REincarnation

Nimroc

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Sie war eine Spinne.
Von ihrer Kindzeit gab es nur eines zu berichten, Hunger und Angst.
Eingebettet im Überlebenskampf. Schon ihre Mutter wollte sie fressen, so wie sie ihren Vater gefressen hatte. Die Natur selbst lehrte sie erbarmungslos, dass sie bereit war zu töten um zu essen. Sie merkte schnell, dass sie darin gut war. Das Töten lag ihr.
Sie war klein aber nicht hilflos, das nicht! Nicht hilflos! Niemals!
Im Verstecken war sie Meister. Von Schatten zu Schatten. Keiner darf sie sehen. Das Leben scharf wie ein Messer.
Manchmal wie ein Stein, meistens aber schnell wie der Blitz. Bewaffnet mit giftigen Beißzähnen, die sie einzusetzen wusste, jagte sie ständig nach Essbarem.
War ihre Beute reich gewesen, genoss sie am liebsten das Blut, nur warm musste es sein. Das Blut schoss durch ihr hartes Exo-Skelett belebend und stärkend, viel besser als Fleisch. War ihre Beute mager, so konnte sie bis zu zwei Monaten ohne Nahrung auskommen, Nach so einer Fastenzeit musste sie gleich dreimal Beute schlagen und aussaugen, um ihren Hunger zu stillen. Am liebsten war ihr das Blut, und immer warm.
Die beleuchtete Gartenanlage brachte ihr Reichtum. Für eine hungrige Jägerin war dies der beste Platz um ihre Falle aufzustellen. Genau dort, wo die geblendeten Motten direkt in ihr Netz hinein tanzten. Sie war der Tod in diesem Licht. Einmal in dieses Licht blicken und deine Seele verlieren. Von einer hungrigen Spinne gefressen.
Viele der Motten und Fliegen fanden so den Tod.
Durch ihren Kuss in ihren Armen.
Langsam, während sie saugte, hörte das heftige Mottenherz auf zu pumpen. Es fehlte das Blut. Ein letzter Atemzug und das Flatterhafte in jeder Beute verliess den Körper. Zurück blieb immer nur die Hülle. Der Funke ging in das Licht.
Einmal, in ihrer Jugend, fragte sie sich, was die Motten wohl zu ihr trieb.
Waren sie einfach allesamt Narren?
Oder Selbstmörder?
Oder einfach dumm?
Es juckte sie nicht. Sollten die Motten doch tun und lassen was sie wollten.
Hauptsache sie hatte etwas zu saugen.

Sie kamen manchmal einzeln, manchmal in Scharen.
Sie saugte sie alle.
Sie wuchs, sie fühlte sich stark, wurde dick, träge und haarig.
Tagsüber schlief sie, am Abend jagte sie.

Mit dem Alter und dem leichten Leben kam ihr dieser Gedanke plötzlich wieder zu Bewusstsein.
Immerhin jagte sie an dieser Stelle sehr erfolgreich, wenn sie das sagen durfte, mittlerweile seit etwa fünf Jahren.
Gemessen an der Lebenszeit einer Spinne, grenzte das an eine halbe Ewigkeit. Verglichen mit der Lebenszeit eine Motte, war es wie der Anfang des Universums.
Ihr Ruf, der Ruf des Todes, musste in den Motten Genen schon existieren.
Wieso traten sie dann immer noch nach fünf Jahren diesen Todesflug an?
Das Licht rief nach den Motten, und im Licht lauerte sie, der Tod.
Sie war sich sicher, dass die Motten und die Fliegen nicht dumm waren.
Einmal, als das Licht für einen Sonnenzyklus verschwand, hatte sie erlebt, wie die Motten miteinander redeten. Die Spinne sah an der Lebensweise der Motten nichts Attraktives, bis auf diesen einen Augenblick, als sie die Motten über das Fliegen sprechen hörte. Das änderte ihre Meinung. Fliegen musste einfach toll sein!
Über alle Dinge, auch über die Angst, die manche Dinge auf sie ausübten, einfach so mit einem leichten Flügelschlag hinweg zu schweben.
Ah, das Fliegen musste schön sein!
Waren die Motten dann Selbstmörder? Wie konnte man sonst ihr Verhalten erklären?
Flog ihre Beute bereitwillig in den Tod hinein?
Sie wussten, dass sie, die Spinne, auf sie wartete, sie mussten es mittlerweile wissen.
Auf sie wartete der sichere Tod, sobald sie in dieses Licht blickten.
Alles war dunkel, und plötzlich war da Licht. Geblendet, von einem Licht, so wunderschön, dass keine die es je sah jemals wieder zurückkehrte, flog Generation um Generation von Motten in dieses Licht hinein.
Aber warum?

Diese Überlegungen brachten die Spinne auf einen anderen Gedanken.
Es war alles dunkel und plötzlich gab es Licht. Wie konnte das sein?
Wer erschuf dieses Licht?
Welches göttliche Wesen hat ihr so ein reiches Leben beschert?
Bewies die bloße Existenz dieses Lichts, welches sie täglich, nach einem Leben voller Angst und Hunger, ernährte, dass ein mächtigeres Wesen existierte?
Einen Wesen so gewaltig, so groß, dass es außerhalb ihrer Vorstellungskraft existierte?
Wenn das so wäre, was war dann mit der Sonne?
War die Sonne auch so ein Licht?
Ein Licht, das vielleicht von einem weiteren noch mächtigeren Wesen an und aus geknipst wurde?

Weißt du was?
Es war ihr völlig egal!
Hauptsache sie hatte etwas zu saugen!

Sie kamen manchmal einzeln, manchmal in Scharen.
Sie saugte sie alle.
Sie wurde noch dicker, noch träger und haariger.
Ihre Beinhaare standen mittlerweile scharf wie Schwerter in alle Richtungen, unzählig und rot.
Mittlerweile hatte sie schon die Größe eines Handtellers. Auch sie hatte unzählige Ehemänner gefressen, so wie sie Kinder geboren hatte. Für eine Spinne ihres Alters waren das nicht gerade Wenige.
Tagsüber schlief sie, am Abend jagte sie.
Die Motten kamen immer noch bereitwillig zu ihr.
Sie versuchte nicht mehr über die Frage nach zu denken, aber sie wurde von ihr jede freie Minute beherrscht. Sobald ihr Hunger gestillt war, kam sie wieder.
Wo kommt dieses Licht her? Wo kommt die Sonne her?
Sie versuchte ihre Diät von Motten auf andere Insekten zu ändern. Sie hatte auch Heuschrecken probiert, alles war köstlich, vor allem die Heuschrecken. Obwohl der wilde Geschmack des Heuschreckenblutes ihr mundete, schaffte sie es nicht, den lästigen Gedanken aus ihrem Kopf zu verbannen.
Diese Frage drehte sich in ihrem Kopf wie ein Kreisel, übernahm ihre Gedanken, machte sie verrückt.
Keine Antwort kam ihr in den Sinn, und so, wie ihre eigenen Beine, klickten diese Gedanken laut auf die harte Schale ihrer Überzeugungen.
Hauptsache sie hatte etwas zu saugen!

Sie spürte jetzt, dass ihre Zeit bald vorüber sein würde.
Die Zeit hatte sie besiegt.
Nicht ihre Kinder, allesamt Kannibalen; nicht ihre Ex-Ehespinnen.
Auch nicht die Rache suchenden Motten ihrer Fantasie.
In ihrer Fantasie kamen die Motten wie immer in Scharen, verfingen sich in ihrem Netz, und als sie sie mit ihren giftigen Zangen beißen und lähmen wollte, wurde sie plötzlich selbst zur Motte.
Sie starb jedes Mal und wachte wieder auf, zu einem Leben voller Angst und Hunger.
Hätte sie Schweißdrüsen, so würde ihr, in ihrer Angst, der kalte Schweiß ausbrechen.
Von allen Seiten schien das Mottenpack sie zu beobachten. Ein falsche Bewegung und es wäre alles vorbei. Daran glaubte sie jetzt fest. Sie klammerte sich an ihr Netz, so, wie sich ein über Bord geworfener Matrose, an einen Rettungsring klammern würde.
In letzter Zeit hatte sie aus diesem Grund gehungert. Sie konnte nichts mehr fressen, sie konnte nicht mehr jagen.
Sie blieb in ihrem Versteck. Ihre Angst war ihr Kerker. Ihr Hunger ihre Folter.
Sie fühlte sich alleine sicherer, aber was machte das für einen Unterschied?

Welches mächtige Wesen auch immer, ihr, der Spinne, dieses Licht geschenkt hatte, wollte sie, die Spinne, nun erlösen.
Es schickte eine andere Spinne in ihr Versteck. Der Tod lauerte nicht mehr, sondern griff an.
Sie versuchte zu kämpfen, sich zu verteidigen, aber die Andere war stärker. Sie war von langen Hungertagen geschwächt. In ihrer Verzweifelung beging sie einen Fehler, den die Andere kalt ausnutzte. Das Gift kroch ihr durch den Körper, langsam, unbesiegbar und endgültig.
Sie spürte jetzt, dass ihre Zeit gleich vorüber sein würde.

Die Spinne, die nicht sie selbst war, umarmte sie zärtlich, küsste sie, sie fühlte keinen Schmerz, im Gegenteil, es war ein erhebendes Gefühl. Die Gewissheit, die Endgültigkeit dieses Kusses ließ sie leicht werden.
War das Fliegen auch so schön?
Ihr Herz schlug das letzte Mal.
Sie konnte noch sehen, wie die andere Spinne ihren Platz im Netz einnahm, bevor das Licht sie blendete. Sie erblickte das Licht, wie es Tausende von Motten vor ihr getan hatten.
Es war die Erlösung.
Wohin wird es sie führen?

Das Spinnengift war wie ein Tor.
Ein Tor zu einer anderen Existenz.
Eine Existenz voller Licht.
Hier musste die hungrige Spinne nicht mehr saugen, um zu überleben.
Nie wieder den Geschmack von Blut schmecken, nie wieder den Flug der Motten beobachten dürfen.

Als sie das verstand, wollte sie unbedingt zurück.

Sie war ein Mensch.
Von ihrer Kindzeit gab es nur eines zu berichten, Hunger und Angst…
 



 
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