Pauke Pauke!

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Stakker

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1940
Irgendwo über England


Einatmen... ausatmen...

Geoffrey erfreute sich an jedem Atemzug. Er war noch am Leben. Er war gesund. Und er genoß es in vollen Zügen.

Seine Gedanken kreisten. Was wäre geschehen, wenn sie die Deutschen nicht verpaßt hätten? Wäre er in der Lage gewesen, einem kampferprobten deutschen Jagdflieger die Stirn zu bieten? Hätte er seinen ersten Abschuß erzielt? Oder wäre er den Banditen* zum Opfer gefallen?

Hatte er eigentlich ernsthaft an die Möglichkeit gedacht, bei diesem Einsatz zu sterben?

Er überlegte einen Augenblick.
Nein, er hatte keinen Gedanken daran verschwendet.
Er hatte keine Zeit gehabt, einen Gedanken daran zu verschwenden.
Eben noch hatte er während der Sitzbereitschaft eine Tasse Tee genossen, im nächsten Augenblick war der Ruf „Alarm!“ ertönt und er war zu seinem Flugzeug gerannt. Alle Gedanken waren kurz darauf vom Dröhnen der gewaltigen Rolls-Royce-Merlin-III-Motoren verjagt worden.

Kurz nach dem Start hatte der Staffelführer das Kommando „Freie Jagd“ verkündet. Deutsche Banditen hatten einen benachbarten Feldflugplatz angegriffen. Nun galt es, die schnellen, wendigen Messerschmitt-Jagdflugzeuge des Gegners abzufangen. Doch Geoffrey und seine Kameraden waren zu spät gekommen. Die Krauts* hatten sich wieder aus dem Staub gemacht, waren über den Kanal verschwunden. Die anschließende Verfolgung war ergebnislos verlaufen.

Nun, nachdem der erste Adrenalinrausch vorüber war, dachte Geoffrey über seine Situation nach. Und seine Gedanken waren anfangs sehr finster gewesen. Die Krauts hatten eine Menge Kampferfahrung. Mehr Kampferfahrung, als er vielleicht jemals würde sammeln können. Die feindlichen Flieger waren sicherlich kaum älter als Geoffrey, der es auf stolze 22 Lenze brachte. Doch sie hatten bereits an vielen Fronten gekämpft, während er es gerade einmal auf einige Trainingsflüge in seinem Supermarine Spitfire Mk.I-Jäger brachte.

Inzwischen war er sich sicher, daß man ihn vom Himmel radiert hätte.

Um so schöner war das Gefühl, zu leben und zu atmen. Geoffreys finstere Gedanken hatten der unbändigen Freude Platz gemacht, noch am Leben zu sein. Er hätte in diesem Augenblick die ganze Welt umarmen können!

Trotz seiner Hochstimmung achtete er peinlich genau darauf, nicht länger als 5 Sekunden auf einer Höhe, in einer Richtung und mit einer Geschwindigkeit zu fliegen. Dieses neue RADAR, mit dem man feindliche Flugzeuge aufspüren konnte, schien zwar perfekt zu funktionieren, doch Geoffreys Vertrauen in die moderne Technik war nicht besonders ausgeprägt. Möglicherweise trieb sich doch noch eines dieser deutschen Asse* hier herum und wartete nur auf die Gelegenheit, einen unerfahrenen, englischen Flugschüler vom Himmel zu holen.
Außerdem hatte Geoffrey keine Lust, einen Anpfiff von seinem Rottenführer* zu kassieren.
Er drückte den Steuerknüppel ein wenig nach vorne, um einige Fuß an Höhe abzubauen. Gleichzeitig zog er den Gashebel leicht zurück, damit er im Sinkflug nicht zu schnell wurde.

Und vor ihm blitzte etwas auf.

Geoffrey blinzelte. Schaute noch einmal hin. Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. Eben war da noch blauer Himmel. Nun war da... etwas. Und es näherte sich.

Schnell.

Innerhalb weniger Sekundenbruchteile erkannte Geoffrey Details.

Tragflächen. Leitwerk. Der gelb lackierte Spinner eines Propellers. Eine eckige Kabinenhaube. Die Mündungen von zwei Rheinmetall-Borsig 7.9-mm-Maschinengewehren hinter dem Propeller. Die Mündungen von zwei Oerlikon-20-mm-Kanonen in den Tragflächen.

Eine Messerschmitt Bf 109 E – der Feind.

Im direkten Anflug!

Geoffrey reagierte in einer Weise, die seinen Flugausbilder mit Stolz erfüllt hätte: Mit der linken Hand stieß er den Gashebel nach vorne. Der Rolls-Royce-Motor donnerte los und entfaltete die geballte Kraft von 1.030 Pferdestärken. Gleichzeitig preßte Geoffrey seinen rechten Daumen fest auf die große, rote Taste an seinem Steuerknüppel, den er im selben Moment scharf nach hinten riß. Im gleichen Augenblick, in dem die acht in den Tragflächen montierten Browning-Maschinengewehre los hämmerten, bäumte sich Geoffreys Spitfire auf.

„Bandit auf zwölf Uhr tief*!“ schrie Geoffrey in seine Atemmaske, während er den Steuerknüppel leicht nach vorne drückte, um wieder in den Horizontalflug überzugehen. Im nächsten Moment ließ er seinen Jäger nach links rollen und zog ihn dann in eine enge Kurve. Geistesgegenwärtig achtete er dabei auf seine Geschwindigkeit, denn er wollte keinen Strömungsabriß riskieren, der seine Spitfire in einen Trudelsturz geführt hätte.

„Echo zwei, hier Echo Führer.“ ertönte die ruhige Stimme von Captain Timothy Davenport, dem Rottenführer, im Bordfunk. „Ich sehe sie. Aber ich sehe keinen Banditen.“
„Er kommt genau auf sie zu, Sir!“ schrie Geoffrey zurück. „Er ist schon vorbei. Sie müssen...“
„Echo zwei!“ der scharfe Tonfall des Rottenführers ließ Geoffrey augenblicklich verstummen. „Hier ist kein Bandit! Ich wiederhole, kein Bandit! Das Gebiet ist feindfrei.“
Geoffrey ließ seine Spitfire wieder in die Horizontale zurückrollen. „Aber Sir, ich habe ihn gesehen. Eine Messerschmitt. Sie kam direkt auf mich zu.“
„Sie kam direkt aus ihrer Phantasie, Echo zwei. Formation schließen!“
„Jawohl, Sir.“

Erst spät in der Nacht ließ das Zittern nach. Dennoch fand Geoffrey keinen Schlaf. Sein Staffelführer war außer sich gewesen und hatte ihm eine gewaltige Standpauke gehalten. Das Bodenpersonal, insbesondere dieser kleine, dicke Sergeant, der für die Bordwaffen zuständig war, hatte mit hämischen Kommentaren nicht gegeizt.
Das Küken hatte Gespenster gesehen.
Dafür mußte das Küken nun den bitteren Spott der Adler ertragen.

Nur Captain Davenport war nicht wie ein Bluthund über Geoffrey hergefallen. „Es war ihr erster Einsatz, Leftenant. Dieses mal sind wir ohne ein Gefecht davongekommen. Beim nächsten mal werden wir wahrscheinlich kämpfen müssen. Tun sie mir einen Gefallen, alter Junge: Schießen sie nicht auf jeden Lichtreflex, den sie sehen. Irgendwann könnte ich dieser Reflex sein, und das würde mir nicht gefallen. Und denken sie immer daran: Dort draußen passe ich auf ihre Sechs-Uhr-Position* auf. Es ist wohl nicht zu viel verlangt, wenn sie auch auf meine Sechs achten. Wir tragen die Verantwortung für einander. Vergessen sie das niemals.“

Eines wußte Geoffrey sicher: Da draußen war eine Messerschmitt gewesen. Der Staffelführer hatte darauf gepocht, daß der Bandit in jedem Falle vom RADAR entdeckt worden wäre, doch die RADAR-Station in Dover hatte keinen Feindflieger bemerkt. Geoffreys Ansicht nach hatte dieser Deutsche eine Möglichkeit gefunden, das englische RADAR zu überlisten. Der Kraut war aus dem Nichts gekommen, und im Nichts verschwunden.

Geoffrey fröstelte. Diese Deutschen waren zähe Hunde. Sie würden zurückkommen. Sich erneut unsichtbar anschleichen. Vielleicht würde dann eine Messerschmitt direkt hinter Geoffreys Spitfire auftauchen. Würde er die Einschläge der 20-mm-Geschosse noch mitbekommen?

Er war sich nicht sicher, ob er jemals wieder in das Cockpit seiner Spitfire würde klettern können. Er war sich auch nicht sicher, ob er jemals wieder unbefangen den Himmel würde betrachten können. Diese deutsche Vernichtungsmaschine, diese spezielle Messerschmitt Bf 109-E, würde ihn sein Leben lang verfolgen.
Er mußte sie abschießen.
Aufspüren und vernichten.
Erst dann würde er wieder gelassen dem nächsten Tag entgegen blicken können.

Den Anblick des blauen Himmels und der Sonne würde er erst dann wieder genießen können.

Heute
Irgendwo in London


Basils Kopf war prall gefüllt mit Luftkämpfen.

Spitfires und Messerschmitts, sich überkreuzende Bahnen von Leuchtspurgeschossen, englische Kokaden und deutsche Balkenkreuze.

Der Regen prasselte auf seine kurz geschorenen, knallrot gefärbten Haare, während er sich dem Gamer‘s Point näherte. Die Absätze seiner schwarzen, spitz zulaufenden Stiefel klapperten auf dem glänzenden Asphalt. Seine engen Jeans waren völlig durchnäßt und klebten bereits an seinen Beinen.
Er achtete nicht darauf und ignorierte den Regen. Er dachte nur an das Dröhnen der Motoren und den Donner der Maschinengewehre. Nur noch wenige Schritte, dann konnte der Kampf beginnen.

Mit einem energischen Ruck stieß Basil die Tür des Gamer’s Point auf und betrat die Spielhalle. Das Grau des Himmels wich bunten Neonfarben und reißerischen Leuchtreklamen. Rasch durchquerte er den Vorraum. Der fette Elgin thronte wie immer auf einem Barhocker hinter der Theke. Allzeit bereit, mißmutig einige Scheine in Kleingeld umzuwechseln.
„Hi Wamba!“ rief Basil, ohne seine Schritte zu verlangsamen. Er rechnete nicht mit einer Antwort. Elgin blickte nicht einmal von dem „Aliens vs. Predator“-Comic auf, das er gerade las. Elgins gemurmeltes „Arschloch!“ hörte Basil nicht.

Den nächsten Raum, in dem sich die Pool- und Snookertische befanden, passierte Basil ebenso schnell wie den Vorraum. Die beiden Pärchen, die eine Viererpartie Pool spielten, beachtete er nicht. Dann betrat er endlich das Allerheiligste: Die abgedunkelte Videohalle.
Genau genommen befanden sich in dem großen, langgezogenen Raum nicht nur Videospielautomaten. Gleich rechts neben dem Durchgang waren einige Geldspielautomaten aufgehängt. Die komplette rechte Seitenwand wurde von einer Reihe von Flippern beherrscht. Linker Hand hatte man die Videospiele aufgebaut. Automat an Automat. Es erinnerte an eine Perlenschnur. Glänzende, flackernde, bunte Perlen.

Das eigentliche Heiligtum befand sich auf einem Podest an der gegenüberliegenden Seite des Raumes: Der „Dogfight“*.

Eine stromlinienförmige, in Tarnfarben lackierte Kabine. Eingebettet in große, ringförmige Aufhängungen, die 360°-Drehungen in alle Richtungen zuließen und beinahe bis unter die hohe Decke des Gamer’s Point reichten. Prall gefüllt mit der fortschrittlichsten Videospieltechnik, die auf dem Markt erhältlich war. Vollgepackt mit Action, Abenteuer, Grafik und Sound. Bereit, den Spieler für den Preis von einem Pfund mitten in die legendäre Luftschlacht um England zu versetzen.

Im Augenblick war der „Dogfight“ nicht besetzt. Die Haube der Kabine war geöffnet und gewährte einen Blick auf einen mit gelben Hosenträgergurten bestückten Schalensitz. Vor dem Sitz ragte ein bulliger, mit zwei roten Tasten versehener Steuerknüppel, wie ein Zepter empor. Ein zweiter Hebel war an der linken Seite des Sitzes montiert. Über den Steuerknüppel waren ein Paar Datenhandschuhe und ein schwerer Helm drapiert. Ein Bündel von Glasfaseroptik-Kabeln verband Helm und Handschuhe mit der Kabine. Direkt vor der Kabine befand sich ein gewaltiger Flatscreen, auf dem die Zuschauer das aktuelle Kampfgeschehen aus der Sicht des Piloten verfolgen konnten.

Vor dem Flatscreen hatte sich eine Gruppe von fünf hitzig diskutierenden Teenagern versammelt – der einzige Grund, der Basil davon abhielt, bewundernd vor dem „Dogfight“ auf die Knie zu sinken. Außerdem war da noch Fuzzy, der ruhige Opa, der am Ende jedes Monates hier auftauchte, um die Überreste seiner Rente an den Geldspielautomaten zu verlieren. Seinen Spitznamen hatte Fuzzy wegen seines langen, struppigen Bartes erhalten, der ihm eine gewisse Ähnlichkeit mit dem tolpatschigen Western-Blödel verlieh. Entweder ging es dem Alten momentan finanziell recht gut, oder er hatte ebenfalls Gefallen am „Dogfight“ gefunden. Seit der neue Automat hier aufgetaucht war, traf man Fuzzy beinahe täglich im Gamer’s Point an.

Basil verlangsamte seine Schritte. Er war das amtierende „Ace of Base“ – der Rekordhalter bei „Dogfight“. Eile war seiner nicht würdig! Also schlenderte er zu einem „Terminator III“-Flipper, der direkt neben dem „Dogfight“ aufgestellt war, und lehnte sich lässig an die Maschine. Die Teenager waren in ihre Diskussion vertieft und hatten Basil noch nicht bemerkt.

„...die Heinkel HE-111* war Scheiße! Viel zu langsam...“
„...die Focke Wulf 190* früher in Serie gebracht, wäre die Sache ganz anders...“
„...Hawker Hurricane*? Kein Vergleich zur Spitfire!...“
„...dann hole ich auch Hartmann* vom Himmel...“

Basil folgte der Diskussion eine Weile. „Dogfight“ hatte ihn animiert, sich mit der Luftschlacht um England auseinanderzusetzen. Inzwischen war er mit den technischen Daten und geschichtlichen Hintergründen sehr vertraut. Diese Teenies waren ebenfalls von „Dogfight“ beeindruckt und kannten wohl auch einige Details. Doch das umfassende, fundierte Know-How fehlte ihnen offensichtlich.

„...einfach nach unten weg tauchen und dann scharf hoch ziehen. Dann kommt die ME nicht mehr mit!“

Ein breites Grinsen machte sich auf Basils Gesicht breit. Der schmächtige, strohblonde Junge hatte gerade das richtige Stichwort geliefert. Basil entschied, daß es an der Zeit war, sich in Szene zu setzen.
Er rief laut: „Schwachsinn!“
Augenblicklich verstummten alle Gespräche. Nur das unablässige, elektronische Dudeln der Spielautomaten war zu hören.
Fünf jugendliche Augenpaare starrten Basil an. Sie warteten auf eine Erklärung. Basil stieß sich locker von dem Flipper ab und begann, in einem Halbkreis vor den Teenies auf und ab zu gehen.
Dabei dozierte er: „Das Wegtauchen mit einer Spitfire war alles andere als einfach. Denn: Der Rolls-Royce-Motor der Spitfire war mit einem Vergaser ausgestattet. Wenn die Maschine zu schnell Höhe abbaute, konnte der Vergaser wegen der negativen G-Kräfte* nicht genug Luft ansaugen und der Motor soff ab.“
„Ja, aber beim Spiel...“ hakte der blonde Junge ein.
„Vergiß es!“ rief Basil aus. „Es ist naturgetreu umgesetzt! Die Programmierer haben an alles gedacht. Um weg zu tauchen, muß man im Spiel die Spitfire zuerst auf den Rücken legen. Wenn du es auf andere Weise versuchst...“ Basil klatschte fest in die Hände. „Bumm! Game over.“
Der Blonde schaute ihn verunsichert an. „Echt?“
„Echt.“
Basil dozierte weiter: „Die Bf 109 hatte diese Probleme nicht. Sie verfügte über eine Einspritzpumpe. Der Motor konnte nicht absaufen.“

Er hatte sich warm geredet. Nun wollte er diesen kleinen Besserwissern eine Lektion erteilen, die volle Lebenserfahrung seiner stolzen 21 Lebensjahre ausspielen. Auf Konfrontation eingestellt, plapperte er munter drauf los: „Die Bf 109 war der Spitfire ohnehin überlegen. Wir hätten damals keine Chance gehabt, wenn die Tanks der 109 nicht zu klein gewesen wären. Zwei Minuten Luftkampf, mehr war nicht drin. Dann mußten die Deutschen sich zurückziehen. Ansonsten wären sie in den Kanal gestürzt. Wären die Tanks etwas größer gewesen, würden wir heute nicht mehr Englisch sprechen.“
„Der ‚Dogfight‘ sagt was anderes.“ meinte der Blonde halbherzig.
Basil beugte sich vor. Er überragte den Jungen um mehrere Zentimeter, und seine breiten Schultern isolierten den Kleinen beinahe völlig von dessen Kameraden.
Basil flüsterte: „Ach ja? Und was sagt er denn so?“
Der Teenie trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. „Die Spitfire ist viel besser.“
„Welche Seite hast du gespielt?“ fragte Basil, ohne seine Haltung und seinen Tonfall zu verändern.
„Die deutsche.“ antwortete der Blonde kleinlaut.
„Bis zu welchem Level?“
„Vier.“
„Abgeschossen worden?“
„M-hm.“
Basil richtete sich auf, trat an den Teenie heran und legte ihm in gespielter Freundschaft die rechte Hand auf die Schulter.
„Das liegt nicht daran, daß sie Spitfire besser ist als die ME.“ säuselte Basil in freundlichem Tonfall.
Der Blonde schaute ihn eingeschüchtert an.
„Das liegt daran, daß Du ein beschissener Pilot bist.“ sagte Basil laut. „Ich spiele nur auf unserer Seite. Weil ich eine Herausforderung brauche. Würde ich auf Seite der Deutschen spielen, dann hätte ich schon längst den 10. Level hinter mir.“
Ein hochgewachsener, dunkelhaariger Junge konterte: „Das hat noch niemand geschafft. Ich wette, du schaffst es auch nicht. Egal, welche Maschine du fliegst.“
Basil ließ von dem Blonden ab und wandte sich seinem Herausforderer zu. „Wenn du möchtest, dann beweise ich es dir. Die Wette nehme ich an.“
„Okay“, erwiderte der Junge und kramte aus seinen Hosentaschen einige Banknoten hervor. „Fünf Pfund. Mehr habe ich nicht. Aber die setze ich gerne auf unsere Flugzeuge.“
Unruhiges Gemurmel brach aus.
„Damit wäre mein Abend gerettet.“ sagte Basil grinsend und streckte dem Jungen die Hand hin. „Schlag ein!“

Der Junge schlug ein.
„Aber das Spiel zahlst du bitteschön selbst.“
„Gerne doch.“ erwiderte Basil spöttisch. „Und du paßt inzwischen auf meinen Jacke auf.“
„Gerne doch.“ gab der Junge frech zurück.
Basil quittierte diese Bemerkung mit einem herablassenden Lächeln und streifte seine abgewetzte, schwarze Lederjacke ab. Der junge Bengel nahm das Kleidungsstück mit einer spöttischen Verneigung entgegen und legte es auf dem „Terminator“-Flipper ab.

Wenige Minuten später saß Basil fest angeschnallt im Schalensitz des „Dogfight“ und zog die Datenhandschuhe über seine Hände. Ein Pfund in Münzen hatte bereits seinen Weg in den Geldeinwurfschlitz des Automaten gefunden.
„Dann wollen wir mal...“
Er warf den Teenies ein letztes, siegessicheres Grinsen zu. Dann schickte er sich an, den Helm über seinen Kopf zu stülpen.
In diesem Augenblick ertönte eine verrauchte, zerknitterte Stimme:

„Pauke Pauke!“

Basil blickte irritiert auf. Sein Blick fiel auf Fuzzy, der sich von den Geldspielautomaten abgewandt hatte und zum „Dogfight“ schaute.
„Das haben die Krauts immer gesagt, wenn sie einen Luftkampf angezettelt haben. ‚Wir machen Pauke Pauke‘. Und uns haben sie ‚Indianer‘ genannt.“ rief Fuzzy aus.
„Stimmt!“ gab Basil überrascht zurück. Er hatte nicht damit gerechnet, daß der bärtige Opa ein Veteran war. Er zog den Helm über seinen Kopf, wobei er peinlich genau darauf achtete, daß sein Augenbrauenpiercing nicht im Weg war. Dann befestigte er den Kinnriemen. Die beiden winzigen, vor seinen Augen angebrachten Displays erzeugten ein 3D-Stereobild*. Es zeigte eine Luftkampfszene. Basil bewegte seinen Kopf. Der Helm registrierte die Bewegung und paßte das Bild fließend an. Basil hatte den Eindruck, sich mitten in einer eingefrorenen Schlachtszene zu befinden.

Er richtete seinen Blick nach vorne. Dort schienen Worte in der Luft zu schweben:

„Bitte wählen Sie ihr Flugzeug mit dem Joystick. <Feuer 1> zum Bestätigen.“

Basil packte den Steuerknüppel und bewegte ihn leicht. Ein kleiner Mauszeiger erschien und wanderte durch die Szenerie. Basil manövrierte den Zeiger mit Hilfe des Steuerknüppels über eine Messerschmitt und drückte die vordere Feuertaste.

„Vielen Dank! Dann woll’n wir’s den Tommies* mal zeigen!“ ertönte eine schneidende Stimme mit einem unverkennbaren, deutschen Akzent in den Kopfhörern, die in die Seitenteile des Helms integriert waren. Im gleichen Augenblick begann die Kabinenhaube, sich zischend zu schließen.

„Okay Fuzzy!“ rief Basil aus. „Jetzt machen wir ein bißchen Pauke Pauke!“
„Ich heiße nicht Fuzzy!“ Die Stimme des Alten wurde durch den Helm gedämpft. „Mein Name ist...“

Die Haube schloß sich und blendete alle Geräusche von außen aus.

Basils private Luftschlacht um England begann.

Später
Gamer’s Point
Videohalle


Die beiden Pärchen hatten inzwischen die letzte Pool-Partie beendet und betraten neugierig die Videohalle, angelockt durch die vielen überraschten Aufschreie, den sporadisch ertönenden Applaus und das Rasseln und Ächzen der „Dogfight“-Kabine.
Die Teenager verfolgten die Luftschlacht gebannt am Flatscreen. Das Geschehen dort hatte sogar Fuzzy von seinen geliebten Geldspielautomaten fort gelockt. Die „Dogfight“-Kabine schlingerte wild hin und her und überschlug sich, wenn Basil eine Rolle oder einen Looping flog.
„Wahnsinn!“ rief einer der Teenies begeistert aus. „Level neun! Das gibt’s nur selten!“
„Deine fünf Pfund bist du los, Donnie.“ warf ein anderer ein.
„Vergiß‘ es.“ erwiderte Donnie, Basils Herausforderer. „Der hat’s schon oft bis Level neun geschafft. Ich geb‘ ihm noch zwei Minuten, dann beißt er in’s Gras.“

Im Inneren der Kabine schwitzte Basil aus allen Poren. Level neun war auf englischer Seite nicht zu schaffen. Auf deutscher Seite war es etwas einfacher, doch es kam erstmals das hinzu, was Basil als „Zeitstreß“ bezeichnete: Die Dauer des Levels war auf 4 Minuten begrenzt. Basils Aufgabe war es, Geleitschutz für ein Bombergeschwader zu fliegen. Mindestens 70% der Bomber mußten das Angriffsziel unbeschädigt erreichen und 60% der feindlichen Maschinen mußten zerstört werden.

Das Angriffsziel war London.

Beinahe eine volle Minute lang umkreiste Basil in der virtuellen Welt den Bomberschwarm und hielt nach Feindfliegern Ausschau. Die ultrarealistische 3D-Grafik würdigte er inzwischen kaum noch. Es kam ihm nur noch darauf an, seine Wette zu gewinnen.

„Achtung, Katschmarek!*“ ertönte die Stimme des Rottenführers in Basils Kopfhörern. „Indianer, zwei Uhr hoch, direkt aus der Sonne. Wir machen Pauke Pauke!“
Basil blickte in die angegebene Richtung. Tatsächlich, da kamen sie. Winzige Punkte am Himmel. Viele winzige Punkte.
Es wirkte wie ein Fliegenschwarm.
Der Schwierigkeitsgrad war auch auf der Seite der Deutschen aberwitzig. Doch dieses mal hatte Basil ein gutes Gefühl. Wenn er es heute nicht bis in den zehnten Level schaffte, dann würde er es niemals schaffen. Und er hatte mit seiner kühnen Behauptung Recht behalten: Die Messerschmitt war tatsächlich besser zu handhaben als die Spitfire. Die bislang längste Liste von Abschüssen belegte dies.
Basil riß den Steuerknüppel zur Seite. Die Kabine rollte und bockte leicht. Dann befand er sich mitten unter den Spitfires und preßte seine Finger auf die Feuertasten. Die automatischen Waffen der Messerschmitt röhrten los...

Der Kampf war kurz, hart und brutal. Basil war gerade dabei, sich die siebte Spitfire zum Abschuß zurechtzulegen, als seine Maschine plötzlich in den Horizontalflug überging.
„Glückwunsch, Herr Hauptmann!“ ertönte die Stimme des Rottenführers in den Kopfhörern. „Da habense den Tommies mal gezeigt, was ne Harke ist. 72% der Bomber haben’s bis zum Ziel geschafft. Nun aber ab nach Hause, bevor der Sprit ausgeht. Mission erfüllt! Dafür gibt’s das EK I*.“
Basil erlebte in diesem Augenblick, was es hieß, sich unbesiegbar zu fühlen.
Er schrie aus vollem Halse: „LEVEL ZEHN!“ – und verstummte augenblicklich, um die Vorbesprechung zur nächsten und letzten Mission nicht zu übertönen.

Die Displays im Helm wurden unvermittelt schwarz. Im gleichen Augenblick ertönte eine ruhige Stimme: „Stufe zehn. Pilot. Nun sind sie auf sich alleine gestellt.“ Basil war verwirrt. Was sollte das denn nun bedeuten?

Als die Displays wieder aufblendeten, war Basil überwältigt. Eine derart realistische Grafik hatte er noch nie gesehen! Auch der Sound hatte sich verändert. Das Dröhnen des Motors klang kerniger, und das leise Pfeifen des Windes an der Kabinenhaube war vorher nicht da gewesen. Basil meinte sogar, einen metallischen Geruch wahrzunehmen.
Er ließ seinen Blick durch das Cockpit schweifen. Alles schien greifbarer, realer.
Für einen Augenblick war er sich sicher, daß er in der Lage gewesen wäre, die Schalter am Armaturenbrett nicht nur durch pantomimische Gesten mit den Datenhandschuhen zu betätigen.
Er war sich sicher, daß er die Schalter auch fühlen konnte.

Er mußte es einfach ausprobieren.
Vorsichtig streckte er seine Hand nach dem Schalter für die Gemischverstellung aus.

Dieser kurze Augenblick der Unaufmerksamkeit kostete ihn das Spiel!

Als sein Finger nur noch wenige Millimeter von dem Schalter entfernt war, ertönte ein ohrenbetäubender Knall.
Basil schreckte hoch. Das letzte, was er sah, war die Unterseite einer Spitfire, die scharf vor ihm hochzog. Dann wurden die Displays schwarz. In den Lautsprechern knackte es einige Male, und der Sound verstummte. Die Kabine rollte kraftlos in die Horizontallage.
Etwas Heißes, Schmieriges klatschte gegen sein Kinn und beißender Geruch stieg ihm in die Nase. Er schrie laut auf und nestelte am Kinnriemen des Helms herum.
Schließlich gelang es ihm, den Verschluß zu öffnen und den Helm von seinem Kopf zu reißen. Er ließ ihn achtlos fallen und riß sich die Datenhandschuhe von den Händen. Dann wischte er sich energisch über das Gesicht, um die heiße Schmiere zu entfernen.
Das Innere der Kabine stank inzwischen penetrant nach verbranntem Plastik. Von außen drangen gedämpfte Schreie an Basils Ohren.
Er griff blindlings nach oben, bekam den Notfallgriff zu fassen, mit dem sich die Kabine manuell öffnen ließ, und zog heftig daran. Die Kabinenhaube glitt widerstandslos nach hinten, während Basil auf den Schnellverschluß der Hosenträgergurte schlug und sich so rasch wie möglich aus dem Schalensitz schwang.

„Was war denn...“ rief er aus – und verstummte sofort. Zu seiner Verwunderung schenkte ihm keiner der Anwesenden auch nur die geringste Aufmerksamkeit. Statt dessen waren die Blicke aller auf die Flipperautomaten gerichtet. Dünner, weißer Rauch kräuselte sich in der Luft.
Basil wandte sich zum „Dogfight“ um.
Auf den ersten Blick schien der Automat unversehrt. Dann entdeckte er das ausgezackte Loch am hinteren Ende der Kabine. Irgend etwas war hier wohl mit großer Wucht eingeschlagen.
Kälte breitete sich in Basil aus. Wenn etwas von hinten in die Kabine hinein geflogen war...
Er blickte in das Innere. Neben dem Schalensitz war ebenfalls ein Loch zu erkennen. Sein Blick wanderte nach links. Auch in die vorderen Verschalung der Kabine war ein Loch gestanzt.
Die innere Kälte wurde intensiver.
Mit unsicheren Schritten tappte er zur Front der Kabine. Diese fand er unversehrt. Was immer den Automaten getroffen hatte, es war nur Zentimeter an Basils Kopf vorbei geschossen und dann wohl im vorderen Bereich der Kabine stecken geblieben.
Basils Blickfeld verengte sich. Die Farben verblaßten.
„Scheiße“, dachte er, „ich kippe um.“

In diesem Augenblick ertönte Elgins Stimme vom Eingang der Videohalle: „Jesus, Maria und Josef, der Zimmermann! Was zur Hölle ist denn hier passiert?“
Der Schreck brachte Basils Kreislauf schlagartig in Schwung. Er wandte sich zu Elgin um – ebenso wie alle anderen Anwesenden.
„Der Terminator-Flipper...“ stammelte Donnie. „Er... er ist einfach zerplatzt.“
Elgin stapfte sofort in Richtung des Flippers los. „Wollt ihr mich verarschen?“ brüllte er unterwegs. „Flipper platzen nicht einfach. Was habt ihr Idioten damit gemacht?“
Basil schaute sich den Flipper an. Das Glas der Anzeigetafel wies ein großes Loch auf. Alle Lichter des Automaten waren erloschen.
„Heilige Scheiße!“ schrie Elgin in höchstem Falsett, nachdem er den Flipper inspiziert hatte. „Das darf doch nicht wahr sein! Habt ihr Blödmänner da rein geschossen, oder was?“
„Hey Wamba.“ rief Basil, der inzwischen seine Sprache wieder gefunden hatte. „Den ‚Dogfight‘ hat’s auch erwischt.“
Elgin fuhr herum und musterte Basil.
„Wie siehst du denn aus, du Punk?“
Basil blickte verwirrt an sich hinunter. Sein ehemals weißes T-Shirt war über und über mit einer schwarzen, klebrigen Flüssigkeit besudelt. Vermutlich das gleiche Zeug, das in sein Gesicht gespritzt war. Er berührte die Schmiere vorsichtig mit dem Zeigefinger. Sie war noch immer warm und verströmte einen beißenden Geruch.
„Das... ich weiß nicht... vielleicht ist das Hydrauliköl vom Automaten...“ stammelte er.
„Scheißdreck!“ schrie Elgin zurück. „Das Ding hat keine Hydraulik...“

Dann entdeckte Elgin das Loch in der Kabine.
Er erstarrte.
„Jetzt werd‘ ich aber verrückt.“ flüsterte er gefährlich leise.
Im nächsten Moment ging er mit fliegenden Fäusten auf Basil los.
„Du Scheiß-Punker! Du verdammter Chaot! Du hast meinen besten Automaten ruiniert!“
Die Zuschauer wichen erschrocken zurück. Innerhalb weniger Sekunden hatte Elgin den völlig überraschten Basil erreicht und krallte seine feiste Hand in dessen besudeltes T-Shirt. Eine Naht riß deutlich hörbar.
„Ich hau‘ dir dermaßen in die Schnauze, daß dich deine Mutter nicht mehr erkennt!“ plärrte der Dicke.
Im gleichen Augenblick flackerten Basils Augen ärgerlich auf. Er trat mit dem rechten Bein einen Schritt zurück und versetzte Elgin einen ansatzlosen, harten Schlag in die Magengrube. Seine Faust verschwand bis zum Handgelenk in den Fettmassen.
Wie ein Teekessel pfeifend ging Elgin zu Boden.

Basil bebte vor Zorn.
„Ich hab‘ hier gar nichts kaputt gemacht! Dein dämlicher Flipper hätte mich beinahe gekillt, du Arschloch!“ schrie er wie von Sinnen. „Schau dir die Scheiße doch mal an! Du kannst mich mal, du fettes Schwein. Ich werd‘ dich verklagen, bis dir schwarz vor Augen wird.“
Er wandte sich um, stapfte zum zerstörten Flipper hinüber und packte seine Lederjacke. Die Wut ließ seine Hände zittern. Aus den Augenwinkeln nahm er Fuzzy wahr, der sich an der Wand hinter dem Flipper zu schaffen machte.
Ohne einen weiteren Gedanken an das verschmierte T-Shirt zu verschwenden, zog sich Basil die Jacke über. Als er sich zum Gehen wandte, stand Donnie vor ihm und streckte ihm einige Banknoten hin.
„Scheißspiel, Ace. Aber Wette ist Wette, und du hast gewonnen.“
Basil blickte ihn einen Moment lang ungläubig an. Dann schob er Donnies Hand zurück. „Laß‘ mal stecken, Kleiner. Ist schon gut...“
Im nächsten Augenblick legte sich Fuzzys Hand sanft auf seinen Unterarm. Basil erschrak und drehte sich ruckartig zu dem Alten um.
„Hier, Junge.“ Der Alte drückte einen kleinen, harten Gegenstand in Basils Hand. „Das hat dich getroffen.“
Basil schaute sich den Gegenstand an. Es handelte sich um einen bis zur Unkenntlichkeit deformierten Klumpen Metall.
Fuzzy rückte dicht an ihn heran.
„Laß‘ besser die Finger von diesem Teufelsspiel.“ krächzte er. Dann wandte er sich um und schlurfte davon.

Basil blieb völlig verwirrt zurück. Eines wußte er sicher: Er würde nie wieder einen Fuß in diese Spielhalle setzen.

Auf dem Weg zum Ausgang traf Fuzzy den blonden Jungen, der aufgeregt auf einen anderen Teenager einredete.
„Mann, hast du das gesehen? Level zehn, ohne jede Probleme. Sobald der ‚Dogfight‘ wieder in Ordnung ist, klemme ich mich ran. Und wenn mein ganzes Taschengeld dabei draufgeht. Das schaffe ich auch. Und dann werde ich nicht pennen, sondern die Spitfires abknallen. Hast du die Grafik gesehen? Das ist...“
Fuzzy tappte weiter.

Wenige Minuten später
„Fuzzys“ Wohnung


Auf dem Nachhauseweg hatten ihn die Erinnerungen geplagt.
Vor seinem geistigen Auge lief immer wieder die gleiche Szene ab...

greller blitz auf drei uhr
vorbei zischende leuchtspurgeschosse
die maschine seines flügelmannes zerbricht
eine abgerissene tragfläche wirbelt davon
die spitfire des flügelmannes montiert ab*
eine abdrehende messerschmitt
eine scharfe wende
den finger am abzug
feuerbereit
die rauchspur der abstürzenden spitfire teilt den blauen himmel in zwei hälften

keine messerschmitt

nichts

nicht das geringste

das radar in dover hat keine feindflieger bemerkt

„es war ein unfall.“ sagt der geschwaderkommodore später. „materialermüdung. verdammte schlamperei des bodenpersonals...“


Fuzzy schlurfte durch sein Wohnzimmer zur „Kriegsecke“. So hatte seine geliebte Beth die Bildergalerie stets genannt, die Fuzzy in einer Ecke des Zimmers angelegt hatte. Seit Beths Tod sprach Fuzzy mit den Bildern seiner gefallenen Kameraden. Andere Freunde waren ihm nicht geblieben.

Er nahm eines der Fotos von der Wand und trug es zum Couchtisch. Dort löste er das Bild vorsichtig aus dem Rahmen. Es zeigte einen ernst blickenden, jungen Mann im Cockpit einer Spitfire. Ein Teil des Flugzeugrumpfes war zu sehen, auf dem eine Reihe von fünf deutschen Balkenkreuzen angezeichnet war – die Anzahl der deutschen Flugzeuge, die der Pilot abgeschossen hatte.
Mit Hilfe eines weißen Abdeckstiftes und eines schwarzen Filzschreibers fügte Fuzzy vorsichtig ein weiteres Balkenkreuz hinzu. Dann schaute er sich das Foto intensiv an.

„Den Abschuß hast du dir verdient, alter Junge.“ krächzte er. „Ich habe es geahnt. Frag‘ mich nicht warum. Ich habe es einfach geahnt. Hab‘ sogar das alte Browning-Geschoß aus der Wand puhlen können. Ich hab’s dem Jungen geschenkt, den du abgeschossen hast. Als Andenken.“
Er lachte kurz auf.
„Weißt du, wer diesen teuflischen Spielautomaten gebaut hat? Eine deutsche Firma. Sie hat so einen modernen Namen, den kein Mensch aussprechen kann.“
Er schob das Bild wieder in den Rahmen zurück und trug es zu seinem angestammten Platz an der Wand. Dort hatte das Bild im Laufe der Jahre einen rechteckigen, weißen Fleck auf der vergilbten Tapete hinterlassen. Er hängte das Bild auf und achtete sorgfältig darauf, daß es korrekt ausgerichtet war. Dann trat er einen Schritt zurück und betrachtete die Fotografie erneut.

„Ich hab‘ bei denen angerufen. Hatte einen jungen Mann dran, der ausgezeichnetes Englisch sprach. Er hat mir erzählt, daß der Automat ein ‚Prototyp‘ ist. Ich glaube, das heißt, daß es nur einen einzigen gibt. Stell‘ Dir vor: Die haben ausgelost, in welcher Spielhalle das Ding aufgestellt wird. Der Kerl erzählte, man habe sich sehr gefreut, daß das Los auf eine Spielhalle in England fiel. Ich hab‘ ihn gefragt, was sie mit diesem Ding planen. Weißt du, was er gesagt hat? Er sagte: ‚Wir wollen Marktführer werden.‘“
Er ließ ein weiteres, freudloses, holperndes Lachen ertönen.
„Marktführer! Was für ein Witz! Dann hat er erzählt, daß sie planen, diese Automaten überall aufzustellen. Sie wollen außerdem noch einen Automaten bauen, mit dem man Panzerschlachten spielen kann. Das Größte war aber, daß dieser Mensch meinte, man könne mit diesen Automaten ‚die Geschichte neu schreiben.‘“

Sein Lachen erstarb.
„Ich hab‘ Angst, alter Junge. Seit heute weiß ich, daß dieser Mann nicht gelogen hat. Die können das wirklich. Irgendwie haben die einen Weg gefunden, zurück zu gehen. Und diese verdammten Krauts haben dafür gesorgt, daß nur die Besten zurück gehen können.“
Er senkte resigniert seinen Blick.
„Wenn diese Automaten in der ganzen Welt aufgestellt werden, dann kann ich sie nicht aufhalten. Es heißt zwar, daß die Zeit alle Wunden heilt. Aber vielleicht haben die Krauts einen Weg gefunden, doch noch zu gewinnen. Wenn das wirklich so ist, dann bringe ich mich um.“

Er griff in das Innenfutter seiner speckigen Jacke, die er noch nicht abgelegt hatte, und zog einen alten Offiziersrevolver hervor.
„Ach Geoffrey, wenn du doch nur bei mir sein könntest!“
Er überprüfte den Ladezustand des Revolvers, wie er es schon so oft getan hatte.
„Ich glaube, ich habe heute den Jungen gesehen, der dich abgeschossen hat, Geoffrey. Aber ich bin mir noch nicht ganz sicher. Ich werde ihn beobachten.“

Er wandte sich von dem Bild ab und ging zur Küche, um sich einen Tee aufzubrühen. Den Revolver legte er vorsichtig auf dem Couchtisch ab.
„Wenn dieser kleine Blonde derjenige ist, für den ich ihn halte, dann knalle ich ihn ab. 1941 habe ich es nicht geschafft. Aber heute werde ich es schaffen. Ich hab‘ dir versprochen, auf deine Sechs-Uhr-Position aufzupassen, Geoffrey, und dieses Versprechen halte ich. Auch wenn ich die Welt vielleicht nicht retten kann – ich rette zumindest dich, mein Freund. Der alte Timothy paßt auf dich auf...“

Ende

Glossar

- Banditen: Englischer Spitzname für feindliche Flugzeuge

- Krauts: Englischer Spitzname für deutsche Soldaten im Zweiten Weltkrieg

- As: Erfolgreicher Jagdflieger, der viele Abschüsse vorweisen kann. Ace of (the) base bezeichnete den erfolgreichsten Flieger des Geschwaders. Später eine Popgruppe...

- Rotte: Eine aus zwei Flugzeugen bestehende Gruppe; die kleinste Einheit in einem Geschwader, bestehend aus dem Rottenführer und dem Flügelmann (bei den deutschen Jagdfliegern auch Katschmarek genannt).

- Uhrzeitangaben („...zwölf Uhr tief...“): In diesem Fall Positionsangaben. „Zwölf Uhr“ bedeutet, daß sich ein Flugzeug direkt vor der eigenen Maschine befindet. „Drei Uhr“ bedeutet, daß sich ein Flugzeug genau rechts von der eigenen Maschine befindet usw. Die Angaben „hoch“ oder „tief“ beziehen sich auf die Höhe des anderen Flugzeuges relativ zur eigenen Maschine.

- Sechs Uhr: Die Position genau hinter der eigenen Maschine. Im Luftkampf die gefährlichste Position, die ein Feindflugzeug einnehmen kann.

- Dogfight: Englischer Begriff für „Luftkampf“.

- Heinkel HE-111: Zweimotoriger, deutscher Bomber im Zweiten Weltkrieg.

- Focke Wulf 190: Deutsches Jagdflugzeug im Zweiten Weltkrieg.

- Hawker Hurricane: Englisches Jagdflugzeug im Zweiten Weltkrieg.

- Hartmann: Gemeint ist hier Erich „Bubi“ Hartmann, ein erfolgreicher, deutscher Jagdflieger im Zweiten Weltkrieg. Über ihn wurde ein Buch mit dem Titel „Holt Hartmann vom Himmel!“ verfaßt.

- G-Kräfte: Maßeinheit für die Erdbeschleunigung. 1 G entspricht der einfachen Erdanziehungskraft, der wir ständig ausgesetzt sind.

- Stereobild: „Echte“ 3D-Darstellung. Es werden zwei Bilder einer dreidimensionalen Szene erzeugt. Eines für das rechte, eines für das linke Auge. Dieser Effekt wird unter anderen in den IMAX-Kinos oder am PC mit dem „Elsa-3D-Revelator“ umgesetzt.

- Tommies: Deutscher Spitzname der englischen Soldaten.

- Katschmarek: Gängiger deutscher Spitzname für den Flügelmann des Rottenführers.

- EK I („Eisernes Kreuz Erster Klasse): Begehrtes deutsches Ehrenabzeichen im Zweiten Weltkrieg.

- Abmontieren: Anderer Ausdruck für „Abstürzen“.

Vielen Dank an:

Gaby, für das unermüdliche Korrekturlesen und die Motivation. Und dafür, daß Du Du bist
Pitti, für das Überprüfen der technischen Daten
Mondael, weil Du mir aus der Zwickmühle geholfen hast
Alex, weil Du es einfach nur „cool“ fandest
Babba, weil Du diese Geschichte vor über 20 Jahren „gezündet“ hast
 

jon

Mitglied
Teammitglied
Das hat sich das Abo also gelohnt…

Sehr gut geschrieben.

Ich habe nur zwei Sachen zu bemängeln: Die Brillanz leidet unter einem zu langen Schluss, der wiederum so lang nicht nötig gewesen wäre, wäre die "äußere" Geschichte einen Tick einfacher gestrickt gewesen: Der Typ, der sich im ersten Teil schwört, die Messerschmitt Bf 109-E runterzuholen, ist auch der, der diese spezielle (die im ersten Kapitel auftauchte) dann in der Spielhalle "runterholt".
Anmerkung drei: Muss der Weg Basils durch die Spielhalle wirklich so lang sein?

Aber ansonsten: hervorragend geschrieben.

PS: Als SF-Leser schwante mir im ersten Absatz schon, was es mit der "nicht vorhandenen" Maschine auf sich hat, als das zweite Kaptiel anfing, wusste ich es (zumindest die Grundidee). (Was mich einen Moment fragen ließ: Wozu jetzt hier noch so viel Text?) Nur dass es eine deutsche Firma war, die das Spiel baute, war unerwartet – aber selbst da hätte das Selbstgespräch von Fuzzy nicht (oder nicht so langgezogen) sein müssen, um die Frage nach dem "Warum" zu beantworten.

PPS: Steht der Text absichtlich nicht im F/SF-Forum? Eben weil ein "Eingeweihter" die eine Pointe schon zu zeitig sieht?




(Moderatoren-Vermerk: Daraufhin wurde der Thread auf Autorenwunsch zu F/SF verschoben…)
 

Mazirian

Mitglied
Super Geschichte! Und wunderbar erzählt. Ist auch handwerklich wohltuend sauber gemacht. Besonders die vielen technischen und fliegerischen Details machen das Ganze sehr dicht und authentisch. Erinnert mich an wenig an "Ein Falke unter Spatzen" von Dean McLaughlin - solltest du unbedingt lesen, wenn du's noch nicht kennst.
Bis auf die schon angesprochenen Längen seh ich auch keine Schwachpunkte, die zu verbessern wären.
Eins vielleicht noch, aber das mag eher mein Problem sein: ich hab bis zum Schluß gebraucht um die Pointe mitzukriegen und bin mir selbst jetzt noch nicht ganz sicher (obwohl ich auch schon seit über 30 Jahren SF lese ;)).
Deutsches Unternehmen setzt hochspezialisierte Game-Freaks in als Spielautomaten getarnte Zeitmaschinen und versucht so nachträglich den Krieg zu gewinnen? Isdochso-oder? Oder seh ich das jetzt zu naiv? Dann MUSS die Firma allerdings eine deutsche sein! ...Globalisierung mal außen vor.

Ich vermute, du hast den Schlußteil gerade deshalb so umfangreich gehalten, um die Pointe deutlich herauszuarbeiten. Ging für mich aber in der Menge des Textes ein bißchen unter.

Aber wie gesagt: klasse Story, Danke!

schönen Gruß

Achim
 
Echt super. Fragte mich am Anfang, was das mit SF zu tun hat. Jetzt weiß ich's.
Ich finde die Beschreibungen nicht wirklich zu lang. Sie runden die Story ab. Bei mir erzeugten sie eine Art Leserausch. Ich konnte nicht aufhören zu lesen, um zu erfahren wie es weitergeht.
Also: Spitze.

L.C.
 



 
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