Rabbi Löw, der Golem und ich

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blaustrumpf

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Rabbi Löw, der Golem und ich

Die Sage aus dem mittelalterlichen Prag berichtet: Rabbi Löw war der Frömmste unter den Kabbalisten und Weiseste unter den Frommen. Doch sein Rat konnte sie nicht schützen vor der Gewalt der Peiniger. In seiner Not schuf Rav Löw einen Golem aus Lehm.
Papierstücke mit dem Namen des Ewigen, in die noch feuchte Erde gedrückt, erweckten den stummen Mann zum Leben. Als Wächter wanderte er durch die Gassen des Ghettos. Die Peiniger lernten ihn und seine Kraft fürchten und siehe: Die Übergriffe ließen nach.
Der Golem wuchs an Kraft, doch nicht an Verstand. Schließlich erhob er sich gegen seinen Schöpfer. In einem schweren, mitternächtlichen Kampf gelang es dem Rabbi, seinem Geschöpf die papierenen Siegel zu entreißen. Ihrer mystischen Kraft beraubt, zerfiel der Golem wieder zu Staub.
Meine Zeit ist eine andere. Ich bin weder fromm noch bin ich weise. Aber als ich mich aufmachte und Begegnungen, wenn nicht mehr, im Internet suchte, schuf ich mir einen Golem. Was meine Schwachheit mir versagt, das gelingt ihm, der für mich den Datenhighway entlang wandert.


Du bist stark. Selbstbewusst stehst du da, breitbeinig, gelassen, wachsam. Dich wirft nichts um. Ich habe dich erschaffen, so wie Rav Löw den Seinen. Wie dieser tauchst du aus den verwinkelten Gassen des Ghettos auf, bist plötzlich da, wenn es gilt, die Gerechten und Frommen zu verteidigen. Du bist mein Golem. Und wie die Prager Riesengestalt aus Lehm geben dir Worte deine Kraft. Doch bei dir sind es nicht Namen des Heiligen, sein Name sei gepriesen. Dich beflügelt nicht das geschwungene Shem, das Zeichen für Leben liegt dir nicht auf dem Herzen und unter der Zunge.

Rabbi Löws Golem wirkte durch rohe Gewalt. Die Sprache gab ihm die Kraft, aber er selbst blieb stumm. Die Sprache war nicht seine Waffe, aber sie ist die deine. Du gebrauchst nicht die Faust, schwingst kein Holzscheit und keinen Spieß. Wozu auch, wenn deine Worte ihr Ziel treffen, die Feinde in Verwirrung fliehen oder in ohnmächtiger Wut zu stottern beginnen?

Als Rav Löw sah, was er geschaffen hatte, fürchtete er den HErrn, sein Name sei gepriesen. Die Liebe des Frommen zu Adonai, sein Name sei gepriesen, musste kämpfen gegen diese Furcht. Als Rav Löw sah, was er geschaffen hatte, war er nicht froh. Aber er lebte, und unter dem Schutz des Golems konnte er einen weiteren Tag beten zum HErrn, sein Name sei gepriesen.

Ich bin nicht Rabbi Löw. Mein Ghetto ist nicht das von Prag, wo sich die Altneushul unter der mächtigen Silhouette des Hradschins duckt und wo es im Schatten der Kirchen früh dunkel wird in den engen Judengassen. Wenn ich dich sehe, mein Golem, denke ich nicht an den HErrn, sein Name sei gepriesen. Wenn ich dich sehe, mein Golem, freue ich mich nicht des HErrn, noch fürchte ich ihn. Die Gassen, durch die du wandelst, sind in einem Ghetto, in dem die Schatten der Kirchen nicht mit dem Tag über die Häuser gleiten. Hier sind sie Fixpunkte, die zur Orientierung im Dickicht der Straßen dienen. Und wie zuweilen ein Wegweiser verdreht wird, lassen auch sie so manche Wanderer irre gehen, lange bevor sie ahnen, dass der rechte Pfad verloren ging.

Sie fragen dich vielleicht nach dem Weg, mein Golem, erkennen nicht deine Natur, deine Aufgabe bleibt ihnen verborgen. Und ihre Unschuld macht dich weich: Geduldig beantwortest du ihnen Fragen, die du schon kennst, lange, bevor sie wiederum gestellt werden. Ihr redet aneinander vorbei, so wortgewandt du auch Auskunft gibst. Du bist geduldiger als ich, mein Golem, erträgst viel mehr, als ich es jemals könnte. Du bist nicht wie ich, wie auch Rav Löws Golem nicht wie sein Meister war.

Rav Löws Golem war eine Gestalt aus Lehm. Da der Rabbi seinem Geschöpf die mystischen Siegel löste, ihm den Namen des HErrn, er sei gepriesen, von der Brust nahm und das Wort für Leben aus dem tönernen Mund, zerfiel der Golem zu Staub. Was wird aus dir, mein Golem, wenn ich deine Siegel löse, die Zeichen, an denen nichts mystisch ist, die Worte, die den Namen des HErrn, er sei gepriesen, nicht nennen?

Der Golem, so sagt man, liegt unter dem Dachstuhl der Altneushul. Er wartet auf seinen HErrn, dass der ihn rufe, wenn die Gerechten und Frommen unterzugehen drohen. Niemand unter den Lebenden hat den Golem gesehen. Seit Jahrhunderten liegt der Staub fingerdick auf dem Dachboden der Synagoge. Seit Jahrhunderten studieren Gerechte und Fromme die Geheimnisse der Kabbalah, preisen den Namen des HErrn. Und die Ungerechten eifern den Tsaddikim nach, doch ohne den Namen des HErrn, er sei gepriesen, ist ihr Tun leer und müßig. Keine Stimme ist laut genug, den Golem zu neuem Leben zu wecken. Und wie sein Geschöpf schläft auch Rabbi Löw ruhig und wartet, dass der HErr ihn rufe. Aber ich warte nicht. Ich schlafe nicht ruhig. Und auch du schläfst nicht, mein Golem.

War es ein Fehler, die Sprache zu deiner Waffe zu machen? Ich spüre, wie du mir entgleitest, mein Golem. Längst ist das Blatt auf deiner Brust mit dir verwachsen, zu einem Teil von dir geworden. Der Zettel in deinem Mund wurde zu deiner Zunge. Wie kann ich die Siegel nun lösen, da du selbst zum Siegel geworden bist? Und wenn es gelänge, was würde aus dir und aus mir?

Der HErr, sein Name sei gepriesen in Ewigkeit, erschuf Adam aus Lehm. Und Rabbi Löw seligen Angedenkens schuf den Golem nach des HErren Art. Aus was schuf ich dich? Wie der Ewige, sein Name sei gepriesen, Adam durch seinen Atem den Geist einhauchte, gab Rav Löw, der Tsaddik der Tsaddikkim, dem Golem den Namen des HErrn, er sei gepriesen, als höchste Weisheit. Was gab ich dir? Kein höheres Wissen als das, welches aus mir kommt, begabt dich. Kein höherer Wille als mein eigener Wunsch treibt dich voran. Es ist zu spät, dich mit etwas zu beladen, das ich selber nicht in mir trage. Da dich nichts über mir stützt, wie könntest du mich halten? Da keine Weisung dir das Herz öffnet, wie könntest du etwas darin aufnehmen?

Rabbi Löws Golem war ohne Vernunft. Die Mauern des Ghettos blieben die Grenzen seiner Existenz. Er war stumm. Die Worte des Ur-Ewigen, er sei gepriesen, gaben ihm Kraft, waren sein Leben. Du, mein Golem, bist nicht stumm. Aber dein Leben endet mit meinem Worten. Wie Rabbi Löws Golem lebst du nur durch das Wort. Und ohne das Wort bist du nichts. Ohne das Wort vergehst du zu weniger als Staub. Du hinterlässt keine Spuren, nicht auf dem Dachboden der Altneushul und auch sonst nicht in der Welt. Keiner der Gerechten und Frommen wird sich fragen, wie du wurdest. Alle wissen, warum der Golem des Rabbi Löws wurde. Aber wer wird fragen, warum du wurdest?
 

rolarola

Mitglied
Golem antwortet Golem

Hallo blaustrumpf!

Ein nachdenklich stimmende Allegorie! Den Golem loswerden könntest du natürlich, indem du einfach deinen Account löschst, aber das wäre wohl ein wenig zu einfach.

Ich stelle mir manchmal die selbe Frage: Schreibe ich, was ich bin oder bin ich, was ich schreibe? Wer ist rolarola? Ein "routinierter Autor" mit x posts und y Werken? Wer ist blaustrumpf? Bist du blaustrumpf? Bist du nur hier blaustrumpf oder anderswo auch? Erkennst du dich selbst als blaustrumpf oder ist das ein Anderer?

Eine interessante Frage, v.a. wenn man sich nur in der inneren Realität des Netzes über den Weg läuft und niemals in der äußeren. Oder treffen wir uns doch? Nur wissen wir's nicht?

Versuch mal, diesen Text in die Plauderecke zu stellen, er eignet sich m.E. hervorragend als Eröffnungstext für diese Problematik!

Schöne Grüße wünscht in diskussionsfreudiger Erwartung,

rolarola
 
G

Gelöschtes Mitglied 4259

Gast
Prag...

Hallo Blaustrumpf,

Dein Text hat mir nicht nur gut, sondern - und das sage ich so ehrlich wie selten - äußerst gut gefallen! Ich will nicht näher auf den Kerngedanken eingehen und den "erörterungsweise" (oder "diskussionsblöde") wie eine Bowlingkugel abwägen, in eine Ecke stellen, hochwerfen, hervorheben etc. Dieser Kerngedanke ist klar. Aber die Art Deines Vergleiches finde ich beeindruckend...
Dein Text zeigt mir zudem, daß Du Prag magst. Auch für mich hat die Stadt noch nichts von ihrer Faszination eingebüßt. Ich schrieb vor Jahren mal ein Gedicht über Prag, es gab da noch die DDR... Ich werde es suchen, vielleicht finde ich es ja noch...

Liebe Grüße

Pen.
 

blaustrumpf

Mitglied
Pragg mögen...

Penelopeia

Ja, sicher mag ich Prag. So sehr, wie man eine Stadt mögen kann, von der man nur ein Parkhaus und einen Konzertsaal erlebt hat...
Aber das erste war in Ordnung und der zweite wunderschön.
;)
Danke für den Zuspruch!
 
F

Franktireur

Gast
Ich nenne meinen Golem nicht Golem im Gegensatz zu Dir.
Auch bin ich mir bei meinem nicht sicher, ob ich ihn "tatsächlich" schuf oder ob er sich aus mir selbst durch sich selbst schuf - von daher stellen sich mir die Fragen nicht, die sich Dir stellen.

Das als kurze Vorrede zum besseren Verständnis. Nun zu Deinem Text und der angesprochenen Problematik.

Positiv könnte der Golem für Dich sein, um Distanz zu wahren zur Poesie. Anders ausgedrückt: Viele der Dichter der Romantik scheiterten daran, daß sie keine Dichter sein konnten, weil sie Dichtung lebten/waren. Nur die Distanz, die natürlich im Zweifelsfall zur Erkaltung oder gar im Extremfall zu einer Art inneren Spaltung führen kann, macht es möglich, den Dichter zum Dichter werden zu lassen.

Negativ betrachtet könnte er zum Fluch werden, denn wenn er nicht da ist bzw. einen vielleicht mal verläßt, fühlt man sich dementsprechend verlassen, d.h. man bleibt Privatperson und legt alles in den Golem, der quasi stellvertretend für einen selbst die Dichterrolle übernimmt. Kann eine sehr gefährliche Sache sein, die einen in Depressionen zu stürzen vermag, weil man dazu neigt, Mensch und Dichter zu trennen.
Auf der einen Seite ich, der Mensch, die Person mit all ihren Mucken;
auf der anderen Seite "nicht-ich" und "doch-auch-ich", der Künstler/Dichter, das idealisierte Bild von mir selbst. Verläßt Dich der Golem, verläßt Dich Dein Ideal!
Lasse es nie so weit kommen, versuche Dich lieber, das als letzter gutgemeinter Rat, mit ihm zu vereinen, wo es geht, d.h. stelle Deine Ideale nicht in Frage, weil Du Ihnen nicht genügst, stelle aber erst recht nicht Dich selbst in Frage, weil Du Deinem Ideal nicht genügst.

Das wars fürs erste. Stilistisch hat mir dieser Essay, so möchte ich ihn nennen, sehr gut gefallen.
 
M

Miriam

Gast
Hallo Blaustrumpf,

der Golem hatte uebrigens einen Namen: Er hiess Yossele!!!!

Gruss
 



 
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