Restzeit

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gareth

Mitglied
Sie sagen, dass der Mensch sich danach sehnt,
dass man ihn anfasst, küsst, sich an ihn schmiegt,
auf das, was er zu sagen habe hört
und ihm zu Zeiten durch die Haare streicht.

Da bin ich froh, dass mir dergleichen fremd,
und mir von daher keine Pflicht erwächst.
Auch wüsst ich nicht mehr, wie das auf mich wirkte,
die Kuppen fremder Finger auf der Haut.

Was sagt man da? Wie sieht man jene an?
Bedankt man sich? Die Fragen sind zu stellen
doch nur von denen, die es auch betrifft.
So ess ich denn, seh fern noch vor dem Schlafen
und geh dem nach, wofür man mich bezahlt.
 

petrasmiles

Mitglied
Wow! Das scheint Dein Thema zu sein, ein Schlaglicht zu werfen auf diejenigen, die anders sind als der gemeine Homo Sapiens.
Ich habe die Erfahrung machen müssen, dass die Bedürfnisse nach Haut-Kontakt tatsächlich unterschiedlich ausgeprägt sind - wo auch immer das herkommt, ob angeboren oder erlernt - aber als Tatsache muss man das akzeptieren. Auch dieses 'fremde' Verhalten muss man respektieren können, ohne gleich an Psychopathen zu denken.

Einzig mit den letzten beiden Zeilen bin ich nicht recht glücklich: Das noch ('seh fern noch vor dem Schlafen') ist allein dem Versmaß geschuldet, bringt aber den Inhalt aus dem Tritt, denn es ist ja vollkommen unerheblich, wann er nun fern sieht im Verhältnis zum Abendbrot.
Und der letzte Vers ist zu schal und bringt ein Spannungspaar hinein, das für meine Begriffe nicht passt: 'und geh dem nach, wofür man mich bezahlt'.
Ich glaube nicht, dass der im schlimmsten Falle 'Soziopath' ein knallharter Materialist sein muss. Er kann mit dem Du nichts anfangen, ja, vielleicht hat er Null Antennen dafür, wann er als Mensch eine helfende Hand reichen müsste, aber dass er das bewusst macht wie ein Materialist und 'Menschenfeind', das ist im Text nicht so angelegt.

Etwas in der Art scheint mir stimmiger:
'So ess ich denn, lass bunte Bilder mir servieren,
und schau verwundert auf das aufgeregte Treiben.'

Der Mensch neigt ja dazu, seine Absonderlichkeiten für vollkommen normal zu halten - die anderen spinnen dann für ihn :)

Ich hoffe, Du fandest das jetzt nicht anmaßend, dass ich mir Deinen Text so vornehme, aber vielleicht kannst Du ja mit meiner Sicht etwas anfangen.

Liebe Grüße
Petra
 
H

Heidrun D.

Gast
Mir gefällt es genauso wie es ist!

In meinen Augen geht es um die verbleibende Restzeit (bis zum Tode). - Gareth schildert mit großer Eindringlichkeit das Leben eines "Normalverbrauchers", keineswegs die Existenz eines Sozio- oder gar Psychopathen.

Das Grauen, das dieses Gedicht in mir auslöst, liegt gerade darin!

Schöne Grüße
Heidrun D.
 

petrasmiles

Mitglied
Verstehe! Den Titel hatte ich 'ignoriert' und bin meinen Assoziationen gefolgt. Du hast Recht, Heidrun.
Allerdings, das 'noch' bleibt störend ;-)

Liebe Grüße
Petra
 

Leise Wege

Mitglied
Hm, ich lese es anders. Denke Lyri zeigt sich notgedrungen die Vorteile ohne Kontakte, ganz einfach weil "leider" (und das kann man aus der Art sehr gut herauslesen) keine vorhanden sind. Das Aufgeben einer Erwartungshaltung ist spürbar, aber auch - mit dem Titel - immer noch die Hoffnung, dennoch zeigen die letzten Zeilen, man hält sich halt an dem, was bleibt. Lyri investiert nicht - und somit... ist der Wert Restzeit gleich Null.
Lieben Gruß
Moni
 

gareth

Mitglied
Man muss nicht alles wörtlich nehmen, was die Leute sagen

in ihrer Verzweiflung, petrasmiles.

Der Text ist tatsächlich in dem Sinne geschrieben, in dem Heidrun D. ihn gelesen hat. Ich bin froh, dass sie ihn so auffassen konnte.

Ich glaube, ein wirklicher "Soziopath" würde nicht all die wichtigen, schönen Sachen aufzählen und sich detailliert mit der Vorstellung von Fingerkuppen auf der Haut auseinandersetzen. Dieser Gegensatz von Ablehnung und genauer Kenntnis war als Schlüssel zum Verständnis gedacht.

Es ist in der Tat der Versuch, die Bewältigung einer eigentlich überwältigenden Vereinsamung mit einfachsten Mitteln nachvollziehbar zu machen.

Es ist ja immer so eine Sache, was die Erklärung eigener Texte angeht. Am liebsten würde man ja ganz darauf verzichten (und von anderen erfahren, was man eigentlich sagen wollte :eek:)), und manchmal äre es vielleicht auch besser so, aber ich denke, so ist die Leselupe nicht gedacht.

Dank denen, die sich bisher mit dem Text auseinander gesetzt haben, also Dank an: Ellen, MarenS, petrasmiles, Heidrun D. und Leise Wege.

Grüße
gareth
 



 
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