Reaktion

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caspAr

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Reaktion


Und bestimmt sind es jetzt die letzten Tage. Tage, an denen Strahlen golden vom Himmel fallen. Licht, das Straßen und Alleen in einer einzigen großen Bewegung weichzeichnet, gelbes Laub aufspürt, was durch Reifen verschiedener Couleur in Schneisen geschnitten und dann in Säulen nach oben gewirbelt wird.
Die Stadt drängt. Die Stadt macht kalt, und sie macht einsam. Sie wirft Geräusche in die Nächte, die fremd und böse sind. Die Stadt gebärt Kinder. Sie lecken Sand von den Rutschen auf Spielplätzen, zwischen Minen aus Hundescheiße, gelangweilt gemustert von verlassenen und ausgebrannten Jahresmüttern, Frauen, die halbgewalkte Depressionen in den Haaren tragen und ihre gekrümmten Körper zentimeterweise auf Bänken hin und her schieben.
Phasen voller Sinn und Schönheit sind wie weggefressen, und die Sehnsucht nach einem Höhepunkt verlöscht stufenweise, unaufhörlich, aber dann doch ganz langsam. Terrassen aus Überdruss und Ekel sind es, die ich erklimme, hinauf zu einer tiefen Traurigkeit.

Heute morgen- ich, eingekerkert in eisiger Stimmung einer Morgendämmerung, bin wie immer aufgestanden und habe hastig drei Glas Wasser aus der Leitung hinunter gestürzt. Ich fühlte mich über Nacht wie ausgesaugt, wie schon einmal gestorben. Beim Zähneputzen bin in ich dann in Tränen ausgebrochen.
Warum sich etwas vormachen? Warum sich zwingen, einen positiven Aspekt im Leben zu finden? Dieses „Mir geht es gut“ und „ Ich darf keine Probleme haben“ - Gelaber hängt mir dermaßen zum Hals heraus, und der Umstand, dass die Gesellschaft mich nicht bestraft für diese abstoßende Lebenseinstellung, sondern das Schlimmste auch noch toleriert, verbessert meinen Zustand in keiner Weise.
Eiskalt werden meine Grundbedürfnisse befriedigt und mein Überleben abgesichert. Ich bin im Genuss einer Krankenversicherung, die ohne zu Zucken mein amerikanisches Magenmedikament bezahlt, und auf die ich mich beim Zahnarztbesuch verlassen kann. Außerdem besitze ich eine kleine Wohnung in mittelmäßiger Lage; dort gibt es warmes, fließendes Wasser, elektrischen Strom, einen Fernseher mit Videorecorder und DVD- Player und Kabelanschluss. In meinem Badezimmer ohne Wanne stehen eine Waschmaschine nebst Trockner, eine Mikrowelle in der Küche und ein Herd mit Backofen ebenso; Spiegelfließen neben der Toilette und Heizkörper, deren Thermostate ich auf und zu drehen kann, um die Zimmertemperatur stufenlos meinen Wünschen anzupassen, waren ebenfalls schon im Mietangebot enthalten. Ich darf mich also nicht beklagen.
Falls ich heiß duschen möchte, dann tue ich es. Habe ich Appetit, gehe ich zum Kühlschrank, oder kaufe mir etwas. Hunger kenne ich nicht, nur ansatzweise aus dem Fernsehen, wenn nordkoreanischen Waisenkindern irgendetwas zum Fressen vorgeworfen wird, und sie dann alles wieder auskotzen, während ich mir die Thunfischpizza reinziehe, die ich über mein Handy bestellt habe. Ich spüre nichts von einer Konjunkturflaute oder Rezession. Leute, die ich kenne, gehen weiterhin Sushi essen und zur Kosmetik, dann in das Solarium oder ins Fitnessstudio. Leute fahren weiterhin mit ihren Autos zur Tanke um Bier und Chips zu holen, und manchmal fahre ich zu all dem mit und fühle mich irgendwie dazugehörig. Ich habe mich mit den Gegebenheiten arrangiert, möchte man meinen. Nun, dem ist auch so.

Ich besitze viele Bücher über das Verhalten der Tiere und die Geschichte unseres Planeten. Auch habe ich Spielbergs "Schindlers Liste" gesehen und geweint. Ich habe Auschwitz besucht und mir Postkarten und ein Poster mit ganz vielen Schuhen darauf gekauft. Ich weiß, wo der Tempelberg liegt und kann nachvollziehen, dass es ziemlich hart sein muss, die eigene Tochter zerfetzt vor einer Diskothek in Jerusalem wieder zu finden. Ich bin kleinbürgerlich und intolerant, da ich ein Kopftuch zwar als modisches und schickes Accessoire wahrnehme, aber dann doch lieber Frauen berühren möchte, deren Haare ich sehen und riechen und fühlen kann. Die islamische Religion betrachte und bewerte ich einseitig, ohne Hintergrund, denn ich finde die Hindi eh cooler. Ich bin gegen eine pluralistische Gesellschaft, denn ich sehe in der Sharia keine wirkliche Alternative zu unserer Rechtssprechung. Ich bediene mich Ressentiments, ein Wort, was erst seit 'nem Flyer aus dem Westen in meinen Wortschatz trat, und das ich schwitzend im Duden nachschlagen musste, da irgendwie jeder diesen Scheiß kannte und mindestens dreimal am Tag durch die Luft posaunte.
Nichts desto trotz bin ich ein weltoffener Erdenbürger, irgendwie Mitteleuropäer und ein schwieriger Fall. Wir Deutschen hingegen sind ein trauriges und schwermütiges Volk. Wir kacken gerne gemeinsam ab, trinken Bier, erzählen uns Geschichtchen und singen kitschige Lieder von unerfüllter Liebe, Bergen und frischer Luft, und so. Auch haben wir Deutschen eine schwere Last zu tragen, und irgendwie haben unsere Spuren durch das letzte Jahrhundert eine große Verantwortung gegenüber den kommenden Generationen erschaffen, und das hat uns verunsichert. Außerdem erlaubt der Mensch keinen laxen Umgang mit den Mächten der Zeit, und so schnell wächst kein Gras über Geschichte, und irgendwie bekommen ein Haufen Typen noch eine Menge Kohle von uns. Alte Leute, deren Argumente schlagkräftig und für mich nachvollziehbar sind, denn auch ich würde es Scheiße finden, mit dem Wissen gleich gekillt zu werden, ohne Aussicht auf einen vernünftigen Cashflow, jahrelang unter katastrophalen Arbeitsschutzbedingungen schuften zu müssen .
Und wenn ich krank bin, Schnupfen habe oder so, dann lege ich mich ins Bett und kiffe mir die Birne zu. Und wenn ich dann darüber nachdenke, nicht hier in meinem Bett liegen zu können, sondern irgendwo im Freien übernachten müsste, als Freiwild für irgendwelche sadistischen Idioten, oder so, dass ich vielleicht so 'ne Art Mutter wäre, deren Tochter gerade von 'nem Lagerkommandanten gevögelt wird und deren Sohn sie schon im Dorf mit einem Brotmesser den rechten Arm abgeschnitten haben, wenn ich mir reinziehe, dass viele Typen, die voll Dreck am Stecken haben, niemals zur Rechenschaft gezogen werden, und, dass ich nicht an ein Leben nach dem Tod glaube, fuck man, wenn ich mir diese ganze Scheiße vorstelle, dann wird mir ganz schlecht, und ich bekomme irgendwie voll Angst, und dann muss ich aufhören, so zu denken und mir 'ne Dormicum schmeißen, damit ich irgendwie pennen kann, sonst würde ich endgültig durchdrehen.

Mir scheint die Leute vereinsamen vorsätzlich. Es gibt nichts, worüber ich mich streiten oder aufregen könnte, in unserer Gesellschaft ist es unmöglich, zu krepieren. Angenommen, ich würde ich mich an einem arschkalten Wintermorgen, spärlich bekleidet auf den Marktplatz der Stadt, in der ich wohne, legen, nur um in Ruhe verrecken zu können, es wäre undenkbar. Irgendetwas würde mich retten, vielleicht sogar in letzter Minute, seien es ein Netz aus sozialen Institutionen oder die schwammige Moral und Nächstenliebe meiner Mitbürger. Vielleicht würde ich sogar in den Zeitungen erscheinen, oder in die Spätnachrichten kommen, denn ich bin kein Penner, der sein Schicksal in die Hand der Straße gelegt hat. Nein- ich bin ein stinknormaler Mittzwanziger, der nach Meinung der Medien nicht ganz rund laufen dürfte.
„Grotesk“ ist irgendwie das einzige Wort, was mir dazu einfällt, denn eigentlich geht es mir scheiße, und ich finde das alles hier nur noch zum Kotzen. Mathegleichungen und chemischen Reaktionen schleppen sich in den Straßen an mir vorbei, und, wenn ich es mir jetzt, so beim Schreiben, einmal richtig durch den Kopf gehen lasse, sind Sendungen über Die Wiege der Menschheit in den dritten Programmen das Einzige, was mich noch bewegt .
Das ist eine ziemlich ernüchternde und harte Tatsache, das gebe ich zu, doch ich habe noch nie vor Freude gesprüht, außerdem glaube ich, meine Batterien sind irgendwie unten. Ich glaube, ich befinde mich im letzten Drittel meines Lebens, und das macht mich nicht fertig oder so, es ist ok, der Großteil der Menschen auf dieser Erde gibt erheblich früher den Löffel ab.

Und jetzt starre ich komischerweise auf den Spruch, den Spruch, den ich irgendwann an den Monitor meines Rechners geklebt habe. Neun Worte, die in schwarzen Buchstaben auf einem kleinen und weißen und rechteckigem Zettel stehen, eine chinesische Weisheit, welche ich irgendwann und irgendwo einem Glückskeks entnahm. In der Mitte des Lebens sind wir alle verschuldet steht dort, und ich weiß, dass es stimmt, denn die Sünden habe ich hinter mir gelassen, und irgendwie wird es Zeit, sich zu verabschieden. Ich fahre den Rechner runter, stehe vom Schreibtisch auf und gehe zu meiner Musikanlage. Ich lege was Trauriges ein, dann setzte ich mich aufs Bett.
Über der Stadt ist der Himmel grau, wie Blei, und mit jedem neuen Song wird es dunkler draußen, mit jedem Song rückt für mich ein Zeitpunkt näher, der letzte Augenblick ist wie ein Trip, bronzefarben und summend.
Irgendwann habe ich mich ausgeklinkt, und ich weiß nicht mehr, wann das war. Der Punkt, an dem ich mich jetzt befinde, war vorherbestimmt. Ich hatte nie ein andere Wahl. Irgendwie tut mir nur meine Mutter leid.
 

Kelly Cloud

Mitglied
Beklemmend echt geschrieben. Es ist Weihnachtszeit und genau diese von dir beschriebenen Gefühlen verstärken sich in dieser Zeit.

Solche Zeilen machen nachdenklich und lassen vielleicht doch einen Sinn in unserem trostlosen, sorg- und sinnlosen Dasein sehen.

Gut geschrieben, gut zu lesen, top up
 

Hetära

Mitglied
Hallo caspAr,

mir gefällt der Text auch ausgesprochen gut, aber gehört er wirklich unter 'Erzählungen'?

Lieber Gruß

Hetära
 

caspAr

Mitglied
shalom!

es ist doch nun wirklich egal, an welcher stelle, der text gepostet wird- gelesen wird er, allein das zählt, und unter der rubrik "prosa", ist er meiner meinung nach in guten händen. ach ja...
unser dasein gibt es wirklich nicht in geschenkpapier gehüllt, doch ist es auch nicht trost- und sinnlos, sorglos schon gar nicht, es geht wie immer und überall, um die balance zwischen den dingen. literatur heißt komprimieren. schmerz und liebe, gerne auch die traurigkeit. ich wünsche einen stillen und sanften advent.
 
Hallo CaspAr,

ich bin beindruckt! Wäre dies ein Aufruf für eine
Unterschriftensammlung, ich würde blind unterschreiben!
Fragt sich nur wofür, wenn einem keine Lösung
einfällt, außer zuzusehen, wie alles zusammenkracht!

An den Kritiken meiner Vorgänger ist schon was dran.
Ich glaube auch, dass die Grenzen zwischen den
unterschiedlichen Gattungen diffus sind, aber
trotzdem ist es für mich nicht wirklich eine Geschichte
oder Erzählung, denn es scheint eher ein persönliches
Statement zu sein, also eher ein Essay, oder irre ich mich?
Wäre es eine Erzählung, würde ich mich an Formulierungen
wie: cooler, voll Scheiße, stören, das tut irgendwie
weh beim Lesen, denn auch wenn man Alltagssprache
nutzt, ist es doch nicht ganz das gleiche wie
geschriebene Sprache.
Bsonders weil in deinem Text eine Menge gut formulierter
Sätze stehen! (halbgewalkte Depressionen in den Haaren, z.B.)

Nun ja, das war die Kritik, denn ansonsten hat mir schon
lange nichts mehr so gut gefallen!
Respekt!

"Ein Grabstein auf den Schlamassel, mit der Inschrift:
Menschheit, du hattest von Anfang an nicht das Zeug dazu!"
(Charles Bukowski)

Machs gut

black sparrow
 
M

Miriam

Gast
caspAR

Welche Jerusalemer Disco meinst Du denn? Es flog nie eine in die Luft.
Vielleicht verwechselst Du etwas mit dem "Dolphinarium" im Mai 2001. Aber das war in Tel Aviv.

Gruss
 

Kelly Cloud

Mitglied
Essay oder Erzählung

Oder am Ende Betroffenheitslyrik. Aber ich finde doch die Rubrik Erzählung ist gut gewählt. Aus zwei gründen:

1.Der Punkt, an dem ich mich jetzt befinde, war vorherbestimmt. Ich hatte nie ein andere Wahl. Irgendwie tut mir nur meine Mutter leid.
die zeit zerstört alles

Dieser Schluss hat mich schön erschreckt. Ich dachte: Was macht der Mensch jetzt.
Aber er lebt noch. Heisst, es ist kein Essay.

2.Wieso nicht die eigene Tochter zerfetzt vor einer Diskothek in Jerusalem wieder zu finden.

In einer meiner Erzählungen gab es auch ein Selbstmordattentat auf Weihnachtstouristen in Nazareth (Israel und nicht etwa in den USA).
Das sind doch die kleinen Freiheiten des Schriftstellers!

Ps: Es macht betroffen und nachdenklich. Und nachdenken hilft. Gesegnete Adventszeit
 



 
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