Phantasie

ES REGNET BINDFÄDEN

Als Anna diesen Morgen vom Wecker geweckt wird, hört sie als erstes die Morgennachrichten. Mord und Totschlag hört sie nur und Politik. Das interessiert mich gar nicht, denkt sie. Der Wetterbericht ist auch nicht erbaulich. „Heute ist der Himmel bedeckt und es wird viel regnen. Die Regenwahrscheinlichkeit liegt bei 80%.“ Oh Mist, denkt Anna und windet sich aus ihrem Bett, streift ihr Nachthemd ab, geht sich schnell waschen und zieht danach ihren Trainingsanzug an. Der erste Blick aus dem Fenster. Es regnet, es regnet ununterbrochen. Verdammt, wenn der Regen doch nicht so nass wäre, könnte ich jetzt wenigstens draußen joggen gehen und nicht gleich vollkommen von Wasser triefen. „Bindfäden regnet es da draußen.“ ruft sie laut.

Plötzlich taucht eine Frau direkt vor ihr auf, praktisch aus dem Nichts steht sie gelassen vor ihr, mustert sie mit leuchtend goldenen Augen. Auf dem Kopf hat sie einen spitzen Hut, der silbern blinkt und ihr schwarzer Umhang, mit Sternen besetzt, umhüllt ihre schlanke Gestalt. „Was,“ ruft sie mit lauter Stimme. „du bist unzufrieden mit dem Wetter, du bist sogar richtig böse und wütend.“ Anna starrt die Frau an und erzittert. „Deine Prophezeiung soll Wirklichkeit werden. Heute regnet es Bindfäden.“ Das spricht sie und verschwindet mit einem Knall wie ein Donner.

Ich glaub, ich spinne, das habe ich mir doch nur eingebildet, oder? Die war so echt. Aber was soll’s. Der Blick aus dem Fenster lässt Anna jedoch vollkommen erstarren. Sie sieht lauter bunte Fäden vom Himmel fallen. Schnell rennt sie raus in den Garten. Der Rasen ist schon kaum noch zu sehen. Sie läuft über einen weichen Teppich von Wollfäden. Der Apfelbaum sieht aus, als ob er festlich bunt geschmückt ist.

Da kommen auch schon die Meiers aus dem Haus. Sie wollen zu ihrem Auto, winken Anna zu und bleiben dann abrupt stehen. Im Nu verheddern sie sich mit den bunten Bändern, stolpern über ihre eigenen Beine und kugeln auf dem Gartenweg. Sie fallen weich, denn inzwischen ist der Fadenteppich bestimmt 10 cm dick. Was mach ich denn jetzt bloß? denkt Anna. Ich bin an allem Schuld. Die drei Nachbarskinder kommen mit einem Jubelschrei auf die Straße gerannt. Bewerfen sich mit den Fäden, ziehen sie hinter sich her und behängen sich damit, bis sie aussehen wie kleine, bunte Fadenmonster. „Mama, Papa kommt mal schnell raus.“ schreien sie ins Haus. Und die Eltern kommen im Eilschritt herbeigerannt.

Inzwischen ist die Straße vollkommen bedeckt mit in allen Farben leuchtenden Fäden. Eine 15 cm dicke Schicht lässt die Autos stoppen, denn die Fäden verhaken sich in den laufenden Motoren und den sich drehenden Getrieben. Menschen steigen aus den Fahrzeugen und sind erst nur verwundert, dann blicken sie voller Staunen und Freude in den Himmel und lassen sich von den ununterbrochen sanft herabfallenden bunten Bindfäden die Gesichter streicheln.

Auch Erna hebt ihr Gesicht zum Himmel. Es ist ein wunderbares Gefühl auf der Haut, so weich und warm. Aus dem Haus hört sie die 9.00 Uhr – Nachrichten. Wieder Mord und Totschlag und Politik. Dann der Wetterbericht. „Heute ist der Himmel bunt und es regnet Bindfäden. Die Bindfaden-Regenwahrscheinlichkeit liegt immer noch bei 80%.“ Der Nachrichtensprecher scheint sich nicht zu wundern. Was ist nur los. So geht es doch auch nicht. Erna beginnt ihren Lauf zum Wald und verheddert sich immer wieder mit den langen bunten Fäden.

Alles löst sich auf. Nichts hat mehr seine ursprüngliche Farbe. Fäden hängen an den Bäumen und auf den Dächern, kleben an Fensterscheiben, liegen auf den Wegen und Straßen. Die Blumen werden alle bunt. Es gibt keine roten Rosen mehr und keine gelben Sonnenblumen. Überall nur bunte Fäden aus Wolle, Leinen, Baumwolle. „Das wollte ich nicht,“ ruft Erna laut. „ich will wieder meinen nassen Regen. Er soll die Fäden wegwaschen. Ich werde auch nie wieder so mit dem Wetter hadern.“ Das hört die Wetterfee und taucht mit einem Donnerschlag vor Anna auf. „Also, das gefällt Dir auch nicht.“ sagt sie mit lauter Stimme. „Dann hüte dich, was du sagst, denn es könnte zur Realität werden.“ Das sprach sie und verschwindet wieder.

Sofort fällt wieder der wunderschöne nasse Regen vom Himmel. Die Kinder können zur Schule, die Meiers rappeln sich auf. In den Autos werden die Scheibenwischer betätigt und vorsichtig fahren die Fahrzeuge an, um zu ihren Zielen zu gelangen. Anna geht zufrieden ins Haus und freut sich über einen faulen, gemütlichen Regentag.
 

flammarion

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