Pflegestufe 3

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Vera-Lena

Mitglied
Liebe Dorothea,

"wenn der Schrei nach Nähe sich im Notruf tarnt" besser kann man die Unbarmherzigkeit letzter Tage in einem Pflegeheim kaum auf den Punkt bringen.

Ich finde es auch beeindruckend, dass Du diese Thematik in eine Wenn-Dann-Form bringen konntest. Sie bringt in aller Knappheit und ganz unaufdringlich Dein Anliegen zum Ausdruck:

Vieles könnte einfacher sein für Menschen in einer so schwierigen Situation, wenn sie nicht immer denken würden:"Mich trifft das nienmals". An das Ende zu denken dann und wann, ist keine Zeitverschwendung, in der Jugend mit alten Menschen zusammen zu sein, weil sie so Vieles wissen, was man selbst noch nicht erlebt hat, weil man sich auf Vieles vorbereiten kann, was kommen wird, weil es einfach reizvoll und faszinierend sein kann von Mensch zu Mensch natürlich in unterschiedlichem Maße, ja das ist auch keine Zeitverschwendung.

Ich freue mich über Deinen Text.

Liebe Grüße von Vera-Lena
 

Dorothea

Mitglied
Liebe Vera-Lena,

vielen Dank für Deinen Kommentar. Bei solchen Themen habe ich eigentlich immer Angst vor einem zu viel an Emotion, vor dem Abgleiten in ein unangemessenes Pathos oder vor einem sprachlichen Gestus, der wie ein erhobener Zeigefinger wirkt. Andererseits führt der Versuch, alle diese Dinge zu meiden manchmal zu sehr unterkühlten Texten.
Es freut mich, dass mein Anliegen sich verständlich machen kann.
Dir eine segensreiche, vorösterliche Zeit!
 
B

bonanza

Gast
ich stolpere lediglich über das "fast".
ansonsten: du sprichst in wenigen versen eine ungeheuere
hilflosigkeit inmitten unserer gesellschaft an.
sehr intensiv.
pflegestufe 2 reicht schon.

bon.
 

Vera-Lena

Mitglied
Liebe Dorothea,

über das "fast" habe ich mir auch Gedanken gemacht. Aber ich kann das nicht einschätzen, wieviel Möglichkeiten man bis zum Schluss nicht doch noch hat, um in seine eigenen Tiefen vorzustoßen. Nein, das weiß ich wirklich nicht, und deshalb hatte ich Dir dazu nichts geschrieben.

Liebe Grüße von Vera-Lena
 

Dorothea

Mitglied
Lieber Bonanza, liebe Vera-Lena,

da habt Ihr sehr exakt den Finger auf die entscheidende Stelle gelegt. Ich halte es in diesem Gedicht so, wie ich es auch am Bett eines Sterbenden praktiziere. Nichts beschönigen, das würde dem Leid des Schwerstkranken Hohn sprechen, aber auch nicht Formulierungen wählen, die jede Hoffnung abschneiden. Was ein Mensch in seiner Not an Reserven (woher auch immer) noch ausschöpfen kann, wage ich in keinem Fall vorauszusehen. Niemals aber werde ich einfach so sagen: "Jetzt liegst Du da, und es ist zu spät!".

Danke für Eure Rückmeldungen!
 
B

bonanza

Gast
das würde ich einem sterbenden auch nicht ins gesicht sagen,
dorothea.
ich dachte aber, dass du deine menschlich nachvollziehbare
zurückhaltung zugunsten der wahrheit in deinem gedicht
ablegen könntest.
die kunst darf die grausamkeit schonungslos aufzeigen.
sie bedient sich dazu sogar der überzeichnung.
das ist meine hauptkritik an deinen sehr eindringlichen
versen zu einem thema, welches zur heuchelei einlädt -
was leider mal wieder an den bewertungen abzulesen ist.
nach dem motto: ich könnte das nicht, was du tust, aber
ich bewundere deine arbeit ...

da schüttelt`s mich immer.

bon.
 

Dorothea

Mitglied
Hallo Bonanza,

dass die Kunst der Wahrheit dienen soll, darin stimme ich völlig mit Dir überein! Nur bin ich mir nicht so ganz sicher, ob das "fast" schon die Leugnung der Wahrheit oder gar Heuchelei bedeutet.
Deine Anmerkung wegen der Bewertung verstehe ich nicht ganz. Meinst Du, die Leser hätten meine ehrenamtliche Arbeit und nicht meine Verse bewertet? Wenn das so wäre, fände ich es auch, gelinde gesagt, irritierend. Doch woraus schließt Du das?
 

chrissieanne

Mitglied
Hallo Dorothea,
ich hab nur deinen text gelesen (für die komms war ich zu müde, morgen vielleicht) und mein kommentar ist ein schlichtes "wow". in wenigen, gar poetischen worten die tragödie des pflegefalls ausgedrückt. und da steckt ja noch so viel mehr darin.
mein kompliment.
9.
 

Dorothea

Mitglied
Hallo chrissieanne,

vielen Dank für Deinen Kommentar! "mit wenigen ... Worten die Tragödie des Pflegefalls ausgedrückt", schreibst Du. Ja, genau darum ging es mir u.a., und die wenigen Worte sind dabei Absicht. Meiner Meinung nach kommt das Wort "Gedicht" u.a. von "dicht".
Dir einennschönen Tag.
 

Walther

Mitglied
Hallo Ihr Lieben,

auch ich bin mit diesem Thema beruflich befaßt und privat in der Familie betroffen. Leider ist das längere Leben mit einigen Kehrseiten verbunden, die wir nicht haben wissen können und die uns in einer Zeit des abnehmenden Wohlstands und der verschwindenden Barmherzigkeit treffen. Unangenehme Dinge scheinen immer zum unpassendsten aller Momente einzutreten.

Ebenso wie an unseren Kindern kommt unser gesellschaftliches (Werte-)System bei den alten und pflegebedürftigen Menschen zum Schwur. So wie wir uns der Familie in Sachen Kinder verweigern, so scheinen wir das mit unseren alten Menschen zu tun. WIr legen das Thema zur Seite, als ob es uns nicht selbst in Wahrheit anginge, als ob nicht wir selbst einmal Kinder gewesen wären und einmal - wahrscheinlich - einsame, alte, pflegebedürftige Meneschen sein werden.

Es ist die Fixierung auf das Hier und Jetzt, in dem auch der Verzicht auf eigene Kinder steckt, die uns so verrohen läßt.

Ein treffender Text, der das ganze Elend der alten Menschen, das auch unser eigenes Ist - 14 Millionen Single-Haushalte bei 80 Millionen Einwohner mit wachsender Tendenz -, aufscheinen läßt, gerade noch zurückhaltend genug, damit er auch noch verarbeitet werden kann und gelesen wird.

Liebe Grüße

W.
 

Dorothea

Mitglied
Lieber Walther,

danke für Deine Zeilen! Sie sprechen aus, warum ich diese Verse geschrieben habe. Die Verdrängung und Tabuisierung der Notlage alter Menschen in unserer angeblich humanen Gesellschaft regt mich auf. Am liebsten würde ich eine Massenbewegung für menschenwürdige Pflegebedingungen auf die Straßen zaubern. Aber damit überfrachte ich natürlich die Möglichkeiten der Literatur.
Da du persönlich und beruflich von dieser Problematik betroffen bist, wünsche ich dir viel Kraft!!
 
B

bonanza

Gast
dorothea, ich möchte mich nicht an dem "fast" aufhängen.
nehmen wir die pflegestufe 2 - da ist das "fast" bestimmt
in den meisten fällen okay. du gehörst sicher nicht zu
den heuchlern, die ich meine.
bewertungsmäßig: mir fällt halt auf, dass die leute solche
thematiken übermäßig hoch bewerten. es hätte auch um kindes-
mißhandlung gehen können. es ist doch merkwürdig, dass
dort wo mehr weg- als hingeschaut wird, dann aber alle
ins selbe moralische horn blasen - zb: "unerhört sowas!"
oder "einfach furchtbar, wie die menschen im alter (als
pflegefälle) vor sich hinvegetieren!"
da kommt mir im falle der bewertungen der verdacht, dass
einige sozusagen alibibewertungen sind. ich gönne dir die
guten resonanzen, aber meine antenne für heuchelei ist
äußerst sensibel - spätestens seit ich aktiv in der pflege
arbeite.

bon.
 

Walther

Mitglied
Hi Bonanza,

ich wehre mich ein wenig gegen das Wort "Heucheln", das ist ein starkes Wort mit einem hohen potentiellen Beleidigungsfaktor, daher vorsichtig zu gebrauchen/genießen. Mir stellen sich auch die Nackenhaare, wenn ich Salbaderer und Betroffenheitsrhetoriker höre.

In einem anderen Falle jedoch stellen sich mir ebenfalls die Haare: Nämlich dann, wenn ich Menschen vorschnell vernichtende Urteile fällen sehe und das Gefühl habe, da erhebt sich einer über den Plebs. Das kann bei mir zu echten allergischen Reaktionen führen. ;)

Lieben Abendgruß

W.
 
B

bonanza

Gast
oh, walther, ich muß mich nicht bemühen, um über die menschen
vernichtende urteile zu fällen. ich gehe auch mit mir selbst
zu gericht. heucheln heißt doch, dass man sich und anderen
etwas vormacht, dass man vertuscht, dass man lügt und das
unter dem deckmantel gesellschaftlicher moral.
doppelmoral also in konsequenz. ich habe kein problem
damit, die heuchelei hier in diesem forum zu benennen.
in meinem beruf bin ich selbst heuchler - zugegeben - und
ich schäme mich manchmal, und oft verdränge ich auch, dass
ich bewußt wegsehe und nicht auf die barrikaden gehe.
im kleinen wie im großen.
jeder kennt die zwänge, in welchen er beruflich, familiär
oder gesellschaftlich steckt. wir wissen alle, warum wir
viel zu häufig die klappe halten, anstatt aufzuschreien,
zu protestieren, die heuchelei zu benennnen ...
wir wissen es alle.

man kann mir vorwerfen, dass ich die klappe an entscheidender
stelle halte - aber hier in einem forum, wo wir die kunst
hochhalten, da sage ich offen, was mir auf der seele
brennt!!!

bon.
 

Mirko Kussin

Foren-Redakteur
Hallo Dorothea,
hhmm ... ich glaube hier wurde dem Thema sehr viel Aufmerksamkeit geschenkt, der Umsetzung etwas weniger, deswegen von mir ein paar Anmerkungen.
Das Bild der wegbrechenden Kulissen klingt zwar erstmal großartig und so schön lyrisch, aber es hinkt etwas. Kulissen zeichnen sich dadurch aus, dass dahinter eben nicht ist. Sie zeigen zweidimensional etwas, was dreidimensional nicht vorhanden ist. Deswegen ist das Bild der wegbrechenden Kulissen in Verbindung mit den Mauern, die man sieht etwas holperig - warum nicht einfach die Leere? Den nackten Himmel? Irgendetwas, vielleicht ist die Welt ja vom Bett aus betrachtet komplett zur Kulisse geworden, weil sie eben nicht mehr erreichbar ist. Für den der da im Bett liegt gibt es keinen Unterschied zwischen Kulisse und Realität, er hat nicht mehr die Möglichkeit zu unterscheiden.

Witzwort und Märchentraum sind meiner Meinung nach Doppelungen, die der Text nicht braucht. Warum nicht nur Traum, oder nur Märchen. Beide Worte sagen alleine auch schon genug, zusammen sind sie etwas holzhammerig ;) Gleiches gilt für Witz und Wort.

Der sich tarnende Schrei nach Nähe gefällt mir, das ist ein schönes Bild.

Und die letzte Strophe will mir irgendwie auch nicht so richtig in den Sinn. Einüben ist meiner Meinung nach zu positiv konotiert, als dass es in diesem Zusamenhang passend wäre. Ok, ich muss als Schüler auch Latein üben ... aber irgendwie will mir das nicht so richtig gefallen. Akzeptieren, abfinden, annehmen ...sowas geht mir durch den Kopf ... einüben nicht.

Liebe Grüße
Mirko
 

Vera-Lena

Mitglied
Hallo Mirko,

ich denke mit Kulissen hat Dorothea gemeint, dass der Mensch, so lange er gesund ist, sich einen Lebenshintergrund sebst erschaffen kann. Das betrifft alle äußeren Dinge, die Wohnungseinrichtung, die Kleidung, aber auch die ganzen Beziehungen, die man aufgebaut hat, zu Nachbarn usw.

Plötzlich ist das alles wie verschluckt.

Ich erhoffe mir immer für mich selbst, falls ich nicht zu Hause sterben darf und dieser Prozeß einige Zeit in Anspruch nehmen sollte, dass ich wenigstens in einem Raum mit hellen Farben und freundlich Bildern diesen letzten Weg beschreiten kann.

Liebe Grüße von Vera-Lena
 

Mirko Kussin

Foren-Redakteur
Hallo Vera-Lena,
mir ist schon klar, dass die Kulissen nicht vor dem Fenster wegbrechen. Das Bild kann man nehmen, das ist ok. Mich stört die Verbindung mit den Mauern vor dem Fenster. Da hab ich mich vielleicht etwas undeutlich ausgedrückt, wobei ...nö ... ich schrieb auch beim letzten Mal schon
"Deswegen ist das Bild der wegbrechenden Kulissen in Verbindung mit den Mauern, die man sieht etwas holperig"
Diese zwei Begriffe sind zu gegensätzlich und sind zu dominant platziert (erste und letzte Zeile) für die Tatsache, dass sie sich eigentlich nicht aufeinander beziehen.
Vielleicht wäre Fassaden besser, zum einen, weil hinter ihnen durchaus etwas ist (und oft etwas unerwartetes), zum anderen transportiert der Begriff Kulisse durch seine Herkunft (Theater/Film) ja etwas unechtes, etwas gestelltes, etwas fiktives, aber nicht so etwas massives und reales wie eine Mauer. Ja, vielleicht würde Fassaden wirklich besser passen, weil dieser Begriff schöner diesen ganzen Lebenshintergrund einbezieht. Allerdings ist er auch abgegriffener. :(
Liebe Grüße
Mirko
 

Dorothea

Mitglied
Anmerkungen zur Metaphorik

Hallo Mirko,

verzeih, dass ich erst jetzt antworte, ich war krank. Natürlich hast Du Recht, daß ein Gedicht nicht nur inhaltlicher Betrachtung unterworfen werden sollte. Die form ist ja von entscheidender Bedeutung.
Ich habe kein festes Versmaß, keine Reime gewählt, also geht es in erster Linie um die verwendeten Metaphern bzw. um Kritik an der Wortwahl.

"Kulissen": Kulissen geben etwas vor, das real nicht exisitert, sie gaukeln z.B. ein Schloss vor, wo nur eine bemalte Theaterwand vorhanden ist. Meine Zeilen wollen vermitteln, dass die bisherige Realität eines Schwerstkranken, das, worauf er sich zeitlebens gestützt hat, (z.B. "ich kann meine Probleme selbst lösen") zerbricht. Seine jetzige Realität ist so dramatisch verändert, daß sie zur zerbrochenen Kulisse geworden ist.

Was bietet sich dem Blick nun an, der immer gleich ist, weil der Kranke den Körper nicht mehr selbst anders podsitionieren kann? Ein Blick durchs Fenster in eine "Realität", die auch unerreichbar und nutzlos geworden ist. Selbst wenn der Fensterblick sich auf Wiesen öffenen würde, wäre der kranke Mensch umgeben von den existentiellen Begrenzungen seines Zustands: eine traumatisierende Einsamkeit und Hilflosigkeit.

"Haben" ist der zentrale, verpflichtende, und letztlich zerstörerische Begriff der Konsumgesellschaft (vgl. Erich Fromm: Haben oder Sein), "Können" der Zentralbegriff der Leistungsgesellschaft. Beide Begriffe, lebensprägend früher, sind für den Kranken nicht nur absurd geworden, sondern es erweist sich, dass sie zum Hohn werden, wenn er jetzt auf sie setzen will, er muss etwas an ihre Stelle setzen, doch was?

Wenn ich für "Witzwort" oder "Märchentraum" etwas Besseres fände, würde ich sie durchaus ersetzen. Aber so wollte ich gerade durch die ungewohnte und auch nicht logische Dopplung der Gegriffe eine Wirkung erzielen.

Kann man ein Leben, das unter dem Trauma des totalen Autonomieverlustes steht, einüben? In der akuten Phase kann man das sicherlich nicht. Darum schreibe ich, es ist dann (fast) zu spät! Es geht mir darum, beim Leser u.a. zu erreichen, daß er nachdenkt über eine rechtzeitige Einübung von alternativen, lebensstiftenden Verhaltensmustern (Vertrauen, in der Stille sich zurechtfinden, etc.).

Danke für Deine anmerkungen. Sie haben mich angeregt, über den gesamten Text noch einmal nachzudenken.
 



 
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