Puzzle spielen

3,00 Stern(e) 3 Bewertungen

Zefira

Mitglied
Seit ich von der Bauplanungsfirma freigesetzt wurde, nimmt mein Leben entschieden eine Wendung zum Besseren. Ich brauche mich zum Beispiel nicht mehr von Konserven zu ernähren, weil ich endlich Zeit zum Kochen habe. Daß ich trotzdem weiterhin mittags regelmäßig eine Büchse aufmache, ändert nichts daran. Jetzt ist es meine eigene freie Entscheidung. Genauso ist es mit dem Aufstehen. Der Wecker klingelt weiterhin um halb sieben Uhr morgens. Ich lege eine Decke darüber und bringe ihn so zum Schweigen. Jedenfalls brauche ich nicht aufzustehen, wenn ich nicht will. Das überlege ich mir noch fünf Minuten, bis ich dann wirklich aufstehe. Ja, das ist wahre Freiheit.

Es sind andere Dinge, die mich verstimmen. Der Pulverkaffee schmeckt wie Medizin. Die Brötchen wie feuchte Watte. Die Marmelade scheint nur aus Sacharin zu bestehen. Dazu das angefangene 2000-Teile-Puzzle auf dem Couchtisch. Der Wilde Kaiser mit Almwiesen im Vordergrund. Auf der Wiese grasen Kühe, oder liegen wiederkäuend im Gras. Rotbunte und schwarzbunte Kühe, die entsprechend gefleckten Pappteile habe ich beiseite gelegt. Drei Kühe sind schon fertig zusammengesetzt. Ganz oben ist viel blauer Himmel ohne ein Wölkchen, das Orientierung verheißen könnte. Dutzende von gleichförmig blauen Pappteilen liegen in der Schachtel. Der Berg dagegen ist felsengrau mit Klecksen von Tannengrün. Den habe ich in den Schachteldeckel sortiert: Haufen von Grau, grün getupft. Zweitausend Teile. Was für eine Herausforderung.

Zwischen all den himmelblauen Teilen im Schachtelboden sind auch hellgraue, blaugraue, ein dunkles mit einem hellen Streifen. Der Silberstreif am Horizont. Ich probiere es am lückenhaft ausgelegten Himmel aus, nirgends will es hinpassen. Sodbrennen am frühen Morgen. Zuviel Sacharin. Vor dem Fenster gurrt eine Taube.

Ich muß einkaufen, ich muß die Zeitung lesen. Die Zeitung scheint jeden Monat dicker zu werden. Immer mehr Reklamebeilagen, der Anzeigenteil wird auch immer größer. Ich brauche Stunden, das alles zu lesen. Und ich muß das Puzzle legen. Das Pappteil mit dem hellen Streifen auf dunkelgrauem Grund klotzt zwischen den himmelblauen Teilen und fordert Beachtung.

Jetzt habe ich das Teil wieder in der Hand, drehe es hin und her, setze es mal links, mal rechts am Himmel an. Um den Gipfel des Wilden Kaisers herum ist der Himmel etwas dunkler, fast schon gewittergrau. Doch es will nicht passen. Ich drehe es ganz herum. Ja, jetzt kommt mir die Erleuchtung: es gehört an eine der Kühe. Auf den Kopf gestellt, wird aus dem Silberstreif am Horizont ein weißer Streifen auf dunklem Fell. Es gehört zu einer schwarzbunten Kuh, die am Fuß des Wilden Kaisers liegt und wiederkäut.

Ach ja.

Jeden Tag sagt mir ein kleiner Teufel, daß mein Leben ganz anders wäre, wenn es doch nur anders wäre.
 
W

willow

Gast
WOW... wie wundervoll beschrieben. Der erste Satz hält das Versprechen der besseren Wendung nicht nur überhaupt nicht, nein, die Geschichte geht noch viel weiter... Das Leben eines Menschen, der nichts mehr mit sich anzufangen weiß, als das, was er ein Leben lang gewohnt war. Ich muss ein Puzzle legen, ich muss die Zeitung lesen, ich muss arbeiten gehen. Ich muss zwar nicht aufstehen, muss keinen Konservenfraß mehr konsumieren, tue es aber trotzdem.

Der letzte Satz muss übrigens nicht sein, meiner Meinung nach. Es würde wahrscheinlich eine stärkere Wirkung geben, ihn wegzulassen und mit dem "Ach ja!"-Effekt des Puzzleteilchens zu enden. Der letzte Satz spricht das aus, was die Geschichte über langsam aufgebaut wird und daher ist diese Schlussfolgerung besser vom Lesenden zu ziehen, denke ich.

Einen lieben Gruß,

willow
 

kostho3

Mitglied
Lieber Anonymus !
Das ist die Art von Geschichten, die ich von Dir so schätze.
Übrigens fliegt die Anonymität auf, sobald man in einer "Buddy-Liste" steht, wegen der Uhrzeiten.Wir lesen uns hoffentlich bald wieder im Chat!

Liebe Grüße Kostho
 
A

annabelle g.

Gast
gut! den letzten satz lassen; es ist immer der teufel, der uns auf unserer schulter sitzt!

annabelle (neu figuriert, konfiguriert und toolamputiert)
 

Zefira

Mitglied
Dann will ich mich mal outen. ;)

Liebe Mitleser,

ich bin zwar nicht die, für die kostho3 mich hält (war noch nie ein einem Chat), aber das Textchen ist jedenfalls von mir.

Ich habe es - vielleicht nicht ganz korrekt - deshalb hier eingestellt, weil ich in der Textwerkstatt schon ein größeres Projekt habe ("Frau Holle"), den kleinen Ausschnitt hier aber nicht für so "fertig" hielt, um ihn ins normale Textforum zu stellen.

Es handelt sich um eine Hausaufgabe für eine Schreibgruppe. Die Vorgabe lautet, eine Geschichte zu schreiben, in der folgende zwei Sätze (wörtlich) vorkommen:

Jeden Tag sagt mir ein kleiner Teufel, daß mein Leben ganz anders wäre, wenn es doch nur anders wäre.
Ich lege eine Decke darüber und bringe ihn so zum Schweigen.


Ich fand es reizvoll, die Sätze umzukehren... Die Ich-Form hätte ich lieber vermieden, aber das ging natürlich nicht bei der Vorgabe... es sei denn man nimmt den ersten Satz als Zitat, vielleicht schreibt ihn der anonyme Arbeitslose ins Poesiealbum oder findet ihn auf der Rückseite des Kalenderblatts...?

Ach ja.

Danke euch tausendmal ;)

Zefira
 
A

annabelle g.

Gast
das beste ist natürlich das bild von dem puzzle-teil, das zunächst ein silberstreif am horizont ist und dann nur teil einer KUH.

annabelle
 

Zefira

Mitglied
Schön, daß man das merkt. Das ist auch das Zentrum des Textchens. Na dann kann ja am Freitag nichts mehr schiefgehen (Schreibgruppentreff) :)
C4A
btw wenn Du Zeit und Lust hast, annabelle, dann schau doch mal in "Frau Holle".
 
A

annabelle g.

Gast
ich bin zur zeit toolamputiert und dann springt nicht viel mehr raus als "schönes bild". mein technischer adminstrator ist in zehn tagen wieder von sizilien zurück und wirds richten. bis dahin lese ich lieber nichts. annabelle
 



 
Oben Unten