zu sprechen.
„ Wie geht es Susanne?“
Er stockte.
„ Arbeitet deine Frau noch?“
Er wusste es nicht. Was er wusste war, dass der Bus gleich kommen würde.
Herr Thomson wollte sich jedoch auf kein Gespräch einlassen, so dass er ein gleichgültiges Ja aussprach.
„ Grüß sie von mir.“
Er nickte. Frau Blumenthal stieg in den Bus ein. Es war die Buslinie , die auch ihn zum Friedhof bringen würde. Erst jetzt fiel ihm auf, wie sehr er eigentlich stank. Er fuhr sich mit der Hand übe3rs Gesicht.. Der Busfahrer schaute Herr Thomson fragend an, doch Herr Thomson winkte ab.
Das Kind setzte sich nun neben ihn auf die Bank und versuchte mit den Beinen den Boden zu berühren - erfolglos.
„Ist das deine Aktentasche“, fragte sie, indem sie versuchte , wenigstens mit den Zehenspitzen einen Hauch von Boden zu ergattern.
„ Ja klar, wieso?“
„ Und sind das deine Blumen?“
„ Nein, die sind für meine tote Mutter.“
„ Und wieso bringst du deiner toten Mutter tote Blumen?“
Er hatte die Blumen vor zwei Tagen bei seiner Ankunft am Flughafen gekauft. Er wollte nicht noch einmal in die Stadt fahren wegen eines Strauß Blumen. Sonnenblumen, die sie so sehr liebte, hätte er ihr kaufen können. Stattdessen saß er mit einem verwelkten Tulpenstrauß auf der Bank. Warum hatte er ihr nicht einen anständigen Blumenstrauß besorgt? Er wusste es nicht, ebenso wenig wie er wusste, warum er noch da saß. Er hätte den Bus nehmen müssen, der vor fünf Minuten abgefahren war.
Ihm stieg ein unglaublicher widerlicher Geruch in die Nase, vielleicht bildete er sich diesen auch nur ein. Dennoch, er musste sich übergeben.
Er hatte seine Mutter immer dafür bewundert, wie sie so gelassen reagieren konnte, wenn sein Vater betrunken nach Hause kam und immer in die selbe Vase, die große weiße mit den roten Blättern, brach. Sein Vater sagte in den Momenten , in denen der Brechreiz nachließ, dass er sterben wolle. Herr Thomson wünschte sich, dass sein Vater gestorben wäre und nicht seine Mutter. Warum war er selbst eigentlich gegangen, vor allem wann? Es war zehn Jahre später , nachdem sein Vater gegangen war. Nachdem er sein Wirtschaftsstudium beendet hatte, ging er nach Nordirland und leitete irgendeine erfolgreiche Baumwollfirma. Er heiratete und bekam Kinder. Zwei waren es vermutlich. Wenn man ihn gefragt hätte, was die Interessen der Kinder seien, welche Haarfarbe sie hätten oder wie alt sie seien , hätte er es nicht richtig beantworten können.
Das Mädchen blickte ihn immer noch an, ohne Ekel.
„ An deiner Stelle würde ich neue Blumen kaufen.“
„ Wieso, sie sieht die Blumen doch nicht mehr.“
„ Wieso hast du dann überhaupt Blumen gekauft?“
Herr Thomson schwieg – das Mädchen nicht.
„War deine Mutter böse zu dir?“
Er schaute das Mädchen irritiert an, während er sich mit einem Taschentuch den Mund ein wenig abwischte.
„ Hat dir deine Mutter weh getan oder warum hasst du sie so sehr?“
Das Mädchen rückte nun noch ein Stück näher zu Herr Thomson und schaute ihn mit weit aufgerissenen Augen an, als ob sie so ganz tief in seine Vergangenheit schauen und seine Erinnerung röntgen könnte. Er versuchte ihrem Blick zu entkommen, erfolglos. Seine Mutter hatte ihm kein einzige Mal weh getan. Hasste er seine Mutter? Er schaute auf seine Schuhe. Sie waren teuer gewesen.
„So eine Frau kann man nicht hassen.
Nicht einmal ein wenig.
Nicht einmal ein bisschen.
Nicht einmal fast“,
sagte er und wusste dennoch, dass er sie irgendwie hasste.
„Sag mal, glaubst du an Gott?“, fragte das Mädchen , während sie winkend in den Himmel schaute. Seiner Ansicht nach vollkommen ziellos .
Herr Thomson biss sich auf die Unterlippe. Er tat dies immer, wenn er wütend war. Als Kind hatte er einmal so stark draufgebissen, dass er anfing zu bluten. Damals fuhr seine Mutter sofort mit ihm ins Krankenhaus. Sie hatten kein Auto, sondern nur ein Fahrrad. Er saß auf dem Fahrradlenker. Er war acht Jahre alt. Es war windig. Ihr gelocktes Haar, das nach Lavendel roch , streifte sein Gesicht und er vergaß für einen Moment den Schmerz. Sie hatte damals schon so seltsam gehustet.
„ Gott ist was für Spinner und arme Menschen“, schrie es aus ihm heraus.
Es wäre nicht verwunderlich gewesen, wenn ein Erwachsener zusammengezuckt wäre. Das Mädchen saß ruhig neben ihm, als ob sie sich durch diese Aussage bestätigt gefühlt hätte.
„ Du hast also mal an Gott geglaubt?“
Der Mann im Anzug Ende Vierzig wollte dem entgegnen, doch das Mädchen hatte ihren Monolog schon fortgesetzt.
„ Ein einfaches, gleichgültiges Nein hätte doch gereicht.“
Warum bist du so wütend geworden? Ist doch eine ganz normale Frage, so wie wenn ich dich fragen würde, ob dir Paprika schmeckt oder ob du Angst im Dunkeln hast.“
Man würde nur so reagieren, wenn man mit Paprika etwas Schlechtes verbindet, dies jedoch nicht sagen möchte, weil es einem vielleicht peinlich ist.
Wieso lügen eigentlich Menschen so oft?“
Vor seinem Wirtschaftsstudium hatte er Theologie studiert. Ja, er glaubte einst an diesen Schwachsinn. Er wäre beinahe evangelischer Pfarrer geworden. Beinahe. Bis seine Mutter krank wurde. Die Diagnose war Lungernkrebs. Er verstand die Welt nicht mehr, fühlte sich betrogen von Gott. Er hätte es noch tolerieren können, wenn er diese Diagnose bekommen hätte, sozusagen als Probe. Aber seine Mutter? Sie hatte genug erlebt, so viel gekämpft, sich selbst so oft aufgegeben, um die Familie zu retten und das war der Lohn?
Herr Thomson gab das Studium auf. Kein Dozent verstand ihn, er war der Beste gewesen.
„ Wieso der Sinneswandel, Herr Thomson?“
„ Man kann meine Situation mit einem Metzger vergleichen, der im Laufe seines Lebens Vegetarier wird. Er kann das eine mit dem anderen nicht mehr vereinbaren, scheitert somit in seinem Beruf.“
Der Dozent konnte sich ein Lachen nicht verkneifen und erwiderte:
„ Wie soll ein Metzger denn auf einmal Vegetarier werden?
Und auch wenn, er muss doch nur das Fleisch verkaufen, nicht essen.“
Herr Thomson schmunzelte, verabschiedete sich und drehte sich zum Gehen um. Während er den Gang hinunter lief , murmelte er vor sich hin:
„ Und was würde er einem Klienten sagen, wenn er fragen würde, welches Fleisch er ihm empfehlen könnte?
Einst hätte ich ihnen dies und jenes empfohlen, heute müssen sie sich wo anders informieren.“
Herr Thomson lachte. Der Dozent rief ihm nach:
„ Hauptsache sie können wieder lachen und vielleicht ändern sie ihre Meinung ja doch.“
Was der Dozent jedoch nicht wusste, Herr Thomson lachte , um nicht weinen zu müssen, denn er wusste, dies würden die letzten Schritte sein auf diesem Flur. Er hatte nicht nur dem Studiengang den Rücken gekehrt sondern vor allem Gott.
Das Mädchen stupste ihn an. Herr Thomson reagierte nicht, er hatte seine Arme auf die Knie gestützt und schaute auf den Boden. Vielleicht weinte er, fragte sich das Mädchen.
„ Emma, wir müssen gehen,“ sagte ihre Mutter, die das Gespräch mit einer alten Dame beendet hatte.
Emma reagierte nicht auf die Aufforderung, stattdessen stand sie auf und legte sich auf den Boden, so dass ihr Gesicht zwischen den Beinen des Mannes war, der vielleicht weinte. Sie konnte ihm so direkt ins Gesicht schauen.
„ Wieso steigst du in keinen Bus?“
Er wäre gerne aufgestanden, höchstwahrscheinlich hätte er auch gerne den Bus genommen.
Den Aktenkoffer fest umklammernd saß er jedoch immer noch da.
„ Wird dir schlecht im Bus?“ , fragte das Mädchen.
„ Nein, ich bin ja kein Kind.“
„ Wird nur Kindern im Bus schlecht?“
„ Es gibt Ausnahmen.“
Seine Mutter war eine dieser Ausnahmen gewesen. Sie hatte ihn in Irland besucht und musste gezwungenermaßen den Bus nehmen. Fünf Stunden Busfahrt. Das Ergebnis dieser Busfahrt waren drei vollgebrochene Plastiktüten. Sie hatte es auf sich genommen, um zu sehen , wo ihr Sohn nun schlief und aß. Wo er lebte. Ein Flug nach Deutschland hätte er nehmen können, er verdiente gut. Er hatte seine Mutter kommen lassen. Das kleine Mädchen schaute an seinen Augen vorbei in den Himmel.
„ Ich sehe etwas was du nicht siehst“, sagte sie mit einem Lächeln.
„ Ich denke an etwas , was du nicht siehst“, sagte er mit zitternder Stimme. Emma würde nicht verstehen , was er damit meinte und das war auch gut so.
„ Das ist gemein. Ich gebe dir wenigstens noch eine Chance, um zu erraten , was es ist, es ist dort , wo ich bin und wo ich hinschauen kann. Aber du, du denkst an irgendwas, das kann ich natürlich nicht sehen. Ich bin ja nicht Gott.“
„ Und das ist auch gut so“, murmelte Herr Thomson.
Das Lächeln des Kindes verwandelte sich. Es machte nun eine eher finstere Miene. Er hatte ihr Spiel in gewisser Hinsicht mit nur einem dummen, erwachsenen Satz zunichte gemacht. Emma setze sich hin, um aufstehen zu können.
„ Ist es schön?“
Emma schaute ihn fragend an.
„ Das was du siehst und ich nicht, ist es schön?“
Auf Emmas Gesicht machte sich das gleiche Lächeln bemerkbar, das sie am Anfang des Spiels hatte. Sie legte sich erneut hin und schaute, keineswegs ziellos, in den Himmel.
„ Klar ist es schön, sonst würde ich es nicht so lange anschauen wollen.“
Wann war er eigentlich ausgezogen von zu Hause? Was waren die letzten Worten seiner Mutter gewesen , als er die Haustür hinter sich zudrückte?
„ Ich sehe etwas , was du nicht siehst und es ist weiß!“
Herr Thomson schaute nun auch in den Himmel - ziellos.
„ Es ist wohl irgendeine Wolke.“
„Irgendeine?“
„ Ja, irgendeine. Es ist zu schwer zu erraten , welche du genau meinst.“
„ Du gibst ja schon jetzt auf. Wieso fragst du mich nicht einfach, ob sie klein oder groß ist, so kannst du ein paar ausschließen. Außerdem ist es nicht nur eine Wolke.“
Herr Thomson stieg auch nicht in den nächste Bus ein, der zum Friedhof fuhr.
„ Ist sie denn klein?“
„ Nein.“
„ Also ist sie groß?“
„ Ja.“
Welche Wolke könnte es nur sein? Er schaute nachdenklich in den Himmel. Er entschied sich für eine Wolke.
„ Ist es diese?“
„ Ja, aber ich sagte doch , es ist nicht nur eine Wolke.“
Er dachte an seine Kindheit. Er dachte daran, dass auch er einst Tiere oder Gegenstände in Wolken gesehen hatte. Er hatte es verlernt , er konnte sie nicht mehr sehen.
„ Du bist langweilig“, sagte Emma.
Vermutlich war er langweilig. Langweilig, eine Charaktereigenschaft, die er lieber gehabt hätte als jene, die er in Wirklichkeit besaß.
„ Siehst du nicht die Torte?“ ,
fragte Emma und versuchte ihm mit ihrem Finger die Umrisse der Torte in der Luft vorzuzeichnen.
Er hatte seine Mutter noch nie weinen sehen. Sie hatte auch nicht geweint, als sein Vater ihr und ihm und all den Anderen den Rücken kehrte und ging. Im Frühjahr. Der Tag glich einem scheußlichen Herbsttag. Er hatte sich getäuscht, es war kein anderer Tag, an dem sie seinem Vater hinterher geschrieen und geheult hatte. Sie hatte nicht einmal bei der Hochzeit ihrer Schwester geweint, als sein betrunkener Vater die Torte umschmiss. Seine Mutter hatte drei Tage an diese Torte gearbeitet. Drei lange, mühselige Tage. Die Begründung, warum er die Torte umgeschmissen habe, außer er sei betrunken gewesen, war, dass er sehen wollte , wie sie fällt. An Stelle meiner Mutter hätte ich ihm die ganze Torte in den Mund geschoben, bis er geschwiegen hätte. Für immer.
Sie hatte nicht hinter seinem Vater hinterhergeschrieen sondern hinter ihm. Sie hatte geheult. Doch was hatte sie zu ihm gesagt als er ging?
„ Warum ist deine Mama tot?“
Seine Mutter starb an irgendeinem Tag. Er wusste nicht mehr genau wann. Vor schätzungsweise zwei Wochen rief ihn seine jüngere Schwester an.
Er ließ das Telefon fünf Mal klingeln, dann ging er ran. Seine Schwester hatte nur „Hallo“ gesagt und er wusste, dass seine Mutter verstorben war. Er wusste nicht , was sie verraten hatte, vielleicht der seltsame, ruhige Klang in ihrer Stimme. Sie hatte nichts weiter gesagt außer dieses „Hallo“. Er hatte gefragt, wann die Beerdigung sei? .Sie sagte: „In drei Tagen.“ Er sagte, er würde die Kosten übernehmen, aber er könne nicht kommen, er wäre auf einem wichtigen Kongress. Sie legte auf.
„ Weil sie zu gut für die Welt war.“
„ Dann kommt sie wenigstens in den Himmel, sagt meine Mama.“ Emma machte eine Handbewegung, um dem verloren wirkenden Mann den Himmel zu zeigen.
„ Vielleicht.“ Herr Thomson konnte sich ein Lachen nicht verkneifen und schaute das Mädchen an.
„ Bist du böse auf den lieben Gott?“
Der Mann im Anzug schwieg.
„ Weil deine Mama nun bei ihm wohnt und nicht mehr hier?“
Der Mann im Anzug hielt den verwelkte Strauß nun so fest, dass ein paar Tulpen brachen. Er schwieg immer noch.
Er sah den Bus in etwa fünfzig Meter Entfernung. Würde er diesmal einsteigen?
„ Emma, wir müssen nun los“, rief ihre Mutter.
„ Sofort - ich will mich noch von dem armen Mann verabschieden.“
„ Sie freut sich sicher, wenn du sie besuchen gehst“, sagte sie zu Herr Thomson.
In der Tat, er war ein armer Mann. Er saß seit ungefähr fünfundvierzig Minuten an dieser Bushaltestelle und hatte zwei Busse, die zum Friedhof fuhren, absichtlich verpasst. Und wieso das Ganze? Weil er einen so großen Hass auf sich selber hatte. Er hatte seine Mutter allein gelassen, allein mit ihrer Krankheit, allein mit all den finanziellen Sorgen. Er war gegangen, so wie sein Vater. Er hätte in Deutschland auch eine Firma leiten können, warum musste er gehen? Das würde er sich nie verzeihen. Die Ironie, er würde diesmal wieder einen Rückzieher machen. Wenn da nicht dieses kleine Mädchen wäre. Sie hatte wohl recht. Der Mann im Anzug war ein Lügner. Er hasste Gott, weil er wusste, dass er selber ein Feigling war und es einfacher war, jemand anderem die Schuld zu geben. Er war gegangen aus Furcht. Wäre er geblieben, hätte er in den Augen seiner Mutter eine Antwort gesehen auf seine Frage nach dem Warum. Es wäre ein einfaches Weil gewesen. Der Bus hielt an der Bushaltestelle. Menschen stiegen aus. Eine junge, attraktive Frau hielt ihrem Sohn an der Hand. Im nächsten Moment ließ die Frau die Hand des Kindes los.
„Geh ruhig vor – aber renn nicht“, sagte sie.
Herr Thomson hatte das Gefühl keine Luft zu bekommen, er machte den Krawattenknoten lockerer. Emma stand immer noch neben ihm. Er schwelgte in Erinnerungen.
Der Flur. Er liebte den Geruch von dem Holz. Sein Gepäck war vollständig. Seine Schwestern hatten ihm etwas gebacken für die lange Reise. Sie verabschiedeten sich. Seine Mutter sah blass aus, sie hustete, sie begleitete ihn dennoch nach draußen. Er wollte sie umarmen. Sie stieß ihn weinend weg.
„ Geh weg – aber renn nicht“, sagte sie schluchzend. Es waren die Worte, die ihm all die Jahre entfallen waren, absichtlich oder nicht, das spielte keine Rolle mehr.
Er ging und rannte. Er hatte nicht aufgehört zu rennen. Im Grunde rannte er immer noch. Wann würde er endlich aufhören zu rennen?
„ Ich geh dann jetzt“, sagte Emma und streckte ihm ihre kleine Hand hin.
Er stand auf, ließ die verwelkten falschen Sonnenblumen liegen. Seinen Aktenkoffer hielt er fest, mit der freien Hand gab er dem Mädchen die Hand. Der Busfahrer schaute ihn mit fragendem Blick an. Er ließ die Hand des Mädchens los und während er in den Bus stieg, murmelte er ein nur für Emma verständliches
„ Danke.“
„ Wofür danke?“
„ Du hast mir zugehört.“
„ Aber du hast doch kaum was gesagt“, sagte Emma, aber das hatte er schon nicht mehr gehört.
Er saß in der letzten Reihe. Der Bus vor los.
Man hörte ein Kinderlachen, wenig später ein Schreien. Reifen quietschten. Ein Mann fluchte auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Herr Thomson wollte sich nicht umdrehen. Vielleicht war auch nichts Schlimmes passiert. Vielleicht schon. Der Busfahrer hielt an. Er drehte sich um und schaute aus dem Fenster. Sie lag da und bewegte sich nicht. Sie war noch so klein. Ihre Augen waren weit geöffnet und starrten in den Himmel.
„Schließ die Augen und du wirst feststellen, dass es nicht annährend so schwarz sein wird wie der Himmel.“ Er dachte an die Worte seiner Mutter. Er schloss die Augen , doch er wollte nicht feststellen, ob es annährend so schwarz war wie der Himmel. Er wollte die Augen nicht noch einmal öffnen müssen. Sie blieben geschlossen, nur sein Mund öffnete sich leicht.
„ Pater noster, qui es in caelis…“
 



 
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