Reise nach Mazar-i-Sharif

4,70 Stern(e) 7 Bewertungen

Arezoo

Mitglied
Mazar-i-Sharif.
Dort wird gekämpft, sagt der dicke amerikanische Major langsam und lehnt sich hinter seinem Schreibtisch gegen die Wand.
Ich weiß, gebe ich zurück, zwei unserer Ärzte sind dort.
Seit drei Wochen kein Lebenszeichen von Camil und Talal.
Ob sie zu meinem Team gehören würden, fragt er mich.
Resigniert schaue ich zu Boden. Mit der Antwort, die ich geben muss, habe ich verloren.
Nein, sie arbeiten am Krankenhaus in Kabul. Einer von ihnen ist mein Cousin.
Sie sind Afghanin?
Er zieht eine Augenbraue nach oben.
Nein, Deutsche.
Wie dem auch sei, fasst er zusammen, es sind keine Amerikaner, wir können ihnen nicht helfen. Afghanen schon gar nicht.
Mit einer Handbewegung will er mich aus seinem Büro fegen. Ich bleibe trotzig. Obwohl ich mir längst sicher bin, dass er nichts für mich tun wird.
Es sind Menschen, schreie ich und schlage mit der flachen Hand auf den Plastikschreibtisch, der unter meinen Fingern zu schwanken beginnt. Er hält mich für hysterisch, ich weiß.
Geduldig, nachsichtig, wie zu einem kleinen Kind sagt er:
Ja, Mam, sicher, aber keine amerikanischen Menschen.

Vor ungefähr 200 Kilometern und zwei Tagen haben wir aufgehört, miteinander zu sprechen. Henri und ich.
Die Sonne brennt seit den ersten Strahlen des frühen morgens unbarmherzig auf unsere Köpfe. Ohne Wolkenpause. Nur die plötzlich fallende Nacht bringt Erfrischung und Kühle.
Das Wasser in den Kanistern ist warm und ich habe keine Lust es zu trinken. Obwohl ich sollte.
Ab und zu tauche ich das Tuch, das ich als Schutz vor Strahlen und dem Sand um den Kopf geschlungen habe, in einen der Kanister und binde es dann wieder um.
Doch der Fahrtwind kühlt meine Gedanken nur für kurze Zeit. Dann wird das Tuch wieder warm. Henri hat mit mir geschimpft, als wir noch sprachen. Ich würde mir damit noch eine Meningitis holen.
Nein, ich werde nicht mehr krank. Nicht ich, wo ich doch andere Sorgen habe. Sorgen um Camil und Talal, die nur Medikamente nach Mazar-i-Sharif bringen und ein paar Tage dort operieren wollten. Die Kampfhandlungen haben sie eingeschlossen.
Sie leben noch, ich weiß es. Sie müssen noch leben.
Marc und Massoud im Jeep vor uns fahren langsamer. Halten schließlich an.
Marc ist Internist. Sehr groß und schlank. Sein Vater ist Franzose, seine Mutter Engländerin. Er ist einer von vielen im Team, die genau wie ich, kein richtiges zu Hause haben.
Seine Frau ist gerade in Indien im Einsatz. Sie ist Krankenschwester. Er macht sich Sorgen um sie. Das hat er erzählt vor ein paar Wochen.
Massoud ist unser Führer. Kaum älter als 17 oder 18 Jahre. Genau weiß er es nicht.
Er spricht fließend Farsi, Paschtu, Französisch und Englisch, aber ich bezweifle, dass er lesen und schreiben kann. Eine Schule hat er nie besucht. Eines Tages kam er ins Camp und fragte ob wir Dolmetscher suchen würden. Dr. Reinier, unser Projekt-Leiter, ließ ihn bleiben.
Massoud hat nie gesagt, woher er kommt, wo seine Familie ist.
Ich habe ihn einmal gefragt, zu Anfang, nachdem er für mich Französisch dolmetschte, weil meine Kenntnisse in dieser Sprache eher bescheiden sind. Er hat gelacht und gesagt, der Wind hätte ihn hierher geweht.
Ich wurde traurig. Es erinnerte mich an meine Kindheit. Meine Eltern und vor allem meine Mutter, wie sie mir aus Mary Poppins vorlas. Ich bin sicher, eines Tages ist er wieder verschwunden. Wenn der Wind sich dreht. Ich habe ihn nie wieder gefragt.

Massoud kennt sich aus. Kennt jeden Stein zwischen Kabul und Mazar-i-Sharif. Wenn er anhalten lässt, dann aus gutem Grund.
Ich steige aus. Der Boden ist heiß. Ich kann es durch die Schuhe spüren bei jedem Schritt.
Morgen sind wir da, sagt Massoud, aber für heute halten wir hier, schlagen unser Lager auf. Mit mir und Marc spricht er englisch, mit Henri französisch. Ich bewundere sehr, wie schnell er zwischen den Sprachen einfach umschalten kann. Wenn ich mit ihm alleine bin, fragte er mich auf Farsi nach meinem Leben in Deutschland.
Manchmal ertappe ich mich bei dem Gedanken, dass ich ihn gerne mitnehmen würde, wenn ich wieder nach Hause fahre.
In seinen Augen ist Leid genug. Ich würde ihm gerne anderes zeigen. Schönes.
Später im Zelt weicht Henri vor mir zurück. Legt sich ganz weit auf die andere Seite. Ich weiß, dass er auf mich böse ist, eifersüchtig auf Talal.
Aber ich habe ihm nie etwas versprochen. Keine Hoffnungen gemacht. Ich kann ihn nicht lieben, nur weil er mich liebt. Wir haben viel zusammen gesehen, aber das verbindet uns trotzdem nicht. Bevor ich in unruhigen Schlaf falle, denke ich an Talal und seine Augen, eingepfercht zwischen Mundschutz und Haube.
Der nächste Morgen bringt erneut Hitze und Trockenheit. Die Grillen summen in der kargen Landschaft, auf dem steinigen Boden, zwischen dürrem Gestrüpp.
Ich will nicht mehr mit Henri fahren, steige zu Massoud in den Wagen. Marc lächelt breit, als ich ihm seinen Platz streitig mache. Wir tauschen einen Blick. Er versteht mich, setzt sich neben Henri, der überall hinsieht, nur nicht zu mir.
Woran ich denken würde, fragt Massoud. Wir sind schon wieder ein Weilchen unterwegs. Die Berge aus der Ferne rücken näher
An eine Coke. Im Glas. Mit vielen Eiswürfeln, sage ich und trinke einen Schluck warmes Wasser. Es widert mich an. Ich hänge einen Teebeutel hinein. Will Geschmack haben.
Ich denke an das Zischen einer Cola-Dose, wenn man sie öffnet. Den hellbraunen Schaum in der ovalen kleinen Öffnung. Das Prickeln auf der Zunge.
Massoud hat als kleines Kind einmal Cola getrunken, erzählt er. Er könne sich nur nicht mehr an den Geschmack erinnern. Mein Persisch ist zu schlecht, um ihm zu erklären, wie es schmeckt. Ich bezweifele aber auch, dass ich es auf Deutsch könnte.
Massoud will wissen, ob ich Talal lieben würde und was mit Henri wäre. Ich muss darüber lachen. Es ist absurd. Ich habe eine lange und beschwerliche Reise auf mich genommen, um den Menschen hier zu helfen, zu heilen, Leid zu lindern und unterhalte mich mit einem afghanischen Jungen über Angelegenheiten, die ich zu Hause mit meiner Schwester besprechen würde.
Massoud sagt, ich wäre anders als die Afghaninnen hier. Das glaube ich auch, erwidere ich.
Am späten Nachmittag in den letzten schrägen Strahlen der Abendsonne erreichen wir Masar-i-Sharif. Eine gespenstische Ruhe liegt über der Stadtmauer.
Die Front hat sich verlagert, sagt Massoud. Wir verstecken die Landrover hinter ein paar aufgehäuften Steinen und bedecken sie mit Zweigen. Ich werfe mir eine Burka über und fühle mich zum ersten Mal sicher in diesem Kleidungsstück.
Marc und Henri tauschen Jeans und T-Shirts gegen traditionelle Pluderhosen, Hemden und Westen, schlingen sich Turbane um die Köpfe.
Die Männer schultern Verbandsmaterial und Wasser in einfache Hanfsäcke verpackt. Ich darf nichts tragen. Ich bin eine Frau.
Massoud führt uns über leere ausgestorbene Strassen zum Krankenhaus der Stadt, dem einzigen Ort, an dem ich hier Menschen sehe.
Der Anblick erschlägt uns. Männer, Frauen und Kinder liegen, stehen, sitzen auf den Treppen zum halbzerstörten Gebäude. Die Luft ist erfüllt mit Stimmen. Klagenden Stimmen. Es riecht nach Blut und Exkrementen, nach Schweiß und Tod. Ich atme tief durch den Mund. Würde mich am liebsten umdrehen und weglaufen, so schnell mich meine Beine tragen.
Unmöglich. Wir kämpfen uns durch die Massen, steigen über Körper, von denen einige leblos liegen, über denen Fliegen unter der Sonne kreisen.
Massoud streckt mir seine Hand hin. Hilft mir über die kaputten Stufen bis in die Eingangshalle.
Noch mehr Menschen. Mehr Gestank. Ich kann nichts gegen die Tränen in meinen Augen tun. Sie laufen mir unter dem Gitternetz der Burka die Wangen hinunter.
Ich will zu Camil und Talal. Will sie nehmen und wegzerren. Weg von diesem Ort, an dem niemand sein sollte.
Und weiß doch, wir werden alle bleiben, bis der letzte behandelt ist oder stirbt.
Eine afghanische Krankenschwester kommt mir entgegen. Sie hat nur ein Tuch locker über den Haaren zu liegen. Ich lasse sie gar nichts sagen. Frage sofort nach Camil und Talal.
Erfahre, dass beide im OP sind. Und außerdem die einzigen Ärzte hier.
Die Schwester stellt sich vor. Sie heißt Huriya. Das bedeutet Engel. Es passt ausgezeichnet zu ihrem feinen Gesicht, den großen braunen Augen und dem klaren Teint. Sie ist sehr zierlich. Ich mag sie auf Anhieb. Glaube, dass hinter dem zarten Körper eine sehr zähe Frau steckt.
Marc schickt Massoud und Henri zurück. Sie sollen die Autos holen und den weiteren Nachschub, der darin lagert.
Beide machen sich sofort auf den Weg. Marc selbst bleibt bei einem jungen Mann stehen. Zieht das Stethoskop aus der Tasche.
Huriya ist eine von nur sechs Krankenschwestern, die geblieben sind während der Kämpfe, nicht nach Pakistan flüchteten.
Sie führt mich in einen Raum, durch dessen Decke ich den Himmel sehen kann und der leer ist, bis auf einen Stuhl, der schräg in der Ecke liegt. Ihm fehlt ein Bein.
Ich lege meine Burka darauf ab und die paar Sachen, die ich in der Hand hatte. Das schwarze Tuch, das sie mir reicht, lege ich über meine Haare und folge ihr dann. Durch Flure von deren Wänden der Putz bröckelt. Es gibt kaum Türen, in den Fenstern fehlt das Glas.
Überall liegen Menschen auf dem Boden. Sitzen, gegen die Mauer gelehnt. Manche blutig, andere scheinbar schlafend. Einige sicher tot.
Vor dem OP Trakt bleibt sie stehen, weist mir den Weg.
Dankbar nicke ich ihr zu. Verspreche ihr, gleich nachzukommen und zu helfen. Sie dreht sich um und verschwindet in der provisorischen Ersten Hilfe.
Ich muss mich mit aller Kraft gegen die Tür stemmen. Sie klemmt. Ein weiterer Flur. Ohne Menschen. Kaputt sind die Fliesen an den Wänden.
Ich sehe durch das Glasfenster einer Tür. Camil und Talal stehen beide, die Köpfe gesenkt am OP-Tisch. Neben ihnen eine Schwester. Eine andere sitzt am Kopf des Patienten.
Eine Hand lege ich an das kühle Glas und es ist fast, als könnte ich Talas Wange berühren.
Es riecht nach Äther im Jahr 2002. Mir wird übel von dem Geruch.
Nach ein paar Minuten wende ich mich ab.
Sie haben mich nicht gesehen. Das ist egal.
Ich kann jetzt meine Arbeit tun.

Die nächsten Tage vergehen schnell. Ein nicht abreißen wollender Flüchtlingsstrom ergießt sich über die Stadt. Ganze Familien fliehen vor den Kämpfen nord-östlich von Mazar-i-Sharif. Arme Familien, die vom Opiumanbau leben. Sie alle suchen Zuflucht im Krankenhaus und seiner Umgebung.
Tag und Nacht dröhnt leise, wie Donnergrollen in der Ferne, das Artilleriefeuer. Abends ist der Himmel rot. Rot vom Blut all der Menschen, die hier noch sterben werden, denke ich.
Zunehmend kritischer wird die Versorgungslage. Die Taliban haben auf der Flucht vor den Truppen der Nordallianz alle Kornspeicher der Stadt nieder gebrannt.
Es gibt keine Nahrung, keine Medikamente, kein Verbandsmaterial.
Nachdem Massoud mit einigen Männern aus der Stadt den Brunnen hinter dem Krankenhaus wieder in Betrieb genommen hat, schicken wir ihn schweren Herzens mit einem der Landrover nach Kabul zurück.
Wir brauchen Nachschub und noch mehr Hände. Möglichst schnell.
Alle arbeiten fast ohne Pause. Schlafen höchstens ein, zwei Stunden am Stück. Am schlimmsten ist jedoch der Hunger. Hier gibt es keine Tagesrationen für das Team, wie in Kabul. Wir hungern, wie all die anderen Menschen auch.
Massoud hat mir einen Fladen Brot zugesteckt, bevor er abfuhr. Weiß der Himmel, wo er ihn her hat. Ich habe gezögert, ein paar Bissen hinuntergeschlungen und verstanden, dass es in der Not keinen Nächsten mehr gibt, außer einem selbst.
Den Rest habe ich geteilt. Mit Huriya. Sie ist so schmal. Ich habe mich schlecht gefühlt. Hätte alles teilen sollen.
Jetzt weiß ich, was ich für ein Mensch bin.
Zwei Tage nach Massouds Aufbruch muss Henri den OP schließen. Wir haben keine Schmerzmittel mehr, keine Medikamente für Narkosen. Das große Sterben beginnt.
Camil und Henri streiten, während der Rest von uns keine Kranken mehr pflegt, sondern Leichen verscharrt. Immer in den Abendstunden, wenn es kühler wird und der Wind sanft die Körper streichelt.
Camil ist der Meinung, man könne durchaus ohne Narkotika operieren. Zumindest Wunden anfrischen, kleinere Brüche richten. Henri, als Teamältester verbietet es ihm, findet Camils Idee unmenschlich. Talal und Marc halten sich raus. Sagen nichts dazu. Die Stimmung ist schlecht.
Henri tut so, als könne er Camils Französisch nicht verstehen. Camil spricht darauf hin gar nicht mehr mit ihm. Mir knurrt der Magen.
Ich habe seit über einer Woche nicht mehr geduscht, seit ungefähr zwei Tagen nichts mehr gegessen und schon fühle ich mich elend.
Am nächsten Morgen bekommt Marc Durchfall. Er erbricht sich zudem ständig. Behält nichts mehr bei sich. Wir richten ihm ein provisorisches Lager in einem der früheren Untersuchungsräume im ersten Stock ein. Ich bleibe bei ihm. Wische Erbrochenes auf und Stuhlgang. Es ist ihm peinlich. Er sieht mir nicht mehr in die Augen.
Ich versuche ihm Wasser einzuflößen, wann immer es geht. Er muss trinken. Ich sage es ihm wieder und wieder. Wir haben keine Infusionen um seinen Flüssigkeitsverlust auszugleichen. Sein Fieber steigt. Das macht mir Angst. Er wälzt sich unruhig hin und her.
Talal kommt gegen Mittag und sieht nach Marc, legt die Hand auf seine Stirn.
Was denkst du, frage ich ihn. Talal schüttelt den Kopf.
Marc ist der Internist, sagt er.
Wir überlegen gemeinsam. Vielleicht eine parasitäre Infektion.
Eigentlich ist es egal. Was macht den Unterschied, fragt Talal schließlich.
Ja, eben. Es tut nichts zur Sache. Wir können nicht therapieren.
Talal lässt sich auf einen der Holzstühle fallen.
Ich fühle mich so sinnlos, mir sind die Hände gebunden, sagt er leise.
Ich kann ihn verstehen. Es ist schwer genug Menschen beim Sterben zuzusehen, wenn man alles für sie getan hat und nun ihr Schicksal nicht mehr abwenden kann.
Hier in Mazar-i-Sharif wird aus anderen Gründen gestorben. Banale Gründe. So banal, wie der Tod selbst und das macht es unwürdig.
Geh ein bisschen an die Luft, fordert mich Talal auf.
Dankbar nutze ich die Chance diesem kleinen Zimmer zu entfliehen, in dem es nach Krankheit riecht. Ich fliehe vor dem stöhnenden Marc in den Hof, hinter das Krankenhaus. Zum Brunnen.
Einer der Männer, die sich um den Brunnen gekümmert haben, er heißt Adel, schöpft mir Wasser. Ich trinke. Das Wasser ist kalt, kommt tief aus der Erde, läuft meine Kehle hinab.
Ich habe unbändige Lust, es mir auch den Körper herunter laufen zu lassen, will Tropfen und Bäche auf meiner Haut spüren. Ich bin eine Verschwenderin. Frage Adel, ob er Eimer hat.
Er nickt, holt aus einem Holzverschlag fünf große Metalleimer.
Ich will mich waschen, erkläre ich ihm.
Er schöpft alle Eimer voll und hilft mir, sie hinter den Bretterverschlag zu tragen.
Schnell hole ich mir ein Stück Seife aus einem der Waschräume im Erdgeschoss. Kann es kaum erwarten. Brauche die Erfrischung so nötig.
Henri ruft meinen Namen, von weitem, kommt näher.
Geh weg, Henri, sage ich.
Er ignoriert mich, setzt sich auf einen der Steine neben den Brunnen. Streckt seine Hand nach mir aus. Will mich berühren. Ich weiche zurück. Es ist sehr lange her, dass er mich einmal berühren durfte, lange vor Kabul und auch vor Mazar-i-Sharif.
Ich will Leben spüren, sagt er. Er sagt, wenn er mich ansehen würde, wüsste er, dass es doch noch Leben in all der Verwesung geben würde.
Sieh Camil an oder Huriya, antworte ich, sie sind lebendig genug.
Im Geiste füge ich hinzu: Denk an deine Frau und deine Kinder. Zu Hause. In Dijon.
Ich entkleide mich hinter dem Bretterverschlag. Gieße mir den ersten Eimer über den Kopf. Es ist eiskalt. Ich muss mir auf die Lippe beißen, um nicht zu schreien.
Gründlich verteile ich Seife auf meinem Körper, in meinen Haaren. Ich fühle mich so unendlich schmutzig. Erst nach zwei weiteren Eimern bekomme ich den Geruch von Schweiß und Ausdünstungen aus der Nase.
Huriya hat mir ein Hemd und eine frische Hose gegeben. Sie hat sie in einem der Schränke im zweiten Stock gefunden. Eigentlich Männerkleidung. Mir egal. Hauptsache frisch.
Henri ist nicht mehr da. Adel lacht mich aus, als ich so vor ihn trete. Sein Lachen ist herzlich und ansteckend. Ich lache mit ihm und fühle mich befreit. Zum ersten mal in dieser Stadt.
Talal und Marc finde ich beide schlafend. Marcs Atemzüge gehen schwer, aber gleichmäßig. Talas Atem ist ein leiser Hauch. Ich beuge mich über ihn, kann nicht anders, muss ihn berühren. Fahre mit den Fingern über seine Wange. Er erwacht ohne die Augen zu öffnen, greift nach meiner Hand und führt sie zu seinen Lippen. Die Intimität dieser Geste trifft mich, lässt mich schwanken. Ein Schwanken des Herzens.
Du riechst gut, murmelt er und vergräbt den Kopf in meinen Haaren. Ich fühle seinen Mund auf meinem Nacken.
Schließe die Augen für einen Moment, denke an nichts, bevor ich sanft seinen Kopf nach hinten biege. Er besinnt sich, genau wie ich es getan habe und steht auf. Verlässt den Raum rasch und wortlos.
Wenig später, während ich an Marcs Bett sitze und fühle, wie sein Fieber steigt, bemerke ich Schmerzen in der Magengegend. Ein Krampfen. Zuerst glaube ich es sei der Hunger. Bis ich plötzlich aufspringen muss, es gerade noch rechtzeitig zur Schüssel schaffe und mich mehrere male hintereinander übergebe. Ich kann mich nicht mehr bewegen. Würge immer wieder, bleibe schließlich neben der Schüssel liegen. Kann nicht mehr rufen. Möchte nur noch vor den geschlossenen Augen das Schwarze sehen.
Camil ist es wohl, der mich ein paar Stunden später findet, mich aufhebt, trägt, auf eine Matratze neben Marc bettet.
In mein Bewusstsein dringen nur Bruchstücke, während Schmerz und Fieber in meinem Körper wühlen.
Manchmal spüre ich Hände, manchmal gleiten Gesichter vorbei und ich weiß nicht, ob ich sie nur träume. Meine Mutter sehe ich und Talal.
Talal. Ich denke noch, dass es furchtbar ist, seine Berührung nicht von denen der anderen unterscheiden zu können.
Es wird Nacht um mich. Für wie lange vermag ich nicht zu sagen.
Als ich das nächste Mal die Augen öffne, sehe ich Schwester Bernadettes Gesicht. Sie ist meine Zimmergenossin in Kabul, arbeitet im internistischen Bereich.
Gerade beugt sie sich über meinen Arm, schließt eine Infusion an.
Prüfend mustert sie dann mein Gesicht, will sofort wissen, wie ich mich fühle.
Besser, sage ich und kann einmal mehr nichts gegen die Tränen tun, die meine Wangen hinunterlaufen.
Bernadette ist besorgt. Erzählt mir hastig, wie Marc und ich von amerikanischen Soldaten ausgeflogen wurden und zurück nach Kabul gelangt sind, erzählt mir, dass Henri, Camil und Talal geblieben sind, erst nächste Woche abgelöst werden. Ein weiteres Team und Konvois mit Hilfsgütern sind inzwischen in Mazar-i-Sharif eingetroffen.
Massoud wartet vor der Tür, sagt sie, er hätte ein Geschenk für mich.
Ich kann nicht aufhören zu weinen.
Warum ich denn weinen würde, fragt Bernadette. Sie sieht ratlos aus. Greift etwas hilflos nach meiner Hand.
Ich bleibe stumm. Weine ich doch, weil das erste woran ich denken musste, als ich die Augen eben aufschlug, all die vielen Leichen sind, die wir in der Kühle des Abendwindes vor den Toren von Mazar-i-Sharif vergraben haben.

Früher einmal habe ich viele Geschichten erzählen können. Fröhliche.
Ich muss an meine Neffen zu Hause denken, wie sie im Schneidersitz um meinen Sessel verteilt saßen, andächtig lauschend. Mit offenen Mündern.
Tick, Trick und Track habe ich sie genannt und dafür haben sie mich solange gekitzelt, bis ich neue Geschichten erfand.
Heute ist mein Kopf leer. Die meiste Zeit starre ich aus dem Fenster, auf die Strasse. Will keine Bilder mehr sehen, wenn ich die Augen schließe. Warte auf den Tag, an dem sie alle zurückkehren aus Mazar-i-Sharif.
Der Durchfall ist vorbei. Ich fühle mich schwach. Mag nicht essen.
Gestern noch hat Bernadette Massoud zu mir gelassen. Wir haben nicht viel gesprochen, was nicht heißen soll, dass ich mich über seinen Besuch nicht gefreut hätte.
Er hat mir eine Dose Cola mitgebracht. Sie steht auf meinem Nachtschrank. Ich bin sehr gerührt. Wollte sie nicht annehmen. Wollte, dass er sie trinkt. Doch er hat den Kopf geschüttelt und gesagt:
Trink du. Du weißt wie es schmeckt und vermisst es. Ich hingegen habe keine Erinnerung, es nicht bewusst erlebt und deshalb keine Sehnsucht in meinem Herzen.
Massoud ist klug für sein Alter. Klüger als ich.
Dr. Reinier, der Leiter unseres Teams, schaut am Nachmittag bei mir vorbei. Ein dicker, gemütlicher Belgier, den alle nur ‚Hercule’ nennen, wenn er nicht in der Nähe ist.
Selbst nach mehreren Wochen mit ihm, weiß ich noch immer nicht, was ich von ihm zu halten habe. Er kann sehr aufbrausend sein und unbeherrscht. Auf der anderen Seite mag ich seine Lachfältchen und die dröhnende Stimme.
Er lässt sich auf einen kleinen Holzhocker neben meinem Bett fallen. Der Hocker knackt unter seinem Gewicht.
Bernadette sagt, sie sind sehr schweigsam, seit dem sie zurück sind.
Er lässt mir eine Pause, die ich nicht fülle. Ich starre weiter aus dem Fenster, hocke mit angezogenen Beinen auf dem Bett.
Dann fährt er fort: Möchten sie nach Hause, Arezoo?
Möchte ich das? Kann ich erwarten, dass sich dort nichts verändert hat? Steht meine Mutter noch immer in der Tür und winkt mir, wie sie es zum Abschied getan hat?
Ich nehme mich doch mit. Ich nehme mit, was ich gesehen und erlebt habe. Egal wohin ich gehe.
Ich möchte Talal sehen, seine Stimme hören und sein Lachen.
Nein, ich will nicht nach Hause, höre ich mich sagen, ich will nur gesund werden.
Dr. Reinier lächelt mich an. Sieht ein wenig erleichtert aus.
Nehmen sie sich Zeit, erholen sie sich, Arezoo, sagt er und steht auf.
Gute Besserung.
Dann fällt die Tür ins Schloss.
Ich hätte ihm gerne erzählt. Vom Sterben in Mazar-i-Sharif. Von dem Massengrab, auf das wir gestoßen sind, als wir unsere Leichen vergraben wollten. Von den über 400 toten, halbverweseten Körpern, die wir sahen.
Ich habe es ihm nicht berichtet und er hat mich auch nicht gefragt.
 

vicell

Mitglied
Liebe Arezoo,

eine Erzählung, die es in sich hat. Schön, dass du sie hier noch mal gepostet hast!
Dein karger und dennoch ausdrucksvoller Stil gibt genau die Atmosphäre wieder, es ist wie ein langer und beunruhigender Atem, der mich mitnahm auf eine weite Reise, unvertraute und ferne Bilder vermittelnd, Assoziationen und Emotionen, die unter die Haut gehen.

Sehr gelungen.

Lieber Gruß,
vic
 

Arezoo

Mitglied
Liebe Vicell,

wieder schlaflos in Berlin? ;)
Es freut mich sehr, dass es dir gefällt. Ist eines meiner 'Babys'. Ein Text, an dem ich persönlich sehr hänge.

Danke für's erneute Lesen!

Liebe Grüße in den Schnee und die Schweinekälte,
Arezoo
:)
 
D

dubidu

Gast
Liebe Arezoo,

ich bin mit all meinen Sinnen nach Mazar-i-Sharif gereist; deine Erzählung ist so eindrucksvoll, dass ich glaube, nicht nur in meiner Fantasie dort gewesen zu sein.
Sehr schön!
Gez. das dubidu
 

Arezoo

Mitglied
Liebes Dubidu,

schön, dass ich dich mitnehmen konnte auf meine Reise. Dir ein Stückchen Land zeigen und dir einen Einblick in neuere Geschichte Afghanistans geben durfte.
Vielen Dank für's Lesen und es freut mich, dass es dir gefallen hat!

Liebe Grüße,
Arezoo
 



 
Oben Unten