Pseudo-Leben

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arle

Mitglied
"Die letzte Nacht war einfach un-be-schreib-lich!" Ich wappne mich für eine längere Abhandlung über anatomische Einzelheiten und Verknüpfungen, wie ich sie nicht einmal von meinem Liebsten wissen möchte. Diesmal war es der schönste Mann der Stadt. Hat sich aufgeführt wie ein Verrückter, hat praktisch auf der Fußmatte gekniet und um Einlass gewinselt. Genau wie der Udo damals. Ich weiß, ich sollte jetzt sagen: "Udo? Welcher Udo? Du meinst doch nicht etwa DEN Udo?". Daraufhin würde sie mir die Geschichte erzählen, wie sie jahrelang mit dem Panik-Orchester als Chorsängerin auf Tour war, und dass der Udo praktisch auf ihrer Fußmatte... Ich starre in meine Tasse, sie sieht mich erwartungsvoll an. Ein lahmes "ach" entringt sich mir, gefolgt von einem etwas engagierteren "toll".

Sie war ja jetzt in Berlin. Ich weiß. "Wie war's?" - "Einfach un-be-schreib-lich!". Also so was verrücktes wie diese Berliner. Haben sie angebetet. Alle. Sie weiß gar nicht, wen von den Kerlen sie als ersten anrufen soll. Die Gesprächsführung nimmt heute nicht ganz den von ihr gewünschten Verlauf; also wechselt sie die Strategie: "Und was gibt 's bei dir Neues?" - "Ach... Ich war grade zwei Wochen in Polen und...". Polen! Sie sondert einen Satz ab, der so klingt, als könne er polnisch sein. Das kann ich nicht beurteilen. Ihr Französisch kann ich beurteilen. Und ihr Englisch auch. Dieser Karl Tucholsky sei ja auch Pole gewesen. "Nicht ganz. Außerdem heißt er...". Ob ich von dem schon mal gehört habe? Habe ich; das erste Mal mit fünfzehn.

Jedenfalls: Wenn ich das nächste Mal ein Engagement brauche, soll ich mich an sie wenden. Sie hat ja jetzt diese Agentur gegründet und wird mich aufnehmen. Und dann komme ich endlich mal so groß raus, wie ich das verdiene. Die Kneipe, die sie aufgetan hat, ist einfach un-be-schreib-lich süß, mit einem wunderschönen kleinen Hinterzimmer; zwanzig Leute kriegt man da locker rein. Bisschen aufräumen muss man halt und den Krach von draußen einfach ignorieren. Aber fünfzig Euro Gage sind ja nun nicht gerade ein Pappenstiel, oder? - Ich freu mich drauf.

Dieser Moderator hat sich mal wieder gemeldet und will sich unbedingt mit ihr treffen. Aber wann soll sie das denn tun? Sie arbeitet ja praktisch sechsundzwanzig Stunden am Tag durch. "Verstehe, in deiner Agentur" - "Genau!". Jedenfalls wachse ihr das alles derart über den Kopf, dass sie am Abend einfach mal was trinken muss, zur Entspannung. Aber nie mehr als ein, zwei Gläschen. Wenn der Stress gar zu groß wird, auch mal ein, zwei Fläschchen.

Und dann setzt sie sich hin und schreibt die ganze Nacht. An Hans-Dietrich Genscher, der damals so hingerissen war von ihr, an die Witwe von Hanns-Dieter Hüsch, mit dem sie so eng befreundet war, und reimt ihre Gedichte, die demnächst veröffentlicht werden, und das Programm mit Liedern von Karl Tucholsky muss überarbeitet werden, und der Udo wird sich schon fragen, was denn mit ihr los sei, und unser gemeinsames Programm ist nächste Woche fertig, da soll ich mir gar keine Sorgen machen, und das Bild, das sie mir zum Geburtstag schenken wird, malt sich auch nicht von selbst, der weinende Harlekin, der so gut zu dir passt, mein Mäuschen...

Ich muss los, habe noch einen Termin. "Dann wünsche ich dir toi toi toi", sagt sie und sieht plötzlich sehr traurig aus.
 

arle

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"Die letzte Nacht war einfach un-be-schreib-lich!" Ich wappne mich für eine längere Abhandlung über anatomische Einzelheiten und Verknüpfungen, wie ich sie nicht einmal von meinem Liebsten wissen möchte. Diesmal war es der schönste Mann der Stadt. Hat sich aufgeführt wie ein Verrückter, hat praktisch auf der Fußmatte gekniet und um Einlass gewinselt. Genau wie der Udo damals. Ich weiß, ich sollte jetzt sagen: "Udo? Welcher Udo? Du meinst doch nicht etwa DEN Udo?". Daraufhin würde sie mir die Geschichte erzählen, wie sie jahrelang mit dem Panik-Orchester als Chorsängerin auf Tour war, und dass der Udo praktisch auf ihrer Fußmatte... Ich starre in meine Tasse, sie sieht mich erwartungsvoll an. Ein lahmes "ach" entringt sich mir, gefolgt von einem etwas engagierteren "toll".

Sie war ja jetzt in Berlin. Ich weiß. "Wie war's?" - "Einfach un-be-schreib-lich!". Also so was verrücktes wie diese Berliner. Haben sie angebetet. Alle. Sie weiß gar nicht, wen von den Kerlen sie als ersten anrufen soll. Die Gesprächsführung nimmt heute nicht ganz den von ihr gewünschten Verlauf; also wechselt sie die Strategie: "Und was gibt 's bei dir Neues?" - "Ach... Ich war grade zwei Wochen in Polen und...". Polen! Sie sondert einen Satz ab, der so klingt, als könne er polnisch sein. Das kann ich nicht beurteilen. Ihr Französisch kann ich beurteilen. Und ihr Englisch auch. Dieser Karl Tucholsky sei ja auch Pole gewesen. "Nicht ganz. Außerdem heißt er...". Ob ich von dem schon mal gehört habe? Habe ich; das erste Mal mit fünfzehn.

Jedenfalls: Wenn ich das nächste Mal ein Engagement brauche, soll ich mich an sie wenden. Sie hat ja jetzt diese Agentur gegründet und wird mich aufnehmen. Und dann komme ich endlich mal so groß raus, wie ich das verdiene. Die Kneipe, die sie aufgetan hat, ist einfach un-be-schreib-lich süß, mit einem wunderschönen kleinen Hinterzimmer; zwanzig Leute kriegt man da locker rein. Bisschen aufräumen muss man halt und den Krach von draußen einfach ignorieren. Aber fünfzig Euro Gage sind ja nun nicht gerade ein Pappenstiel, oder? - Ich freu mich drauf.

Dieser Moderator hat sich mal wieder gemeldet und will sich unbedingt mit ihr treffen. Aber wann soll sie das denn tun? Sie arbeitet ja praktisch sechsundzwanzig Stunden am Tag durch. "Verstehe, in deiner Agentur" - "Genau!". Jedenfalls wachse ihr das alles derart über den Kopf, dass sie am Abend einfach mal was trinken muss, zur Entspannung. Aber nie mehr als ein, zwei Gläschen. Wenn der Stress gar zu groß wird, auch mal ein, zwei Fläschchen.

Und dann setzt sie sich hin und schreibt die ganze Nacht. An Hans-Dietrich Genscher, der damals so hingerissen war von ihr, an die Witwe von Hanns-Dieter Hüsch, mit dem sie so eng befreundet war, und reimt ihre Gedichte, die demnächst veröffentlicht werden, und das Programm mit Liedern von Karl Tucholsky muss überarbeitet werden, und der Udo wird sich schon fragen, was denn mit ihr los sei, und unser gemeinsames Stück ist nächste Woche fertig, da soll ich mir gar keine Sorgen machen, und das Bild, das sie mir zum Geburtstag schenken wird, malt sich auch nicht von selbst, der weinende Harlekin, der so gut zu dir passt, mein Mäuschen...

Ich muss los, habe noch einen Termin. "Dann wünsche ich dir toi toi toi", sagt sie und sieht plötzlich sehr traurig aus.
 

arle

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"Die letzte Nacht war einfach un-be-schreib-lich!" Ich wappne mich für eine längere Abhandlung über anatomische Einzelheiten und Verknüpfungen, wie ich sie nicht einmal von meinem Liebsten wissen möchte. Diesmal war es der schönste Mann der Stadt. Hat sich aufgeführt wie ein Verrückter, hat praktisch auf der Fußmatte gekniet und um Einlass gewinselt. Genau wie der Udo damals. Ich weiß, ich sollte jetzt sagen: "Udo? Welcher Udo? Du meinst doch nicht etwa d e n Udo?". Daraufhin würde sie mir die Geschichte erzählen, wie sie jahrelang mit dem Panik-Orchester als Chorsängerin auf Tour war, und dass der Udo praktisch auf ihrer Fußmatte... Ich starre in meine Tasse, sie sieht mich erwartungsvoll an. Ein lahmes "ach" entringt sich mir, gefolgt von einem etwas engagierteren "toll".

Sie war ja jetzt in Berlin. Ich weiß. "Wie war's?" - "Einfach un-be-schreib-lich!". Also so was verrücktes wie diese Berliner. Haben sie angebetet. Alle. Sie weiß gar nicht, wen von den Kerlen sie als ersten anrufen soll. Die Gesprächsführung nimmt heute nicht ganz den von ihr gewünschten Verlauf; also wechselt sie die Strategie: "Und was gibt 's bei dir Neues?" - "Ach... Ich war grade zwei Wochen in Polen und...". Polen! Sie sondert einen Satz ab, der so klingt, als könne er polnisch sein. Das kann ich nicht beurteilen. Ihr Französisch kann ich beurteilen. Und ihr Englisch auch. Dieser Karl Tucholsky sei ja auch Pole gewesen. "Nicht ganz. Außerdem heißt er...". Ob ich von dem schon mal gehört habe? Habe ich; das erste Mal mit fünfzehn.

Jedenfalls: Wenn ich das nächste Mal ein Engagement brauche, soll ich mich an sie wenden. Sie hat ja jetzt diese Agentur gegründet und wird mich aufnehmen. Und dann komme ich endlich mal so groß raus, wie ich das verdiene. Die Kneipe, die sie aufgetan hat, ist einfach un-be-schreib-lich süß, mit einem wunderschönen kleinen Hinterzimmer; zwanzig Leute kriegt man da locker rein. Bisschen aufräumen muss man halt und den Krach von draußen einfach ignorieren. Aber fünfzig Euro Gage sind ja nun nicht gerade ein Pappenstiel, oder? - Ich freu mich drauf.

Dieser Moderator hat sich mal wieder gemeldet und will sich unbedingt mit ihr treffen. Aber wann soll sie das denn tun? Sie arbeitet ja praktisch sechsundzwanzig Stunden am Tag durch. "Verstehe, in deiner Agentur" - "Genau!". Jedenfalls wachse ihr das alles derart über den Kopf, dass sie am Abend einfach mal was trinken muss, zur Entspannung. Aber nie mehr als ein, zwei Gläschen. Wenn der Stress gar zu groß wird, auch mal ein, zwei Fläschchen.

Und dann setzt sie sich hin und schreibt die ganze Nacht. An Hans-Dietrich Genscher, der damals so hingerissen war von ihr, an die Witwe von Hanns-Dieter Hüsch, mit dem sie so eng befreundet war, und reimt ihre Gedichte, die demnächst veröffentlicht werden, und das Programm mit Liedern von Karl Tucholsky muss überarbeitet werden, und der Udo wird sich schon fragen, was denn mit ihr los sei, und unser gemeinsames Stück ist nächste Woche fertig, da soll ich mir gar keine Sorgen machen, und das Bild, das sie mir zum Geburtstag schenken wird, malt sich auch nicht von selbst, der weinende Harlekin, der so gut zu dir passt, mein Mäuschen...

Ich muss los, habe noch einen Termin. "Dann wünsche ich dir toi toi toi", sagt sie und sieht plötzlich sehr traurig aus.
 

arle

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"Die letzte Nacht war einfach un-be-schreib-lich!". Ich wappne mich für eine längere Abhandlung über anatomische Einzelheiten und Verknüpfungen, wie ich sie nicht einmal von meinem Liebsten wissen möchte. Diesmal war es der schönste Mann der Stadt. Hat sich aufgeführt wie ein Verrückter, hat praktisch auf der Fußmatte gekniet und um Einlass gewinselt. Genau wie der Udo damals. Ich weiß, ich sollte jetzt sagen: "Udo? Welcher Udo? Du meinst doch nicht etwa d e n Udo?". Daraufhin würde sie mir die Geschichte erzählen, wie sie jahrelang mit dem Panik-Orchester als Chorsängerin auf Tour war, und dass der Udo praktisch auf ihrer Fußmatte... Ich starre in meine Tasse, sie sieht mich erwartungsvoll an. Ein lahmes "ach" entringt sich mir, gefolgt von einem etwas engagierteren "toll".

Sie war ja jetzt in Berlin. Ich weiß. "Wie war's?" - "Einfach un-be-schreib-lich!". Also so was verrücktes wie diese Berliner. Haben sie angebetet. Alle. Sie weiß gar nicht, wen von den Kerlen sie als ersten anrufen soll. Die Gesprächsführung nimmt heute nicht ganz den von ihr gewünschten Verlauf; also wechselt sie die Strategie: "Und was gibt 's bei dir Neues?" - "Ach... Ich war grade zwei Wochen in Polen und...". Polen! Sie sondert einen Satz ab, der so klingt, als könne er polnisch sein. Das kann ich nicht beurteilen. Ihr Französisch kann ich beurteilen. Und ihr Englisch auch. Dieser Karl Tucholsky sei ja auch Pole gewesen. "Nicht ganz. Außerdem heißt er...". Ob ich von dem schon mal gehört habe? Habe ich; das erste Mal mit fünfzehn.

Jedenfalls: Wenn ich das nächste Mal ein Engagement brauche, soll ich mich an sie wenden. Sie hat ja jetzt diese Agentur gegründet und wird mich aufnehmen. Und dann komme ich endlich mal so groß raus, wie ich das verdiene. Die Kneipe, die sie aufgetan hat, ist einfach un-be-schreib-lich süß, mit einem wunderschönen kleinen Hinterzimmer; zwanzig Leute kriegt man da locker rein. Bisschen aufräumen muss man halt und den Krach von draußen einfach ignorieren. Aber fünfzig Euro Gage sind ja nun nicht gerade ein Pappenstiel, oder? - Ich freu mich drauf.

Dieser Moderator hat sich mal wieder gemeldet und will sich unbedingt mit ihr treffen. Aber wann soll sie das denn tun? Sie arbeitet ja praktisch sechsundzwanzig Stunden am Tag durch. "Verstehe, in deiner Agentur" - "Genau!". Jedenfalls wachse ihr das alles derart über den Kopf, dass sie am Abend einfach mal was trinken muss, zur Entspannung. Aber nie mehr als ein, zwei Gläschen. Wenn der Stress gar zu groß wird, auch mal ein, zwei Fläschchen.

Und dann setzt sie sich hin und schreibt die ganze Nacht. An Hans-Dietrich Genscher, der damals so hingerissen war von ihr, an die Witwe von Hanns-Dieter Hüsch, mit dem sie so eng befreundet war, und reimt ihre Gedichte, die demnächst veröffentlicht werden, und das Programm mit Liedern von Karl Tucholsky muss überarbeitet werden, und der Udo wird sich schon fragen, was denn mit ihr los sei, und unser gemeinsames Stück ist nächste Woche fertig, da soll ich mir gar keine Sorgen machen, und das Bild, das sie mir zum Geburtstag schenken wird, malt sich auch nicht von selbst, der weinende Harlekin, der so gut zu dir passt, mein Mäuschen...

Ich muss los, habe noch einen Termin. "Dann wünsche ich dir toi toi toi", sagt sie und sieht plötzlich sehr traurig aus.
 
E

Elisabeth Merey-Kastner

Gast
Ich verbeuge mich vor deinem Schreibtalent, liebe Silvia.
Schlafe schön.
Elisabeth
 

Carlo Ihde

Mitglied
Ich finde diesen Text einfach nur ungemein geil. Er überlässt mir, was ich daran für wahr halte, er verkauft gar nicht eine objektive Wirklichkeit. Ich muss die Illusionsbildung selbst leisten. Pseudoleben führt eindeutig die Wortführerin des Gesprächs. Aber führt sie das Wort, wenn es nur "wiedergegeben" wird? Ich finde, da sind sehr viele schöne Sache drin und das Thema ist sehr kurios. Kaum vorstellbar, dass das passiert sein könnte. Und dennoch: in unseren Köpfen schon. Großartiges Stück Fiktion. Und trotzdem sehr ruhig und leise.

naja, so halt.
 

arle

Mitglied
Meine Güte, das waren ja mal prompte Antworten. Und was für Antworten. Vielen Dank Euch dreien.

Elisabeth, nach so einem schönen Lob muss man einfach gut schlafen.

Carlo, "geil" ist ja wohl das geilste Kompliment, was man sich kann denken. Aber: leider keine Fiktion. So was gibt s. Es gibt sogar mittlerweile einen medizinischen Fachbegriff dafür: Pseudologia Phantastica oder Münchhausen-Syndrom. Wenn das dann noch mit einem eher leichtfertigen Gebrauch von Alkohol einher geht, kommt so was dabei raus.

René, da triffst du ja genau ins Schwarze. Normaler Weise fällt mir erst ein Titel ein, und ich versuche dann eine Geschichte drum herum zu bauen, bis er passt. Dieses Mal war es nicht so. Spontan fiel mir ein "Was für ein Leben", wurde dann aber als zu umgangssprachlich verworfen. Mit dem Pseudo bin ich auch noch nicht wirklich glücklich. Ich verspreche: Sollte mir was Griffigeres einfallen, wird es sofort geändert. Eure schönen Kommentare bleiben ja erhalten. Das beruhigt.

Noch mal ganz lieben Dank für die Lobesworte zur Nacht und Euch allen einen erholsamen Schlaf und ein möglichst authentisches Erwachen.

Silvia
 

arle

Mitglied
"Die letzte Nacht war einfach un-be-schreib-lich!". Ich wappne mich für eine längere Abhandlung über anatomische Einzelheiten und Verknüpfungen, wie ich sie nicht einmal von meinem Liebsten wissen möchte. Diesmal war es der schönste Mann der Stadt. Hat sich aufgeführt wie ein Verrückter, hat praktisch auf der Fußmatte gekniet und um Einlass gewinselt. Genau wie der Udo damals. Ich weiß, ich sollte jetzt sagen: "Udo? Welcher Udo? Du meinst doch nicht etwa d e n Udo?". Daraufhin würde sie mir die Geschichte erzählen, wie sie jahrelang mit dem Panik-Orchester als Chorsängerin auf Tour war, und dass der Udo praktisch auf ihrer Fußmatte... Ich starre in meine Tasse, sie sieht mich erwartungsvoll an. Ein lahmes "ach" entringt sich mir, gefolgt von einem etwas engagierteren "toll".

Sie war ja jetzt in Berlin. Ich weiß. "Wie war's?" - "Einfach un-be-schreib-lich!". Also so was verrücktes wie diese Berliner. Haben sie angebetet. Alle. Sie weiß gar nicht, wen von den Kerlen sie als ersten anrufen soll. Die Gesprächsführung nimmt heute nicht ganz den von ihr gewünschten Verlauf; also wechselt sie die Strategie: "Und was gibt 's bei dir Neues?" - "Ach... Ich war grade zwei Wochen in Polen und...". Polen! Sie sondert einen Satz ab, der so klingt, als könne er polnisch sein. Das kann ich nicht beurteilen. Ihr Französisch kann ich beurteilen. Und ihr Englisch auch. Dieser Karl Tucholsky sei ja auch Pole gewesen. "Nicht ganz. Außerdem heißt er...". Ob ich von dem schon mal gehört habe? Habe ich; das erste Mal mit fünfzehn.

Jedenfalls: Wenn ich das nächste Mal ein Engagement brauche, soll ich mich an sie wenden. Sie hat ja jetzt diese Agentur gegründet und wird mich aufnehmen. Und dann komme ich endlich mal so groß raus, wie ich das verdiene. Die Kneipe, die sie aufgetan hat, ist einfach un-be-schreib-lich süß, mit einem wunderschönen kleinen Hinterzimmer; zwanzig Leute kriegt man da locker rein. Bisschen aufräumen muss man halt und den Krach von draußen einfach ignorieren. Aber fünfzig Euro Gage sind ja nun nicht gerade ein Pappenstiel, oder? - Ich freu mich drauf.

Dieser Moderator hat sich mal wieder gemeldet und will sich unbedingt mit ihr treffen. Aber wann soll sie das denn tun? Sie arbeitet ja praktisch sechsundzwanzig Stunden am Tag durch. "Verstehe, in deiner Agentur" - "Genau!". Und das wächst ihr alles derart über den Kopf, dass sie am Abend einfach mal was trinken muss, zur Entspannung. Aber nie mehr als ein, zwei Gläschen. Wenn der Stress gar zu groß wird, auch mal ein, zwei Fläschchen.

Und dann setzt sie sich hin und schreibt die ganze Nacht. An Hans-Dietrich Genscher, der damals so hingerissen war von ihr, an die Witwe von Hanns-Dieter Hüsch, mit dem sie so eng befreundet war, und reimt ihre Gedichte, die demnächst veröffentlicht werden, und das Programm mit Liedern von Karl Tucholsky muss überarbeitet werden, und der Udo wird sich schon fragen, was denn mit ihr los sei, und unser gemeinsames Stück ist nächste Woche fertig, da soll ich mir gar keine Sorgen machen, und das Bild, das sie mir zum Geburtstag schenken wird, malt sich auch nicht von selbst, der weinende Harlekin, der so gut zu dir passt, mein Mäuschen...

Ich muss los, habe noch einen Termin. "Dann wünsche ich dir toi toi toi", sagt sie und sieht plötzlich sehr traurig aus.
 

Clara

Mitglied
ich habe auch geschlungen - diese eigentlich völlig unpersönliche unterhaltung, in der man soviel hört von dem was im rest der zeit so alles lief, wie erfolgreich man dies und jenes und in zukunft ...
wer kennt solche menschen nicht ?
und obs nun udo war oder eine nummer kleiner - ganz egal -
pseudoleben so könnte der titel heissen.

es gibt natürlich ausnahmen, die das alles wuppen und nicht wie ein ausgefranster turnschuh zurückbleiben.

der karl tucholski, war der gewollt? der heisst nämlich kurt
und hatte nie nen gurt
 

arle

Mitglied
Ganz kurz vorm Schlafengehen auch dir danke für deinen Kommentar, Clara.

Ja, der Karl war gewollt. Im Text ist ganz leise zu erkennen, dass er korrigiert werden wollte. Aber wenn ein solcher Mensch erst einmal in Fahrt ist, sind das Nebensächlichkeiten, über die hinweg geplappert wird.

Mit oder ohne Gurt:

Gute Nacht
 

arle

Mitglied
Äh... Pseudoleben, so könnte der Text nicht nur heißen, so heißt er.

Bisschen verwirrt: Silvia
 

arle

Mitglied
Und um der nächsten Frage vorzubeugen: Auch die sechsundzwanzig Stunden waren gewollt.

Nun aber endgültig gute Nacht

Silvia
 
H

Heidrun D.

Gast
Liebe Arle,

das finde ich auch un-be-schreib-lich gut, ggg.

Eine ganz winzige Kleinigkeit würde ich noch ändern:

[blue]Ob ich von dem schon mal gehört habe? Habe ich; das erste Mal mit fünfzehn.

Jedenfalls: Wenn ich das nächste Mal ein Engagement brauche, soll ich [/blue]

wegen Dreier-Mal. Auch könntest du es m. E. inhaltlich noch toppen, wenn du schriebst:

"Ob ich von dem schon gehört habe? Habe ich; [red]zuletzt[/red] mit fünfzehn.

Jedenfalls: Wenn ich das nächste Mal ein Engagement brauche, soll ich.."

Oder ist die Wiederholung hier Absicht?
So oder so isses mir `nen glatten Achter wert.

Liebe Grüße
Heidrun
 

arle

Mitglied
Danke, liebe Heidrun, für Lob, Korrektur und Bewertung. Du hast natürlich Recht; das sind diese kleinen Schnitzer, die dir auch nach dem zehnmaligem Lesen immer noch nicht auffallen. Hast deinen Job prima gemacht. (c;

Ich guck noch mal genauer drauf. "Zuletzt" mit fünfzehn ist eine andere Aussage und geht wohl nicht; denn inzwischen hat sie schon mal wieder ein Buch von Kurt in die Hand genommen.

Ich lasse das erste "mal" weg, da es nur ein Füllsel ist, behalte das zweite und mache aus dem dritten ein "wieder". Und schon hammers.

Ich freu mich richtig, dass Ihr mit dieser Story was anfangen könnt, und grüße sehr freundlich.

Silvia
 

arle

Mitglied
"Die letzte Nacht war einfach un-be-schreib-lich!". Ich wappne mich für eine längere Abhandlung über anatomische Einzelheiten und Verknüpfungen, wie ich sie nicht einmal von meinem Liebsten wissen möchte. Diesmal war es der schönste Mann der Stadt. Hat sich aufgeführt wie ein Verrückter, hat praktisch auf der Fußmatte gekniet und um Einlass gewinselt. Genau wie der Udo damals. Ich weiß, ich sollte jetzt sagen: "Udo? Welcher Udo? Du meinst doch nicht etwa d e n Udo?". Daraufhin würde sie mir die Geschichte erzählen, wie sie jahrelang mit dem Panik-Orchester als Chorsängerin auf Tour war, und dass der Udo praktisch auf ihrer Fußmatte... Ich starre in meine Tasse, sie sieht mich erwartungsvoll an. Ein lahmes "ach" entringt sich mir, gefolgt von einem etwas engagierteren "toll".

Sie kommt gerade aus Berlin zurück. Ich weiß. "Wie war's?" - "Einfach un-be-schreib-lich!". Also so was verrücktes wie diese Berliner. Haben sie angebetet. Alle. Sie weiß gar nicht, wen von den Kerlen sie als ersten anrufen soll. Die Gesprächsführung nimmt heute nicht ganz den von ihr gewünschten Verlauf; also wechselt sie die Strategie: "Und was gibt 's bei dir Neues?" - "Ach... Ich war grade zwei Wochen in Polen und...". Polen! Sie sondert einen Satz ab, der so klingt, als könne er polnisch sein. Das kann ich nicht beurteilen. Ihr Französisch kann ich beurteilen. Und ihr Englisch auch. Dieser Karl Tucholsky sei ja auch Pole gewesen. "Nicht ganz. Außerdem heißt er...". Ob ich von dem schon gehört habe? Habe ich; das erste Mal mit fünfzehn.

Jedenfalls: Wenn ich wieder ein Engagement brauche, soll ich mich an sie wenden. Sie hat doch diese Agentur gegründet und wird mich aufnehmen. Und dann komme ich endlich mal so groß raus, wie ich das verdiene. Die Kneipe, die sie aufgetan hat, ist einfach un-be-schreib-lich süß, mit einem wunderschönen kleinen Hinterzimmer; zwanzig Leute kriegt man da locker rein. Bisschen aufräumen muss man halt und den Krach von draußen einfach ignorieren. Aber fünfzig Euro Gage sind ja nun nicht gerade ein Pappenstiel, oder? - Ich freu mich drauf.

Dieser Moderator hat sich mal wieder gemeldet und will sich unbedingt mit ihr treffen. Aber wann soll sie das denn tun? Sie arbeitet ja praktisch sechsundzwanzig Stunden am Tag durch. "Verstehe, in deiner Agentur" - "Genau!". Und das wächst ihr alles derart über den Kopf, dass sie am Abend einfach mal was trinken muss, zur Entspannung. Aber nie mehr als ein, zwei Gläschen. Wenn der Stress gar zu groß wird, auch mal ein, zwei Fläschchen.

Und dann setzt sie sich hin und schreibt die ganze Nacht. An Hans-Dietrich Genscher, der damals so hingerissen war von ihr, an die Witwe von Hanns-Dieter Hüsch, mit dem sie so eng befreundet war, und reimt ihre Gedichte, die demnächst veröffentlicht werden, und das Programm mit Liedern von Karl Tucholsky muss überarbeitet werden, und der Udo wird sich schon fragen, was denn mit ihr los sei, und unser gemeinsames Stück ist nächste Woche fertig, da soll ich mir gar keine Sorgen machen, und das Bild, das sie mir zum Geburtstag schenken wird, malt sich auch nicht von selbst, der weinende Harlekin, der so gut zu dir passt, mein Mäuschen...

Ich muss los, habe noch einen Termin. "Dann wünsche ich dir toi toi toi", sagt sie und sieht plötzlich sehr traurig aus.
 

Clara

Mitglied
Moin Silvia

also: es war spät ich hatte den Titel gar nicht so im Blick.

Was ich heute so denke,noch an den Inhalt denkend:
Sie, die Zuhörerin: welche Alternative hätte sie gehabt - darauf kann man einen Titel basteln.

Aber auch die Hauptprotagonistin - welche Alternative hätte sie?
Denn - letztendlich scheint sie ja dieses rasende Leben zu leben - es Pseudo zu nennen, bedeutet ja, dass jemand anderes unter Leben etwas anderes versteht, (ich auch, grins) obwohl ein solche/r Erzähler/in einen immer wieder in den Bann zieht, und man sich ganz winzigweich fühlen könnte. Denjenigen bewundert - aber wenns von Gläschen zu Fläschchen geht und nachdem das Brausen eines solchen Sturms abklingt der Zuhörer wohl erst daran denkt, wie es dem Erzähler tatsächlich gehen mag - wenn er soviel Zeit dafür aufwendet - naja. Dick aufgetragen voller Wünsche und Hoffnungen - alles auf Zukunft ausgerichtet ist das Leben dann bunt und schillernd und für unsereins kaum nachzuverfolgen, geschweige selbst zu leben.

Der Karl Tucholski - ich fand es gut - denn daran merkte man das die Zuhörerin schon nicht mehr ganz bei der Sache war und für mich als Leser gabs auch eine Verschnaufpause. Lasse ihn bitte so stehen - der Leser braucht auch etwas, über das nachkauen kann.
Tolle Story - hängt mir noch im Ohr.
 

arle

Mitglied
Noch mal Clara:

In diesem Text geht es um ein Leben, das einzig und allein aus Lügen besteht. Dieses Lügen ist pathologisch. Es hat die vielfältigsten psychischen Ursachen, die hier den Rahmen sprengen würden. Es gibt Menschen, die - flapsig gesagt - lügen, wenn sie das Maul aufmachen, mal mehr, mal weniger geschickt. Unter anderem ist Lügen auch ein Symptom für Alkoholismus, wie rote Flecken für Windpocken. Wenn nun beides - Alkoholismus und diese psychische Erkrankung - zusammen treffen, dann hammer den Salat.

Das Umfeld durchschaut dieses Pseudodasein früher oder später, und das Erwachen für den Lügner ist meistens grausam. Als Zuschauer/Zuhörer bist du hin und her gerissen zwischen Mitleid mit dem Kranken, Ungeduld und blank liegenden Nerven. Am Ende bleibt die Erkenntnis, dass du einem solch einsichtsresistenten Menschen nichts beibringen und ihn auf nichts festnageln kannst. Letzte Konsequenz: in Sicherheit bringen. Die Innenansicht ("Ich Zuhörer will hier raus!") zu schildern und ein möglichst objektiver Bericht über den Irrsinn, der da in Wahrheit vor sich geht, waren die Beweggründe für diesen Text.

Ich hoffe, damit kannst du was anfangen, und grüße dich.

Silvia
 

Clara

Mitglied
hallo arle
ne, ich kenne auch solche Leute, die sich noch gesund schimpfen, insofern bin ich nicht auf eine Krankheit gekommen -
nun ja - je nach Anzahl der Flaschen ist es natürlich irgendwann nur krank und damit auch nicht mehr unterhaltend.
 

gareth

Mitglied
So einfach, liebe arle, ist das gar nicht, wie Du es Dir da so sorglos ausmalst:

... Mit dem Pseudo bin ich auch noch nicht wirklich glücklich. Ich verspreche: Sollte mir was Griffigeres einfallen, wird es sofort geändert...

Da musst Du erst mal rumbetteln, dass die Maintenance der Leselupe Dir den Titel ändert, weil man das nämlich selber gar nicht machen kann. :eek:)

Eine Möglichkeit wäre m.E. dass Du das fragliche -Pseudo- einfach weglassen könntest. -Leben- tät mir reichen.

Aber Du siehst, ich schreibe über Verfahrensfragen. Das liegt daran, dass es an Deinem schönen Text praktisch so gut wie nichts zu besprechen gibt. Falls mir doch noch was einfällt, melde ich mich nochmal.

gareth
 



 
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