Revolution und kleine Brüste

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Libell

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Beim Surfen im Internet stieß sie auf eine private Homepage und entdeckte plötzlich ein Foto: Braune Augen mit leicht hängenden Lidern, der sensible schmallippige Mund, die gebogene Nase, eine entfernte Ähnlichkeit mit John Lennon, das war ihr Ex-Freund "Che" Klaus. Klaus, Soziologie-Student in Hamburg, Klaus, engagierter Revolutionär der 68er Studentenbewegung, Klaus der in Demonstrationen "enteignet Springer", "Che-Che-Che-Che-Guevara" und "Ho-Ho-Ho Tschi Min" brüllte, Klaus, der seitenlang Marx und Adorno zitierte, Klaus, der zur "Zertrümmerung des kapitalistischen Staatsapparates" aufrief, Klaus, der seine Magisterarbeit über Sexualforschung schrieb, Klaus, der nie Vater werden wollte, nie Verantwortung für eine Familie übernehmen wollte..

Sie war noch Jungfrau, als sie ihn auf einem Stadtteilfest kennenlernte, 17 Jahre alt, hübsch, naturblond, schlank, ein schüchternes verträumtes Mädchen. Er war Anfang 20, begann gerade sein Soziologie-Studium in Hamburg. Vier Jahre waren sie zusammen. Sie schaute zu ihm auf und bewunderte ihn. Er erschien ihr einzigartig intelligent, geistreich und belesen. Wenn er ihr von seinem Studium erzählte, hing sie an seinen Lippen. Dabei studierte er zu der Zeit nur noch auf dem Papier, in Wirklichkeit widmete er sein Studentenleben dem gesellschaftlichen Kampf gegen das Establishment. Er bastelte Plakate organisierte Protestmärsche, Hausbesetzungen und Demonstrationen. Er tat ihr gegenüber so, als wäre er ein APO-Führer, ein Held der außerparlamentarischen Revolution. "Che" Klaus trug die Haare wie sein Vorbild Guevara schulterlang, ließ sich ein Bärtchen stehen, rauchte Haschisch und redete von freier Liebe. Aber die freie Liebe galt eher für die männlichen Studenten, für Studentinnen und überhaupt für Frauen sah er das mit Einschränkungen. Er nahm es als Selbstverständlichkeit hin, dass sie ihm treu war.

Freie Liebe, sexuelle Revolution. Das beeindruckte sie damals sehr. Sie kam aus einem Elternhaus, wo niemals über Sex gesprochen wurde. Sex, das war etwas Verbotenes, Geheimnisvolles. Als sie sich von ihrem Hausarzt die Pille verschreiben ließ, kam sie sich sehr verwegen und mutig vor. Aber schwanger werden wollte sie nicht, denn Klaus hatte verkündet, er lehne die bourgeoise Reproduktionsgesellschaft ab, wirklich frei sei man nur ohne Kinder. Aber Sex, Sex war wichtig, Sex war der körperliche Ausdruck einer revolutionären Gesinnung. Noch bis zum Ende der sechziger Jahre wurde jeder sexuelle Kontakt zwischen Unverheirateten als "Unzucht" eingestuft, wer als Familienangehöriger oder Vermieter unverheirateten Paaren die Gelegenheit zum "Beischlaf" ermöglichte, konnte wegen "Kuppelei" angezeigt werden. Jeder konnte Anzeige erstatten.

Klaus betrieb die körperliche Liebe mit viel Hasch und heiligem Eifer "wider die bourgeoise Spießergesellschaft". Stellungen wurden erkundet, Sex war anstrengender Sport und wurde mit Vehemenz betrieben. Ob sie dabei zum Orgasmus kam, war dem Revolutionär ziemlich egal. Sogar ihre Erregung interessierte ihn kaum. Sie war als Frau für die Erfüllung seiner Bedürfnisse zuständig und musste ihm dankbar sein, dass er sich ihr überhaupt widmete, neben den Demonstrationen, Sit-ins, Go-ins, den Protestmärschen, den Hausbesetzungen und der ermüdenden Mitarbeit im ASta, dem Studentenparlament. Einmal, als er schweißgebadet nach einem wie immer anstrengenden Liebesakt über ihr zusammensackte vertraute er ihr an, er hätte für sein Leben gern mal Che Guevara beim Sex zugesehen. Ob sie sich nicht vorstellen könne, mit Che statt mit ihm Sex zu haben, sie dürfe ihn auch während des Beischlafs mit "Che" anreden. Sie fand das nicht so witzig, erfüllte ihm aber seinen Wunsch ab und zu.

Nach vier Jahren an einem Tag im Frühjahr war dann ganz plötzlich alles vorbei. Er eröffnete ihr aus heiterem Himmel, es sei Schluß. Schluß??? Aber wieso? Er liebte sie doch – oder nicht? Wenigstens hatte er das ihr gegenüber in intimen Stunden immer behauptet. Er stand vor ihr und sah sie kalt an. Nein, er hätte sie nie geliebt. Sie wäre genauso bourgeois wie alle anderen Leute. Und außerdem hätte sie einen körperlichen Makel. Ihr Busen wäre zu klein. Das wäre ihm jetzt bewusst geworden, nachdem er mit einer anderen Frau geschlafen hatte. Diese Frau hätte schöne große hängende Brüste und das wäre es, was ihn anmache. Große Hängebrüste?! Sie wollte es nicht glauben. Vier Jahre lang hatte er mit ihr geschlafen und sich nicht die Bohne daran gestört, dass ihre Brüste nicht übermäßig groß waren. Sie war halt eine schlanke, fast zierliche Frau und ihre Brüste entsprachen ihren übrigen Körpermaßen. Sie war erschüttert und tief in ihrem Bewusstsein als Frau gekränkt. "Che hätte das auch nicht gefallen, so ein winziger Busen!" Das war der Gipfel. Che hätte es nicht gefallen. Er war nicht Che, er war Klaus, der Bafög-Student, der vom Geld der Gesellschaft lebte, gegen die er vehement kämpfte. Sie ließ ihn gehen. Er ging für immer und er zog um, in ein anderes Bundesland. Er verschwand völlig aus ihrem Leben. Nur noch manchmal dachte sie an ihn. Ihre Brüste entwickelten sich im Laufe der Jahre dank der Pille und etwas Gewichtszunahme zu einem sehr ansehnlichen Körperteil, auch Che hätte es mit Freude betrachtet.

Sie starrte immer noch auf den Computer-Bildschirm. Der Familienvater auf der selbstgebastelten t-online Homepage, der da seine Haustiere samt dem vor Jahren entflogenen Wellensittich ins World Wide Web gestellt hatte, der Mann von Mitte 50 mit Anzug und Krawatte das war ihr Ex „Che“ Klaus. Ganz bürgerlich war er verheiratet, hatte zwei Kinder, ein Auto. Sogar die Automarke hatte er stolz ins Internet gestellt. Er wohnte in einem Eigenheim in einer schleswig-holsteinischen Kleinstadt und flog im Urlaub nach Mallorca. Sie konnte es nicht fassen. Sie, die inzwischen ihren eigenen Weg gegangen war, die selbst studiert hatte, ihr eigenes sexuelles Glück gefunden hatte, ohne Drogen und Che Guevara.

Sie warf einen letzten Blick auf das Photo ihres Ex im World Wide Web, seufzte und schaltete den PC aus. Jetzt wusste sie endlich nach dreißig Jahren, was aus "Che" Klaus geworden war. Ein ganz normaler spießiger kleiner Bourgeois.
 
W

willow

Gast
Hallo,

eine wundervolle Geschichte, so wie sie das Leben schreibt... die Schreihälse von gestern, die coolen Sonnenbrillenträger sind die angepassten Spießbürger von heute... manches ändert sich wohl nie im Leben.

Manchmal wird mir deine Geschichte zu deutlich, die Andeutungen, die du über Che Klaus (supergenial übrigens)machst, reichen aus. Du zeichnest den Bafög-Studenten wirklich klasse, manches würde ich daher nicht mehr zusätzlich erklären.

Hat mir wirklich gut gefallen, ich bin gespannt auf Weiteres.

Lieber Gruß,

willow
 

itsme

Mitglied
.....

Ja, so sind sie geworden die 68er. Einen Popanz haben sie aufgebaut damals, eine Theaterkulisse. Was schert sie ihr Geschwätz von damals.

Du hast eine treffende Momentaufnahme geliefert mit deinem Text. Du hast mir ein Bild gemalt, das ich verstehe.


Lieber Gruß - itsme
 

Blue Sky

Mitglied
Richtig fett zu lesen, wie so eine fleischgewordene tönende Großmaulpfeife bloßgestellt und verbal die Hackfresse vollkriegt. Leider erst, nachdem er seine Dummheiten zu Ende gelebt hat und davon wohl kein Stück mehr wissen will.:rolleyes:
...lovely!
LG
BS
 

ThomasQu

Mitglied
Schöner Text, Libell!

Aber hast du dir schon mal überlegt, den ersten Absatz ersatzlos zu streichen?
Der ist nämlich nur eine einzige Klaus-Erklärung und all das (jedenfalls das Wesentliche) erfahre ich als Leser in den folgenden Absätzen noch einmal und viel schöner.
Mir geht es bei meinen eigenen Sachen selber oft so, dass ich – kurz vor fertig – mir genau das überlege und dann fliegt bei mir mein erklärender erster Absatz immer raus.
Denk mal darüber nach, deine Geschichte ist ohne den viel griffiger.

Grüße Th.
 

Tonmaler

Mitglied
Schöner Text, Libell!
Aber hast du dir schon mal überlegt, den ersten Absatz ersatzlos zu streichen?
Der ist nämlich nur eine einzige Klaus-Erklärung und all das (jedenfalls das Wesentliche) erfahre ich als Leser in den folgenden Absätzen noch einmal und viel schöner.
Mir geht es bei meinen eigenen Sachen selber oft so, dass ich – kurz vor fertig – mir genau das überlege und dann fliegt bei mir mein erklärender erster Absatz immer raus.
Denk mal darüber nach, deine Geschichte ist ohne den viel griffiger.
Grüße Th.
Dem stimme ich in allem zu.
Sie war noch Jungfrau, als sie ihn auf einem Stadtteilfest kennenlernte, 17 Jahre alt, hübsch, naturblond, schlank, ein schüchternes verträumtes Mädchen.
So geht das viel flotter los!
Und ich lege noch drauf, vom letzten Absatz können auch die beiden letzten Sätze weg:
Sie warf einen letzten Blick auf das Photo ihres Ex im World Wide Web, seufzte und schaltete den PC aus. Jetzt wusste sie endlich nach dreißig Jahren, was aus "Che" Klaus geworden war. Ein ganz normaler spießiger kleiner Bourgeois.
Das entsteht im Leser von selbst.
War amüsant zu lesen!

Gruß
T.
 



 
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