Reise in die Vergangenheit nach Sellin

sylvanamaria

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Liebste Anne, lange hast du nichts mehr von mir gehört. Ich stehe in deiner Schuld. Weißt du, ich habe meine Reise in die Vergangenheit verwirklicht. Erinnerst du dich an meinen vorletzten Brief über die Kaiserzeit, die Kaiser- und Ostseebäder ? Ich habe recherchiert und bin den Spuren nach gegangen und habe ein Kleinod entdeckt. Einen kleinen Ort namens Sellin auf Rügen, ca. 2000 Einwohner - exclusiv gelegen bietet die Steilküste einen grandiosen Anblick. Der besondere Reiz geht von den prachtvollen großen und kleinen Villen im Stil der Bäderarchitektur aus. Ein besonderer Baustil zwischen 1890 und 1914, der die Ostseebäder prägte. Weiß schimmernd, kunstvoll ornamentiert und gestaltet grüßen die Häuser den ankommenden Besucher schon von weitem und laden ihn an, das ermattete Haupt zur Ruhe zu betten. Klangvolle Namen lassen bitten und das Lebensgefühl längst vergangener Epochen ist mit jedem Atemzug zu spüren.
Viele Sommergäste aus Berlin reisten damals mit der Bahn nach Stettin und von dort per Schiff zu den Rügenschen und polnischen Ostesebädern wie Misdroy, Swinemünde, Göhren, Sellin, Binz. In Sellin wurde deshalb 1906 mit dem Bau einer Seebrücke begonnen , die bald als Wahrzeichen das kleine Städtchen prägte. Ursprünglich nur angelegt zur besseren Anbindung durch den Schiffsverkehr wurde die Seebrücke ein beliebter Treff der Sommergäste um z.B. zu flanieren, im Kaiserpavillon zu frühstücken und dinieren und um gesehen zu werden. Das Manko oder eben der besondere Reiz der Selliner Landschaft besteht darin, dass im Gegensatz zu den anderen Ostseebädern aufgrund der Steilküste keine am Seeufer langgestreckte Seepromenade angelegt werden konnte. Man behalf sich daher mit einer Promenade, die ins Meer hineinging und über der See schwebte. Schön und phantastisch bei schönem Wetter, gruselig und gefährlich bei schlechtem Wetter. Man merkt die Strömung und das zurückflutende Wasser an den Bohlen; der Pfahlbau bebte im Rhythmus des Wellenschlages. Der hintere Teil der Landbrücke ist bei Sturm landunter. Aus diesem Grund musste die Originalbrücke 1978 abgerissen werden wegen Zerfall und Verrotttung. 1998 wurde ihre Nachfolgerin eingeweiht und das nostalgische Gefühl ist hautnah wieder zu erleben. Wahrscheinlich war es für die Gäste damals sehr beschwerlich, den kleinen Exclusiv – Seeort zu erreichen- entweder über die Landstraßen, die zugegebenermaßen sehr beeindruckend sein konnten durch schöne Orte wie die weiße Stadt Putbus oder Garz oder Granitz mit seinem Jagdschloss, verbunden durch jahrhundert alte Alleen, die schon damals Kriege überstanden hatten. Es lohnte sich, aber man sollte es sich nicht so einfach vorstellen. Die Direktverbindung der B 96 gab es noch nicht und Automobile konnten sich nur die Reichen leisten. Aber wer nach Sellin fuhr, musste mindestens wohlhabend sein, denn dieser Ort war wirklich exklusiv und auf diese Sommergäste ausgerichtet. Auch heute kann man den Luxus entfernt wieder fühlen: die offenen Veranden der Villen laden zum Eintreten ein. Die Fenster verglaster Veranden und Erker lassen einen Blick erhaschen auf gedeckte Tische mit schimmernden Porzellan und Kristall. Schneeweiße Gardinen wetteifern mit der Farbe der Häuser. Im Garten werden die Bemühungen der Eigentümer sichtbar, Erholung pur an zu bieten: Liegestühle und Son-nenschirme auf gewässerten frischgrünen Rasen, blank geputzte rustikale Holzbänke und Tische laden zum Sonnenbad oder zum geselligen Treff ein. Damals wie heute- die Exklusivität wurde teuer zurück erkauft, denn jahrelang war Sellin ein sterbender Ort und versuchte, nicht im Dunkel der Geschichte unterzugehen. Für mich ist es wie ein Wunder, dass es dieser Ort geschafft hat, seine Vergangenheit wieder aufzubauen, auch wenn es nach wie vor Schwierigkeiten gibt. Aber die Grundstimmung ist wieder gegeben und es wurde viel getan,um die alten Momente wieder einzufangen.
Im Gegensatz zu den Badegästen des mondänen Seebades in alten Zeiten ist es für den heutigen Besucher auch reizvoll, die Umgebung zu erkunden. Wanderwege erschließen die Landschaft über weite Strecken durch das angrenzende Naturschutzgebiet bis nach Binz, Granitz und weiter. So bin ich zum Schwarzen See gewandert, einen Torfsee mit Moorreinschlüssen –ein sehr seltener Gewässertyp. Noch früh am Tag war er in Sonnenlicht gebadet, verwunschen im Buchen/Schwarzkiefernwald, mit Froschquaken, Libellensirren und himmlischer Ruhe. Man erwartete fast, dass wie im Märchen aus dem Frosch ein Prinz wurde, bis die Stille durch andere Wanderlustige unterbrochen wurde. Sehr raten kann ich auch zu einem Gang über den Kliffweg hoch oben auf der Steilküste mit wunderbaren Aussichten auf das Meer, wie du sie nie gesehen hast. Je nach Wetterlage verwandelte sich die See in ein brüllendes, reißendes Ungeheuer, dessen Wellenarme gierig den Strand überfluteten und die Steilküste umtosten oder aber es lag ein spiegelglattes im Sonnenlicht reflektierendes wie flüssiges Gold erscheinendes Tafeltuch vor der Küste. Beeindruckend das Meer bei Sturm. Ich hatte ganz vergessen, wie laut das Meer sein – ein unablässiges Donnern. Vom Kliff war erkennbar, wie die See an der Seebrücke lang peitschte und die Brücke überflutete. Wellen –unberechenbar, unkalkulierbar. Das fast filigrane Holzwerk gegen den wütenden Sturm. Ein Segelschiff tanzte fern am Horizont einen Höllentango auf den Wellen, die Segel zum Bersten geschwellt. Wagemut? Verpflichtungen? Wie mag es an Bord gewesen sein? Zumindest nass und windig. Zwei Schiffe lagen vor Binz mit Notbeleuchtung und zeigten die Küste an im Tosen der Schaumkronen. Möwen jagten tief über dem Wasser und oft hatte ich das Gefühl, sie wären von der See verschlungen worden. Ihr Kreischen gellte in den Ohren. Die Ruhe nach dem Sturm wirkte umso stiller. Man hatte das Gefühl taub zu sein. Der Strand war wie blankgeputzt. Viele Dinge wurden vom Sturm an Land gespült und im Sand freigelegt: Dinge aus alten und neuen Zeiten, ganze Muschelkolonien, Steine, Münzen aus heutiger und alter Epochen, aber auch Müll – Produkte unserer Zivilisation. Ich habe Bernstein gefunden und mir zu Schmuck fassen lassen. Ein besonderes Gefühl. Er sieht aus wie eine kleine Katze.
Ach Anne, du hättest doch dort sein sollen. Ich weiß, wie gut es dir gefallen hätte. Einen schöneren Ort für dein sonniges Gemüt kann ich mir nicht vorstellen. Ich glaube, das Meer und du, ihr hättet zusammengepasst. Bei schönem Wetter, wenn die Meeresoberfläche wie ein Spiegel das Sonnenlicht reflektierte und kein noch so kleiner Wellenschlag die Harmonie trübte, musste ich immer an dich denken. Weißt du, du fehlst mir. Warum musstest du auch dorthin gehen, wohin dir keiner folgen kann? Ich hätte dir meine Reisegeschichte gern erzählt statt dir zuschreiben mit dem Wissen, dass du sie nie lesen wirst. Oft habe ich den Frühnebel über dem Meer beobachtet und das Flattern der Nebelschwaden täuschte Bewegungen vor. Ich dachte , du würdest heraustreten und alles wäre nur ein schlechter Traum gewesen. Leider ist dem nicht so.
Deshalb werde ich weiter besondere Ort besuchen und dir meine Erlebnisse und Erinnerungen aufschreiben.

Vale deine dich auf ewig vermissende Schwester Sylva
 



 
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