Protokoll einer Misshandlung

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anbas

Mitglied
Protokoll einer Misshandlung

6:30 Uhr
Wir stehen gemeinsam auf. Es ist nicht unsere Zeit - da sind wir uns einig. Bis zum Verlassen der Wohnung beschäftigt sich jeder mit seinem Kram. Die Müdigkeit ist zu groß, um mehr als das Nötigste miteinander zu besprechen. Wie jeden Morgen, fängt mein inneres Kind zu trödeln an. Ich lasse ihm die Zeit, die es braucht.

8:30 Uhr
Wir kommen im Büro an. Ich mache mir einen Kaffee. Das Kind ist mies drauf. Würde gerne etwas am Computer spielen. Aber da ist zu viel Arbeit, die erledigt werden muss. Ich erkläre es dem Kind, doch das hört nur mit halbem Ohr zu. Ich ahne Böses.

9:12 Uhr
Das Kind hat mich nun schon wiederholt gefragt, wie lange ich denn heute noch arbeiten muss. Nach dem sechsten Mal habe ich aufgehört zu antworten.

9:57 Uhr
Das Kind spielt mit mir "Ich sehe was, was du nicht siehst". Es sind immer Sachen, die draußen zu finden sind. Dort ist herrliches Wetter und ich muss arbeiten. Ich sage dem Kind, es soll endlich still sein.

10:35 Uhr
Das kleine Monster will immer noch spielen. Zwischen zwei Telefonaten erkläre ich ihm in schärfsten Tönen, dass ich wirklich keine Zeit habe.

10:41 Uhr
Dieses Monsterkind lässt nicht locker. Ich ignoriere es.

10:52 Uhr
Mein Gott, dieses Kind! Es wird jetzt richtig quengelig. Ich sage ihm noch einmal sehr deutlich, dass ich keine Zeit habe und dass es mir mächtig auf den Zeiger geht. Es schmollt. Ich spüre es genau. Diese Nervensäge!

11:02 Uhr
Das Gör meldet sich schon wieder zu Wort. Ich atme tief durch und konzentriere mich auf die Abrechnungen. Aber es lässt nicht locker. Mein Blick wird starr. Vor meinem inneren Auge werden Messer gewetzt.

11:16 Uhr
Das Gör mault und fängt an Blödsinn zu machen. Ich schnauze eine Kollegin an, die mich etwas fragen will. Entschuldige mich sofort. Drohe dem Kind mit Stubenarrest.

11:28 Uhr
Der Balg nervt mich mit dummen Fragen, quasselt ständig auf mich ein - auch, wenn ich gerade telefoniere. Ich brülle wütend auf. Mein Chef schaut irritiert ins Büro. Meinen Beteuerungen, es sei alles in Ordnung, scheint er nicht wirklich Glauben zu schenken. Spüre, dass mein Kiefergelenk total verspannt ist.

11:31 Uhr
Jetzt fängt dieser Balg auch noch an zu heulen. Ich habe Kopfschmerzen. Merke, dass ich Fehler gemacht habe und die Hälfte meiner Arbeit für den Reißwolf ist. Kann mich nur mühsam beherrschen, dem Balg keine zu Scheuern.

11:47 Uhr
Das Aas schreit und stampft mit den Füßen. Ich raste aus, schlage wild um mich, trete den Papierkorb durchs Büro. Mir ist übel, mein Kopf scheint zu explodieren.

11:55 Uhr
Mein Chef schickt mich nach Hause. Er meint, ich bräuchte nicht so schnell wiederzukommen. Das Miststück von Kind singt während des gesamten Heimwegs "Hänschen klein ging allein". - Zu Hause werde ich es mit Bier vergiften.
 

Sommerwind

Mitglied
dieses Thema ist mir zu ernst um es (gut) zu benoten.
Habe beim Lesen Gänsehaut bekommen.

Nachdenklich traurige Grüße an Dich schickt der Sommerwind
 
K

KaGeb

Gast
Jaja, das sind die "Alltags"-Probleme mit dem inneren Schweinehund. Manchmal kann man den nicht besiegen :)

Gefällt mir, Anbas. Würden wir alle nicht (oft) lieber andere Sachen machen?

LG, KaGeb


P.S.: @Sommerwind: zwischen den Zeilen lesen, dann gruselt´s auch nicht :)
 

anbas

Mitglied
Ich danke Euch für Eure Rückmeldungen. Ja, der innere Schweinehund hat viele Gesichter, Stimmen und Launen ;). Hier habe ich ihm mit etwas Augenzwinkern ein wenig Platz eingeräumt.
Sicher, in einer tieferen Schicht finden sich auch Aspekte, die dann nicht mehr so witzig sind. Denn der innere Schweinehund kann auch ein Wächter sein, der dafür sorgt, dass man sich nicht überanstrengt, der einem auch die angenehmen und bequemen Seiten des Lebens zeigt. Somit findet in diesem Text fast schon eine doppelte Misshandlung statt - die des inneren Kindes/Schweinehundes und die des Prots.
Daher kann bei diesem Text einem durchaus auch das Lachen im Halse stecken bleiben. Schwerpunkt und Intention dieses Textes war aber wirklich der leichtere, humorvolle. Sonst hätte ich ihn nicht in dieses Forum gestellt.

Liebe Grüße

Andreas
 
Schwerpunkt und Intention dieses Textes war aber wirklich der leichtere, humorvolle.
Lieber Andreas,

genau so ist der Text bei mir angekommen. Mein Kind hat sich diebisch gefreut, weil ihm alles so bekannt vorkam. Ganz wunderbar geschrieben, toller Einfall!

Morgendlichen Gruß,
Estrella
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
na,

da kann das kind noch glücklich sein, dass es nur mit bier vergiftet wird. ich könnte auch zu härterem greifen . . .
lg
 

domino

Mitglied
Köstlich! Die Überschrift hat mich allerdings erst zögern lassen, den Klick zu setzen, aber der Blick auf die Rubrik räumte dann die Zweifel aus.
Liebe Grüße
domino
 

Lisa König

Mitglied
Hallo Anbas,

erst dachte ich, Du seist schwanger und hast mit dem strampelnden Baby im Bauch zu tun oder Du sagst gleich - "und dann bin ich endlich aufgewacht". Aber nischt. Außerdem habe ich dann Deinem Namen entnommen, dass Du ein Andreas bist und keine Andrea.
Es ist gut geschrieben, aber ich musste nicht einmal anseitsweise schmunzeln. Tut mir leid.

Trotzdem liebe Grüße von
Lisa König
 
R

Rose

Gast
Hallo Andreas,

wunderbar hast du die Zwiesprache mit dem inneren Kind beschrieben. Wenn man es ignoriert, gibt es Probleme ... Danke fürs Schmunzeln entlocken.

Blumige Grüße
Rose
 

anbas

Mitglied
Vielen Dank! Ich freue mich, dass dieser Text doch noch so viel Beachtung findet!

@ Estrella
Grüße an Dein inneres Kind ;). Schön, dass es Euch beiden gefällt.

@ flammarion
Ich versuche es ja sonst eher mit der Bonbon-Pädagogik (in Form von Schokolade, Salzkram und solchem Zeug), was man mir leider auch ansieht :). Aber manchmal müssen einfach härtere Geschütze ran...

@ domino
Ja, ich habe zunächst überlegt, ob ich die Überschrift ändern sollte. Aber sie passt einfach zu gut, auch wenn sie zunächst irreführend sein kann.

@ Lisa König
Danke auch für Deine Rückmeldung. Ich glaube, es ist kaum möglich, jedermanns / -fraus Humor zu treffen. Daher ein Extra-Dank für "Es ist gut geschrieben..."

@ Rose
Genau, ignorieren bringt Ärger, und irgendwann weiß niemand mehr, wer mit dem "Misshandeln" angefangen hat :D.

Liebe Grüße Euch allen

Andreas
 



 
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