Puzzle der Hemmungslosigkeit

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Mäuschen

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Puzzle der Hemmungslosigkeit


Die alte Frau ist so gut wie tot.
Ich weiß das.
Sie wohl nicht.
„Schieb endlich die Kohle rüber oder ich mach Ernst, Oma.“ Ich hebe die Pistole ein Stückchen höher. Von ihrer Brust auf ihr Gesicht. Hoffentlich ein wenig angsteiflößender.
„Nein, Junge.“ Sie schüttelt wieder nur leicht den Kopf. Ihre braunen Augen haben mich zu Beginn glauben lassen, dass sie weder streitsüchtig noch stur, sondern gutmütig und nachgiebig wäre. Schnelle Sache eben. Tja, getäuscht.
„Du willst wohl wirklich sterben, was? Ich verschwinde sofort, wenn du mir das Geld gibst, Oma. Versprochen.“ Meine Geduld ist langsam am Ende. Seit langen Augenblicken schon stehen wir uns gegenüber, aber weder meine Versprechungen noch meine Drohungen haben etwas bewirkt. Sogar meine Pistole lässt sie ungerührt. Was ist nur los mit dieser alten Frau? Nicht nur, dass sie keine Angst hat, sie weigert sich auch noch, mir das Geld zu geben. Es ist ja nicht so, als ob ich hinter ihrer Rente her wäre oder Ähnliches...
„Du solltest die Waffe hinlegen, deinen Freund nehmen und einfach aus dem Laden gehen. Ich werde keine Polizei verständigen. Du bist doch ein schlauer Junge, du willst das hier doch alles gar nicht machen.“
Mir wird übel. Sie redet mit mir wie mit einem kleinen Kind. Zum Kotzen. „Er ist nicht mein ‚Freund‘, die Polizei ist mit scheißegal und wenn du noch ein Mal den Mund aufmachst, knall ich dich ab!“, brülle ich sie an. Ich bin eigentlich nicht wütend und solch eine flapsige Sprache benutze ich auch nie, aber diese Situation erfordert dieses Verhalten irgendwie.
Überhaupt ist nichts so, wie man es im TV sieht oder in Büchern liest. Ich habe kein schlechtes Gewissen. Aber großen Spaß macht es auch nicht gerade. Unter der Sturmhaube schwitze ich nämlich wie ein Schwein. Es ist mein erster Überfall, aber Angst habe ich keine. Ich will einfach nur das Geld aus der Kasse haben, nichts weiter.
Etwas beunruhigt sehe ich zu dem kleinen Lagerraum hinüber, in dem Jake seit unserem Eintreten sein Unwesen treibt. Keine Ahnung, was er dort hinten sucht, aber er wird schon bald wieder zurückkommen und bis dahin muss ich hier fertig sein. Es ist bestimmt nicht sein richtiger Name, ich habe ihm auch meinen nicht verraten. Wir werden uns nach dem hier sowieso nie wieder sehen. Da Geduld aber wahrscheinlich nicht zu den Eigenschaften eines routinierten Räubers zählt, beeile ich mich besser.
„Du brauchst das bisschen Geld in der Kasse doch gar nicht. Ist es dir wert, dafür einen Menschen zu töten?“, spricht die alte Frau ruhig weiter, als ob nicht gerade die Mündung einer geladenen Pistole genau zwischen ihre Augen gerichtet wäre.
„Halt’s Maul und tu endlich, was ich sage!“
Es ist wirklich nicht so wie im TV. Ich könnte sagen, dass ich mit meinem Sohn erpresst werde und ihm etwas passieren würde, wenn ich hier nicht mitspielen würde, aber ich habe keinen Sohn. Ich könnte sagen, dass ich das Geld dringend für die Operation meiner todkranken Tochter brauche, aber ich habe auch keine Tochter. In Wahrheit verdiene ich nicht einmal schlecht. Ich suche auch nicht den Nervenkitzel oder bin übermäßig gewalttätig.
Ich bin hier, weil es eine neue Erfahrung ist.
Jake habe ich in irgendeiner Bar kennengelernt. Ich bin angesprochen worden, ich habe zugestimmt. „Tankstellen-Überfälle sind ein Klacks“, hat er mir erzählt und ich habe keine Zweifel daran gehegt. Bis zu diesem Zeitpunkt zumindest.
Jake hat sich wahrscheinlich noch nie mit Omas hinter der Theke herumschlagen müssen.
„Das ist meine letzte Warnung. Ich werde Sie erschießen, wenn Sie mir nicht augenblicklich das Geld geben.“ Ich werde zu meiner eigenen Überraschung plötzlich höflich. Mein Anstand bricht sogar als Dieb aus mir heraus.
Ich würde sie erschießen. In Filmen sieht man immer wieder, dass die bösen Typen es schließlich nicht über’s Herz bringen, abzudrücken. Ich weiß, dass ich damit keine Probleme haben werde. Meine Hand zittert nicht, mein Gewissen rührt sich nicht. Nur der Schweiß rinnt mir in Strömen über den Rücken – blöde Mütze.
„Tun Sie, was Sie nicht lassen können.“ Auch sie wird höflich. Ist sie überhaupt ein einziges Mal unhöflich gewesen? Oder ängstlich? Weshalb nicht?
Sie glaubt mir nicht, kommt es mir in den Sinn. Sie hält mich für unfähig. Sie hat wohl zu viel TV gesehen.
Wenn dich die Polizei findet, wanderst du in den Knast, meldet sich plötzlich eine Stimme in meinem Kopf. Vielleicht doch noch mein Gewissen? Auch nur eine neue Erfahrung, entgegne ich.
Mein Finger krümmt sich um den Abzug. Die alte Frau schließt die Augen und ihre Hände, die sie zuvor gelassen auf dem Tresen aufeinander gelegt hat, zittern nun. Hat sie jetzt ihren Fehler eingesehen? Wahrscheinlich. Aber es ist zu spät.
„Hey Alter! Biste fertig?“ Jake kommt aus dem Nebenraum gestürmt, sein schwarzer Beutel ist bis zum Platzen gefüllt. Scheinbar überrascht bleibt er mitten im Raum stehen und sieht zwischen der Frau und mir hin und her. „Was’n hier los?“
„Nichts“, antworte ich und überlege einen Moment, die Waffe auf Jake zu richten. Wenn ich ihn töten würde, täte ich der Welt einen Gefallen. Während ich versuche, meinem Leben hiermit ein neues Puzzleteil hinzuzufügen und auf diese Weise ein ganz eigenes Bild zu erschaffen, plündert er diese Tankstelle nur wegen des Geldes.
Ein Mensch wie ich sollte niemals eine Waffe in die Hand bekommen, denke ich mir plötzlich. Unvorhersehbar, was ich damit mache. Hemmungslos bei dem, was ich mache. Ich habe schon viele Puzzleteile in meinem Bild, in den verschiedensten Farben. Ich lasse keine Erfahrung aus, ich scheue vor nichts zurück.
Ein blutrotes Puzzleteil macht sich vorerst nicht gut in meinem Bild, beschließe ich kurzerhand. Die Erkenntnis, dass ich abdrücken kann, genügt mir mehr als der praktische Beweis. Ich lasse die Waffe sinken.
„Ey Mann, hast du das Geld?“
„Natürlich“, lüge ich. Ob ich damit die Frau in Schutz nehme? Es klingt wohl so, aber in Wirklichkeit will ich Jakes Reaktion später abwarten, wenn ihm bewusst wird, dass er keinen einzigen Cent sehen wird. Ob er versuchen wird, mich zu erschießen? Wieder eine neue Erfahrung, ein neues, farbiges Puzzleteil.
„Dann lass uns abhauen.“ Jake scheint es so eilig zu haben, dass er nicht einmal den leeren Geldsack auf dem Tresen bemerkt.
Wenige Augenblicke später sollte ich erfahren, wie sehr ich mich getäuscht habe – was meine Entscheidung angeht und was Jakes betrifft.

Es erklangen kurz nacheinander zwei Schüsse aus zwei unterschiedlichen Pistolen.
Das unvollständige Bild mit den bunten Puzzleteilen, von denen ein Blutrotes deutlich herausstach, erhielt langsam einen roten Hintergrund.
 



 
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