Purpurtag

2,50 Stern(e) 2 Bewertungen

Manic Peter

Mitglied
Purpurtag

Das Hinübergleiten in die andere Welt war für David jeweils ein aufwühlendes Erlebnis. Sein Sterben würde ähnlich verlaufen, ein Weg ohne Rückkehr, ohne Angst, aber mit dem Bewusstsein, dass die Tür hinter ihm verschlossen bleiben würde.

«Hallo David», hörte er Souxsie sagen, noch ehe er sich an die Umgebung gewöhnen konnte, «schön, dass du heute kommen konntest».
David streckte sich und hörte seine Knochen knacksen. Er sog die eiskalte Luft in seine Lungen und blies Dunstwölkchen gegen den morgendlichen Himmel.
«Der Himmel leuchtet heute seltsam». Seine Stimme schien ihm noch von Ferne und er schluckte leer.
«Ja, ich glaube, heute ist der Purpurtag», beantwortete Souxsie seine Frage. «Magst du das nicht? Mir gefällt dieser Glanz. Gestern war mir der Himmel zu dunkel, ich finde es scheusslich, wenn kein helles Schimmern zu sehen ist.»
Souxsie war ganz ok, aber sie quasselte ununterbrochen. Bei grossen Menschenansammlungen, wenn alle durcheinanderredeten, machte sich David gewöhnlich aus dem Staub. Aber jetzt war der Morgen noch jung, die Referenten und Rhetoriker noch nicht unterwegs. Er schaute an den Hausfassaden mit ihrem kühlen, stumpfen Glanz empor und fühlte sich erstaunlich frisch. Vielleicht würde es ihm heute gelingen, bei den Spielen dabei zu sein. Die Zeit schien reif und David war vorbereitet.

«He, was unternehmen wir heute?» Souxsie, wie immer ungeduldig. Wie lange mochte sie sich schon in dieser Welt aufhalten? Er betrachtete ihre Bekleidung.
«Gestern warst du nicht so bunt angezogen. Willst du auf eine Party oder so?»
Souxsie runzelte die Stirn, als schien sie nachzudenken, dann löste sich diese künstliche Anspannung.
«Die Hot-Ravers spielen heute im Bingo!»
David schüttelte sich innerlich. Er mochte die Hot-Ravers mit ihrem blasierten Sänger Roy Gil-Boy nicht. Die Hot-Ravers hatten noch keine vernünftige Note gespielt, aber sie waren die In-Band der meisten Stadtbezirke, ihre Konzerte waren überfüllt, laut, und wer nicht dabei war, dem war definitiv nicht zu helfen.
«Geh mit Marlon hin», sagte David, «Du weisst, dass ich die Hot-Ravers nicht ausstehen kann. Gil-Boy benimmt sich, als sei er ein Huhn, und ich hasse Hühner, wirklich, ich hasse sie.»
«Marlon langweilt mich.»
«Wer tut das nicht?»
«Da hast du recht, David, aber ich verstehe Marlon nicht. Ständig redet er von seiner Heimat, wie er sie liebt, ich begreife nicht, was er hier will, von Ehre und Pflicht, von irgendwas, was ist los mit diesem Kerl, er sollte nicht herkommen.»
«Aber er mag die Hot-Ravers.»
«Das ist keine Auszeichnung.»
David schmunzelte. Souxsie war in Fahrt gekommen. Wenn sie sich über Marlon unterhielten, konnte sie ihr Maul nicht halten. Und doch, schien es David, mochte sie Marlon. Seine väterliche Art wirkte beruhigend auf Souxsie. Er war das Gegenteil von ihr, besonnen und darauf bedacht, keine groben Fehler zu begehen. Marlon war immer höflich, tat das Richtige im richtigen Moment. Auch David mochte ihn. Er war ausser Souxsie der einzige Kumpel in dieser Welt, die ihm noch immer ein wenig fremd war, obwohl ihn vermutlich genau das faszinierte.
«Ich habe Marlon versprochen, mit ihm eine Bootsfahrt zu unternehmen.»
«Eine Bootsfahrt? Wo um Gottes willen willst du denn hier mit dem Boot fahren? Sieh doch, nur Häuser und Strassenschluchten, wer immer darin wohnen mag und was immer dort drinnen geschieht, nur Häuser und Glas und Türen, die verschlossen sind. Wo willst du den mit einem Boot fahren? Mit einem Ruderboot, einem Segelboot oder was?»
Souxsie war nicht zu bremsen.
«Marlon sagt, er weiss, wo wir bootfahren können.»
«Marlon ist ein Spinner!»
«Aber langweilig ist er nicht. Er weiss immer, was läuft, wer wo was am Kochen hat, wo du Boote hernehmen kannst.»
Tatsächlich war Marlon trotz seiner zurückhaltenden Art bestens informiert über die Aktivitäten der inneren Welt.
«Ich liebe Marlon, den Bootsmann und Weltenumsegler, aber ich gehe nicht mit ihm zu den Hot-Ravers. Wenn du nicht mitkommen willst, gehe ich mit Stonk.»

Souxsies Rache. Ausgerechnet Stonk. Stonk war ein Stinktier, eine luftleere Heulboje. David musste tief durchatmen. Wenn sie mit Stonk zu den Hot-Ravers gehen wollte, sollte sie doch. Sie fand ihn komisch, ihr gefiel sein abgedroschenes Geschwätz. Marlon hingegen fühlte sich ebenfalls nicht sonderlich zu Stonk hingezogen, was kein Wunder war, denn Stonk machte sich auf seine Kosten lustig. Es gab aber auch Leute, die Stonk mochten, erstaunlich viele sogar. Vielleicht mochten sie ihn nicht richtig, aber sie zeigten sich gerne an seiner Seite.
«Warum willst du mir das antun. Geh doch mit dieser kleinen Träumerin, wie heisst sie noch?»
«Sunwalk».
«Genau, geh doch mit Sun, die steht doch auch auf Roy Gil, nicht?»
«Sun wird nicht kommen, wir haben uns gestern gestritten».
David seufzte. Er hatte am Anfang geglaubt, diese andere Welt sei eine friedlichere. Aber er hatte sich rasch belehren lassen. Wenn Typen wie Stonk ihr Unwesen treiben, kann eine Welt auf Dauer nicht friedlich bleiben. Und Streitereien hatte er schon oft erlebt, das mit Souxsie und Sun würde wohl nichts Gravierendes sein, aber immerhin.»

«Ich muss los», sagte Souxsie, «wenn ich zu den Hot-Ravers will, muss ich noch ein wenig am meinem Outfit arbeiten. Ich seh dich dann!».
Ungeduldige Souxsie. Sie konnte es nicht ausstehen, wenn man länger als einige Minuten auf dem gleichen Flecken Erde stand und sich unterhielt. Souxsie musste sich bewegen, drehen, tanzen. Es gab Momente, in denen sich David unsäglich müde vorkam. Dann erhellte sich sein Gesicht, er dachte an die bevorstehende Bootsfahrt mit Marlon. Genau das Richtige für diesen Morgen, überlegte er sich. Und vergass die Hot-Ravers mit Roy Gil-Boy und vor allem vergass er Stonk.

David fand Marlon am verabredeten Platz. Marlon hatte ihm eine genaue Wegbeschreibung mitgegeben, ohne die David diesen Ort niemals gefunden hätte. Sie führte ihn durch Gegenden, die er niemals zuvor gesehen hatte, durch Strassen und Gassen, die ihm immer eigentümlicher erschienen und in ihm eine innere Beklemmung hervorriefen, die bis zuletzt körperlich zu spüren war. Dann geschah das Wunder. Hinter einer seltsam angewinkelten Hausfassade erschien eine unglaubliche Weite, das Licht überflutete ihn und er hielt sich beide Hände vor die Augen. Als er sich an diese übernatürliche Helligkeit gewöhnt hatte, spähte er zwischen den Fingern hervor, und was er sah, verschlug ihm den Atem. Ein weites Meer in Azur, wechselnd mit tiefem, schillerndem Grün, in dem sich der purpurne Himmel spiegelte und dessen Farben mit ungeheurer Gewalt zurückwarf. Ein gewaltiges Spiel der Lichter.
David schritt diesem gleissenden Farbenmeer langsam entgegen.

«Hi David!».
David zuckte zusammen. Er war noch immer geblendet und hatte Marlon nicht gesehen, der nun direkt vor ihm stand und aus dem Nichts erschienen war.
«Wie geht’s denn deiner abenteuerlichen Seele, David?»
Marlon war vergnügt. Er hatte etwas in dieser Welt entdeckt, das vermutlich noch keiner vor ihm gesehen hatte. Und er war, zu Recht, stolz darauf.
Marlons Kleidung schien einem alten Piratenfilm entwendet, auch die obligatorische Augenklappe fehlte nicht.
«Interessanter Look, Marlon».
«Findest du, ja? Mir gefallen diese Sachen, ich wollte als Kind schon immer ein richtiger Seeräuber sein. Jetzt bin ich einer. Schau doch, meine Queen-Mary!»
Tatsächlich, als sich David die Augen rieb, sah er am Ufer eine wunderschöne Barke treiben.
«Wo hast du denn die her?»
«Geheimnis, mein Junge, Geheimnis. In dieser Welt braucht jeder seine Geheimnisse, sonst geht er unter. Du brauchst dir die Dinge nur zu greifen, schon gehören sie dir. So läuft das hier. In meiner Heimat sagt man, das Leben ist wie ein Dolch. Wer ihn falsch in die Hände nimmt, schneidet sich ins Fleisch, richtig geführt vernichtet er den Gegner.»
Solch seltsame Geschichte aus Marlons Heimat hatte David schon des öfteren gehört. Er verstand sie nicht, auch Souxsie verstand sie nicht, niemand verstand sie, das war wohl eines von Marlons Problemen.
David zuckte mit den Achseln.
«Souxsie will heute ins Bingo zu diesem grässlichen Roy Gil-Boy. Bist du dabei?»
Marlons Augen leuchteten. Aus einem für David unerfindlichen Grund liebte er Roys scharrenden Sprechgesang. David war noch nicht dahintergekommen, was der Geniesser Marlon an der hektischen Musik der Ravers finden konnte. Er verschwieg ihm, dass er nicht mitkommen würde, und dass Stonk vermutlich mit von der Partie war.
«Ja, das ist eine famose Idee, David, hören wir uns Roy den Schlangenbeschwörer an, aber zuerst, mein Junge, lass uns die sieben Weltmeere durchqueren und das Meeresungeheuer besiegen!»
Marlon zog ein rostiges Schwert aus einer Lederscheide und zeigte damit gegen den Purpurhimmel.
Was immer Souxsie auch sagen mochte, mit Marlon wurde es nie langweilig, jedenfalls nicht, wenn sie zu zweit waren.

Sie fuhren mit der Barke hinaus aufs Meer. Das Boot plätscherte vor sich hin und David lehnte an der Reling. Es schien ihm, als plätschere sein Leben ebenso wie das Schiff durch die seltsam gefärbte See. Solche Momente der Stille genoss er in vollen Zügen, er hatte das seltene Gefühl, sich selber zu spüren und sein Dasein wahrzunehmen. Was immer ihm diese Welt bedeutete, sie war sonst kein Pol der Ruhe und Besonnenheit, sie war hektisch und laut, schnell und durchdringend, Roy Gil-Boy am Abend, die betäubenden Spiele in der Nacht. Die Spiele, vor allem sie, ohne die Spiele konnten sie nicht mehr sein, weder er noch die schrille Souxsie, weder Roy, das Huhn, noch Stonk das Stinktier, das Hippiemädchen Sunwalk nicht und nicht der umsichtige Marlon.
«Störe ich dich beim Nachdenken?»
«Nein, Marlon, ich habe mir nur überlegt, was wir hier alle eigentlich tun. Wir suchen etwas, das wir nie finden, wir leben schnell und lachen und gegenseitig an, wir sagen, wir sind glücklich und trotzdem kotzen wir uns aus und geben unsere innersten Geheimnisse preis. Was soll das alles, Marlon?»
Marlon schwieg zunächst. Seine Augen wurden dunkler und die Pupillen verengten sich, als würde er geblendet.
Als Marlon sprach, wandte er sich nicht David zu, sondern reckte den Kopf gegen den Himmel.
«Sieh nur, David, diese Farben. Jeden Tag sehen wir neue Farben, ist das nicht verrückt? Und wir zwei, alleine in diesem Boot, das uns irgendwo hinführt, wir wissen nicht wohin, wir können es nicht steuern, wann sonst erleben wir solche Sachen, wenn nicht hier? Wenn du unglücklich bist, David, wo gehst du hin? Wenn du genug hast von allem um dich herum, was machst du dann? Schau doch, wie ich aussehe! Meinst du nicht, es wäre irgendwo anders lächerlich, so rumzulaufen? Ich wäre ein Idiot, ein Schwachkopf. Hier bin ich Marlon, der Pirat! Und die Spiele, David, vergiss die Spiele nicht!»
David hatte die Spiele nicht vergessen. Er hatte auch nicht vergessen, dass Souxsie Marlon einen Spinner genannt hatte. Sie ging nicht auf, diese Sache, es war nicht möglich, die Zeit zu stoppen und vor ihr zu flüchten.

Das Unglück in Form einer Flutwelle hatten sie nicht kommen sehen. Die Barke wurde in Stücke gerissen und David in seinen zweifelnden Gedanken gestoppt. Er kam erst wieder zu sich, als die Party bereits in vollem Gange war.
Er wunderte sich nicht mehr, dass man in dieser Welt plötzlich verschwand, verunglückte, unterging, um einige Momente später an einem anderen Ort aufzutauchen, mitten unter Menschen, als wäre nie etwas geschehen.
Er hatte nicht ins Bingo gewollt, jetzt war er hier, Roy und seine Truppe machten sich auf der Bühne bereit.

«He, David!»
Souxsie winkte von Ferne, ihre glasklare, hohe Stimme war aber deutlich zu hören.
«Warte, David!»
Er war dabei, sich in Richtung Ausgang davonzumachen.
Souxsie, die sich näher beim Portal befand, schnitt ihm den Weg ab.
«David, gut dass du noch gekommen bist!»
Sie wischte sich einige Schweissperlen von der Stirn.
«He, wolltest du nicht mit Stonk herkommen?»
«Ich konnte dich nicht finden, den ganzen Tag nicht. Wo warst du denn die ganze Zeit? Ich habe das Südende abgesucht, den Nadelpark durchkämmt und bei den drei Eulen nachgesehen. Kein David, nirgendwo».
«Ist Stonk hier?»
«Ja».
«Dann geh ich, wirklich, ich will dem Kerl nicht noch einmal über den Weg laufen. Kannst du dich an unsere letzte Begegnung erinnern? Der ist doch nicht ganz dicht.»
«Sprich nicht so über Stonk, David. Du kennst ihn nicht. Stonk hat Qualitäten.»
«Mann, Souxsie, das kannst du mir nicht antun. Qualitäten? Spricht es für die Qualität eines Menschen, wenn er dauernd rummosert, die Leute anmacht und ihnen die Birne vollquatscht? Und als er letzte Woche diesen kleinen Kerl rumgeschubst hat? Waren das seine Qualitäten? Oder meinst du andre Qualitäten, von denen ich nichts weiss?»
«Sei nicht albern, David»

In diesem Moment fing Roy Gil-Boy zu krächzen an. Ein Bass donnerte durch die Magengruben und Getränke wurden reihenweise verschüttet. Roy hatte angesetzt, der König der meisten Stadtbezirke, mittlerweile vermutlich aller Stadtbezirke. Die Hot-Ravers legten los, als gelte es, die Meute vor der Bühne zu erlegen. Kein Pardon, das wurde auch nicht erwartet.
«Lass uns eine Minute rausgehen», schrie David Souxsie ins Ohr.
«He, ich bin doch wegen der Hot-Ravers hier, können wir nicht später raus, in der Pause oder so?»
David zuckte mit den Schultern und schob sich in Richtung Ausgang. Souxsie beachtete ihn nicht mehr. Die Hot-Ravers hatten sie, wie die meisten der Zuhörer, entführt und liessen sie nicht mehr aus ihrer Gewalt. David atmete tief durch, als er endlich vor dem Bingo stand und feststellte, dass der Abendhimmel noch immer purpurn leuchtete. «Purpurtag», flüsterte er, «Purpurtag, und das Leben nimmt seinen Lauf». Wie konnte es nur passieren, dass ihm die meisten Stunden dieses Tages fehlten? Was war geschehen, seit die Flutwelle ihn über Bord gespült und das Schiff zerschmettert hatte? Diese Fragen beunruhigten ihn. Anfangs war es selten vorgekommen, dieses plötzliche Verschwinden, ein Fehler, irgendwas war schiefgelaufen. Aber diese Probleme häuften sich. Einmal war er in ein Gespräch mit Marlon vertieft und plötzlich fand er sich mitten im Zimmer eines verliebten Paares wieder. Dieses peinliche Erlebnis hatte ihm zu denken gegeben. Er schätzte es nicht, keine Kontrolle über sich zu haben. Und jetzt das. Er hätte schreien können, wenn nicht plötzlich Stonk vor ihm gestanden wäre.
«He!»
«Ja?»
«Du weisst, dass ich mit Souxsie hier bin! Also quatsch nicht blöd mit ihr rum, verstanden?»
Stonk war einen Kopf grösser als David. Er musste sich überwinden, ihm in die Augen zu sehen.
«Hör mal, Stonk, du machst mir keine Angst. Du schubst gerne kleine Jungs herum, aber in dir drin wohnt ein verschreckter Laubfrosch».
Stonk war ein Feigling. Es standen harte Strafen auf Schlägereien in der Öffentlichkeit, und Stonk fürchtete sich davor, bestraft zu werden.
«Hör zu, Arschgesicht, hier vor den Leuten kannst du gross angeben, aber warten wir doch die Nacht ab, ok? Ich werde heute bei den Spielen dabeisein», Stonk zog den runden Plastikchip hervor, der seine Teilnahme bestätigte, «und ich werde dich als Gegner wählen. Der Verlierer lässt die Finger von Souxsie! Einverstanden?»
«Einverstanden, Stinktier».
Stonk ballte die Finger zu einer Faust. Er traute sich aber nicht, diese Faust zu erheben. Er verliess David in Richtung Eingang.

«David, oh David, da hast du dir ja etwas Schönes eingehandelt».
Marlon hatte das Gespräch belauscht. Doch David war trotz dessen Piratenlook erfreut, ihn zu sehen.
«Sag mir doch, was heute Morgen mit uns geschehen ist?» Marlon ging nicht auf Davids Frage ein.
Jetzt war auch Souxsie aus dem Bingo gekommen «David, was ist los, hast du dich mit Stonk gestritten?»
Offenbar hatte ihr Stonk einige Dinge ins Ohr gebrüllt.
«Stonk ist wütend auf dich», stellte Souxsie fest. Sie bedachte David mit besorgten Blicken.
«Mann, ja. Der Kerl hat doch eine Schraube locker».
«Du solltest dich nicht mit ihm streiten, David». Es war jetzt Marlon, der sprach.
«Findest du es richtig, wenn er dich einen Sack voll Scheisse nennt?», erwiderte David.
«Hat er nicht!»
«Doch hat er, vor zwei Tagen war’s, aber du hörst ja nicht hin. Keiner hört richtig hin, wenn Stonk was sagt. Und keiner sieht hin, wenn er Jungs rumschubst, keiner verpfeift ihn je, der grosse Stonk mit seinem blauen Anzug. Typen wie ihn gibt es haufenweise, überall! Warum müssen sie sich hier rumtreiben?»
«Du bist ungerecht, David».
Diesmal war es Souxsie, die den Einwand erhob.
«Ja, Souxsie, vielleicht. Aber der Kerl hat etwas gegen mich. Er mag es nicht, dass du dich mit mir abgibst.»
Souxsie verdrehte die Augen.
«Männer!», sagte sie verächtlich, «ich bin hier, um mir Roy anzuhören. Macht doch was ihr wollt!»
Mit diesen Worten verschwand sie wieder im Bingo und überliess Marlon und David sich selber.

«Sie ist nett, diese Souxsie», meinte Marlon, «etwas exzentrisch vielleicht, aber eigentlich ganz nett. Was aber findet sie an diesem Stonk?»
«Findest du dich nicht exzentrisch, Marlon? Schau dich doch bloss an! Ein Pirat im Bingo. Kein Wunder, will keine Frau je mit dir tanzen. Ist das nicht exzentrisch? Du hättest wenigstens deinen rostigen Säbel daheimlassen können!»
«Ich war nicht Zuhause», sagte Marlon mit gekränkter Stimme.
«Ich glaube, wir drehen alle noch durch», meinte David, «komm, wir trinken einen zusammen».
Marlon und David traten wieder ins Bingo. Drinnen war es mittlerweile heiss geworden. All die schwitzenden Körper. Roy stimmte zur Abwechslung leise Töne an und sang ein Stück von A. G. Roff, einem von Davids Lieblingskomponisten.
«Here I live beside your dream...»
Diese Zeile durchbohrte David jedesmal wie ein Dolchstoss, auch wenn sie aus dem Munde von Roy Gil kamen.
«... no influence over the act
there you stand
outside your skin...»
«Besser hätte es A. G. Roff auch nicht singen können», rief Marlon begeistert.
«Halt die Klappe, du Piratensack, das ist mein Lieblingsstück. Der geniale A. G. Roff, gesungen vom unterdurchschnittlichen R. G. Boy.»
«Was hast du immer nur gegen alle, David?»
Aber David hörte Marlon nicht zu. Wenigstens den Schluss des Stückes wollte er nicht verpassen.
«... over is the midnight show
come on dancing
follow me
where ever
I may
go»

Tosender Applaus. Im Gegensatz zu Roy war A. G. Roff eine tatsächliche Legende. Er hatte viele Auftritte im Bingo absolviert und dabei die Herzen der Menschen erobert. A. G. Roff war der Mythos, der diesen Club beseelte, egal, ob die Hot-Ravers alles daran setzten, sich in die Gedanken der Zuhörer zu schmuggeln.
«Nur einmal noch A. G. bei einem Konzert zuhören», seufzte David.
«Das geht nicht, du weisst doch, die Spiele. Seine Wünsche waren mächtig, er hat gekämpft. Ein richtiger Held». Marlons Stimme wurde pathetisch: «Diese Welt hat einen neuen Helden gewonnen, aber einen grossen Musiker verloren».

Die Zeit torkelte. Davids Kopf war schwer. Wie ein Aufwachen nach einem nächtlichen Suff. Waren Stunden vergangen, Minuten, Tage, Wochen? Anstatt Roy-Gil Boy stand der grossartige A. G. Roff auf der Bühne. Der kleingewachsene Mann intonierte wieder «Beside Your Dream», seine Hymne auf diese Welt.
«... what happened to your naked thoughts».
Das konnte ihm keiner beantworten. Neben David stand Souxsie und unterhielt sich mit Sunwalk. Stonk hielt sich noch im Hintergrund. Glücklicherweise. Alles war neu und aufregend. Ein Kribbeln in der Magengegend. Nach und nach wurde auch Davids Kopf wieder klar.
«Zu Roff’s Musik kann keiner tanzen».
«Ja, aber die Texte, hör dir das doch an».
Souxsie und Sunwalk. Wer von ihnen älter war, wusste David nicht. Aber in ihrer Gedankenwelt trennten sie Jahrzehnte.
Die Zeit torkelte erneut. Die Spiele. Wünsche, die erfüllt werden, innigste Geheimnisse offenbart. Den Spielen konnte sich keiner von ihnen entziehen. Jeden Tag erneut sassen sich zwei Auserwählte gegenüber, bekämpften sich Kraft ihrer Gedanken und Willensstärke und liessen mit atemberaubenden Zauberbildern den Himmel zur Bühne ihrer Illusionen werden.
Die Spirale drehte sich weiter. Souxsie zupfte ihn am Ärmel.
«Du bist heute seltsam drauf, David. Den ganzen Tag schon. Irgendwie abwesend».
«Ist schon ok, Souxsie, tun mir leid. Ich glaube, ich werde heute bei den Spielen dabeisein».
«Nein!»
Souxsie hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund. Die Spiele waren aufregend, jeder wünschte sich, dabei zu sein. Aber das war auch mit Gefahren verbunden. Keiner konnte voraussagen, wie die Spiele verliefen. Viele hatten sich schon ins Nirwana katapultiert.
«Stonk wird spielen. Er wird mich als Gegner wählen. Er ist echt wütend».
«Stonk spielt? Ist er verrückt geworden? Was soll er sich denn wünschen?»
David konnte es sich schon vorstellen. Aber er wollte Souxsie nicht weiter beunruhigen.

Die Spiele fanden bei den drei Eulen statt. Wie jeden Tag, seit diese Welt erschaffen wurde. In endlosen Kolonnen zog es die Zuschauer zu den ihnen zugewiesenen Plätzen. Marlon sass in Davids Nähe, Souxsie ein Stück weiter hinter ihnen. Zu den Spielen erschien man in den Gewändern der alten Römer. Das Dekor war den antiken römischen Amphitheatern nachempfunden.
Ein Fanfarenstoss ertönte aus dem Nichts.
Stonk erhob sich ohne Aufforderung und hob seinen runden Plastikchip in die Höhe. Die Leute applaudierten. Er machte einige Schritte in Richtung dem Halbrund in der Mitte der Arena und stellte sich auf einen runden Steinsockel. Stonk erhob den Arm und zeigte in Richtung der Zuschauer. Die Auswahl des Gegners. David durchliefen kalte Schauer und er verkrampfte sich. Wie oft hatte er sich gewünscht, bei den Spielen dabei zu sein. Aber wie sehr graute ihm vor Stonk.
Stonk hatte gewählt. Die Meute jubelte ihnen zu. David erhob sich und hoffte, dass seine Beine nicht nachgeben würden. Er trat in das Halbrund und setzte sich auf den zweiten Sockel. Stonk tat es ihm gleich.
Ein weiterer Fanfarenstoss. Die Spiele hatten begonnen.
Die Regeln waren einfach. Jeder Spieler hatte seinen eignen, tief in ihm verwurzelten Wunsch. Wer es fertigbrachte, diese Wunschbilder mächtig werden zu lassen, dem wurde dieser Wunsch gewährt. Der Gegner war besiegt, wenn dessen Wunsch klein und nichtig erschien. Die Zuschauer konnten diese Wunschvorstellungen in grossen Bildern über den Köpfen der Spieler mitverfolgen.
David begann, als sei Stonk nicht anwesend. Seine Vorstellung zauberte das Bingo in den Abendhimmel. Ein leichter Windhauch blies über die Köpfe der Zuschauer. Eine leise Musik, wie von Ferne, ertönte und brachte die Menge zum Raunen.
«Nur einmal noch A. G. bei einem Konzert zuhören», flüsterte Marlon vor sich hin.
Die Anwesenden wurde es bei den Klängen von «this time I watched the purple moon» warm uns Herz.
Bei Stonk tat sich nichts. Absolute Leere, kein Bild, nicht ein Sirren in der Luft.
«David hatte Recht», murmelte Marlon, «Stonk ist eine luftleere Heulboje».
Davids Bilder wurden immer stärker. Getragen von der unglaublichen Kraft seiner Musik nahm A. G. Roff Gestalt an und war nun deutlich zu erkennen.
Dann kam Stonk.
Im Gegensatz zu Davids waren Stonks Bilder plötzlich da. Eine Wohnung im Westende der Stadt. Eine gelbe Eingangstür mit der Überschrift «Sexy Souxsie». Den Zuschauern verschlug es den Atem. Marlon blickte sich nach Souxsie um, konnte sie aber nicht sehen.
«So ein Schwein», sagte Marlon, «sein Verstand ist nicht mehr als ein Furz in der Luft».
David versuchte, sich nicht durcheinanderbringen zu lassen. Er liess «this time I watched the purple moon» sich langsam entwickeln. Der Einsatz einer traurigen Flöte gelangt ihm recht ansprechend, auch den für A. G. Roff typischen Melodienwechsel schaffte er problemlos. Er hatte die Zuhörer wieder gefesselt. Aber als David mit der Macht aller Instrumente dem Ende des Stückes zusteuern wollte, schlug Stonk erneut zu.
Die gelbe Eingangstür schwang auf. Durch den Türrahmen hindurch konnte man die Gestalt Souxsies erkennen. Sie blickte einem unbekannten Gegenüber direkt in die Augen. Die unbekannte Gestalt näherte sich ihr und überquerte die Türschwelle. Das Bild blieb regungslos.
David hatte erneut die Oberhand. Die Zeile «world is what we call a blast of wind» rief in jedem der Anwesenden eine Erinnerung an längst vergangene Zeiten hervor.
«Es macht uns traurig und ist doch so hoffnungsvoll», dachte Marlon.
Stonk zerstörte diese Gefühle, als er mit einem lauten Knall die Tür zuschlug. Die Gestalt ging weiter auf Souxsie zu, die jetzt einige Schritte zurückwich. David konnte nicht anders und blickte für einen kurzen Moment auf das von Stonk projizierte Bild. Er schaute in Souxsies tief verängstige Augen und das hinterliess in ihm eine Welle der Hilflosigkeit. Diese Hilflosigkeit machte Stonk stark. Die Musik verstummte und es waren nur noch die schlurfenden Schritte von Souxsies Gegenüber zu hören. Souxsie öffnete den Mund, um zu schreien, aber die Schreie waren in Stonks Vorstellungen nicht vorhanden. Als Stonks Arme Souxsie zu Boden rissen, konnte David nur einen Gedanken fassen. «Nein!» schrie es in David, «nein, nicht!» Und dieser stumme Schrei in Davids Kopf, ein Wunsch, wie er inniger nicht sein konnte, löste ein Bild im lauen Abendhimmel aus, das stärker war als die Musik A. G. Roff’s, stärker auch als Stonks brutale Wunschvorstellung. Ein grelles, weisses Licht löschte die Klänge von «This Time I Watched The Purple Moon» im Bingo und auch die Szene mit Stonk in der Wohnung von Souxsie. Über den Köpfen der Zuschauer blieb der Himmel leer. David hatte über Stonk gesiegt, die Spiele hatten einen neuen Helden hervorgebracht.

Marlon begrüsste David beim Nadelpark.
«Du hast gut gespielt, David».
«Danke, Marlon, aber es war grässlich. Und mein grosser Wunsch, A. G. Roff bei einem Konzert zuzuhören, kann auch nicht in Erfüllung gehen».
«Naja, man kann nicht alles erreichen. Aber der armen Souxsie hast du geholfen».
«Hast du Souxsie heute schon gesehen, Marlon?»
«Nein, nicht heute und nicht gestern».
«Stonk auch nicht?»
«Nein, Stonk auch nicht».
«Ich werde Souxsie suchen gehen», murmelte David. Er ahnte, dass es sich um eine lange, erfolglose Suche handeln würde.
 

dan

Mitglied
hallo Manic Peter!

die grundstimmung in deiner geschichte gefällt mir gut. die charaktere werden gelungen in szene gesetzt. du verstehst dein handwerk!
nur leider verstehe ich die geschichte nicht so recht. es bleiben so viele fragen offen: welche besondere bedeutung hat der purpurtag? was sollen die spiele, wie werden die wünsche erfüllt? warum ist david nun ein held? warum macht a.g. roff keine musik mehr, nachdem er an den spielen teilgenommen hat? wieso wird stonk's wunsch doch erfüllt (das vermute ich doch richtig, da er und souxsie ja seit zwei tagen nicht mehr gesehen wurden), obwohl er verloren hat?
du legst so viele interessante fährten, aber es wird quasi nichts beantwortet; auch wenn david das alles nur träumen sollte!
gibt es eine fortsetzung...?

grüße dan
 



 
Oben Unten