Reisen sie etwa allein?

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Inge Anna

Mitglied
Reisen sie etwa allein?

Es liegt über 40 Jahre zurück; doch es könnte auch gestern gewesen sein, denn ich erinnere mich jeder Einzelheit genau.

Ich hatte damals - während eines Winterurlaubs im Schwarzwald - die Bekanntschaft eines jungen Ehepaares gemacht. Uns verbanden viele gemeinsame Interessen, und so war es uns wichtig, den Kontakt auch weiterhin aufrecht zu halten.
Ein Abschied verschmerzt sich leichter mit der Aussicht auf baldiges Wiedersehen.

Die neu gewonnenen Freunde wohnten in Würzburg, und ich wurde überraschend schnell dorthin eingeladen. Nach Rückversicherung meiner Zusage benachrichtigte ich die Bahnhofsmission wegen erforderlicher Umsteigehilfe.

So kam der Reisetag und ich saß in erwartungsfroher Stimmung in einem zunächst noch leeren Zugabteil. Ich überlegte gerade, womit ich mir für etwa 2 Stunden die Zeit vertreiben könnte, als ich Gesellschaft bekam. Die Zugestiegenen kannten sich offenbar. Es wurde sogleich Proviant ausgepackt, Bierbüchsen im Gefolge. Mir wurde unbehaglich. Da fiel mir das Rätselheft ein. Meine Freundin hatte es mir noch am Bahnhof zugesteckt. Ich zog's aus einem Beitäschen, legte es mir zurecht und gebot mir eiserne Konzentration. Mit einem Mal wurde es still, beunruhigend still. Nun, ich nahm mir das erste Silbenrätsel vor, konzentrierte mich, bis mein Gegenüber zu meckern begann: "Das Fingerscharren dieser Blinden Person nervt mich. Es gibt doch ein Schwerbehindertenabteil." Meine Nebendame wandte sich dann direkt an mich mit der Frage: "Wo ist denn ihre Begleitperson - oder reisen sie etwa allein?" Ich zögerte mit einer Antwort; da ging es weiter: "Die ist nicht nur blind, scheint auch taub zu sein. Man sollte sie umverfrachten." Dieses Wort wird mir unvergesslich bleiben.
Jemand nahm mir das Rätselheft weg. Ich wollte nur noch raus, raus aus diesem Abteil.
Ich bat den Schaffner, der wenig später hereinschaute, mich "umzuverfrachten". Allgemeines Gelächter gab mir Geleit.

Im Schwerbehindertenabteil genoss ich bis Frankfurt die Anwesenheit einer überaus gesprächigen Mitreisenden. Man könne die Leute von der Bahnhofsmission entlasten; sie wolle gern übernehmen und mich zum Zug nach Würzburg bringen. Sie habe Zeit.
Wir tranken vor der Weiterfahrt nach Würzburg noch ein Tässchen Kaffee. Ich hatte in Frankfurt ja noch gut eine Stunde Aufenthalt. Alles lief bestens.
Im Zug nach Würzburg vermisste ich dann meine Reisetasche.
Die hilfreiche Dame hatte fette Beute gemacht. In der Handtasche verwahrte ich nur ein wenig Kleingeld.

"Reisen sie etwa allein", "Umverfrachtung" und geklaute Barschaft:
Meine Albtraumstation - über Jahre.
 



 
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