Rhododendrongrüne Olivengedanken

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Von Süden her zieht ein leiser Wind. Kaum hörbar durchfährt er die Räume. Er umgibt die Menschen und kühlt sie. Die Zimmer sind abgedunkelt. Eine Stimmung von Unwirklichkeit und früher Dämmerung. Diffuses Licht wirft Schatten. Umrisse werden undeutlich. Ventilatoren wälzen verbrauchte Luft. Ich sitze und denke mir toskanische Verhältnisse; Zypressen und Zikaden; Zirpende Zikaden. Lila Lavendelfelder der Vaucluse. Blauer Himmel trägt weiße Wolken. Sie künden von der frohen Botschaft, dass es sie gibt, die provenzalischen Gerüche und die toskanischen Nächte. Unruhige Stille, flache Berge - Leben eben.
Stammt das Leben aus Afrika? Entspringt das Leben nicht eher einer mediterranen Mitte? Ich wiege mich in meinen Gedanken. Sie schweifen ab. Ich bin ein Seher. Ich sehe die Berge Norditaliens, Südtirols. Zwei geografisch betrachtet grundverschiedene Bezeichnungen und doch die gleiche Gegend. Der Norden Italiens und der Süden Tirols. Menschen, die vom Fernweh getragen sind, sprechen der Weite wegen von Italien. Italien ist groß. Man kann lange Wege zurücklegen, ohne auch nur ein einziges Mal seine Grenzen zu übertreten. Und doch war man nur im Norden. Hat man seine Zeit in Tirol verbracht, dann war man wenigstens in Südtirol. Ein so großer Begriff wie Tirol verdient einfach die Teilung in Nord und Süd. Möchte ich den unendlich hohen Bergen Tirols also auch noch das Attribut der unendlichen Weite hinzufügen, dann spreche ich von Italien.
Dagegen scheint die Vaucluse gänzlich zu verheimlichen, dass ich mich in der Provence aufhalte. Der gebildete Mitteleuropäer wird mit stoischer Selbstverständlichkeit den Lavendel mit dem Süden Frankreich assoziieren. Dabei wirbt der Süden mit größerer Schönheit als es uns die alten Lehrmeister zelebrieren. Wir sind ausgestattet mit weit mehr als einem Sinn. Es ist das Hören, das Riechen, das Schmecken. Ja, das Schmecken ist es, was uns erkennen lässt, wo wir sind. Wir schmecken mit den Augen, denn das Auge isst mit. Wir sehen eine Landschaft, Menschen, Tiere. Wir erholen uns durch das Sehen und behaupten, das sei nach unserem Geschmack. Wir lesen in den Augen der Ansässigen. Der Geschmackssinn ist so allgegenwärtig. Wir versüßen uns den Alltag durch so manche Neckigkeit und suchen das Salz in der Suppe. Genuss des Erlebten. Ich habe die Wiege der Menschheit gesehen. Ich war dort. Ich war im Paradies, in unserem Paradies. Das biblische Paradies hatte einen Apfelbaum und eine Schlange. Ein überschaubares Risiko.
Ich fahre nach Tirol, um dem Oberbegriff Alpen eine noch größere Dimension zu geben und reise nach Italien, um einen Quantensprung an Entfernung zu erreichen. Kein Mensch käme auf die Idee, den Norden Mitteleuropas zu bereisen, um letztendlich in der Ostsee baden gehen zu können. Ich kenne Menschen, die haben Afrika bereist. Die haben den langen beschwerlichen Flug auf sich genommen, damit Animationsentertainer sie dazu veranlassen, in einem Pool mit einer Schwimmweste nach Schlüsseln zu tauchen. Auf einer tunesischen Insel glaubten sie den afrikanischen Urlaubstraum verwirklicht zu haben und waren doch so weit entfernt vom schwarzen Kontinent. Das ist nicht meins.
Ich sehe Pyramiden und die endlose Sandwüste der Gobi. Ich sehe die Kalahari und den Stamm der Sioux. Eine untergehende Sonne und endlose Steppe. Verhüllte Männer mit Gewehren auf Kamelen und nackte Frauen. Ich sehen den König der Tiere und höre in der Dunkelheit seinen Paarungsschrei; animalisch und ursprünglich. Ich sehe Afrika. Ich hab's gesehen.
Ich erhebe mich vom Sofa und entzünde eine Kerze. Sie spendet ein warmes Licht. Der Nachtwind lässt ihre Flamme tanzen. Wie eine Primaballerina schwingt sie hin und her. Sie tanzt auf und ab. Ein sterbender Schwan, der wieder aufersteht und erneut verstirbt. Der Kreislauf des Lebens. Durch mein Wasserglas betrachte ich die Ballerina und entdecke eine Gespielin. Zwei züngelnde Tänzerinnen, ein Auf und Ab, ein Aufbäumen und Zusammenfallen. Sie entfernen sich voneinander und finden doch wieder zu sich. Eine Harmonie.
Ich denke an den Süden, der uns nachts Wind entgegenbringt. Er bläst uns den Gedanken ein, der unser Fernweh weckt. Der Süden, das sind doch auch rote Trauben, blaues Meer. Postkartenmotive. Motive? Ich fühle mich motiviert. Warum zieht es uns grade dahin, wo wir nicht sind. Wir sind nicht im Süden, also sehnen wir uns danach. Wir schwitzen in der sommerlichen Schwüle, also freuen wir uns auf den Herbst, der es uns gestattet, eine temperaturregulierende Anzugsordnung selbst zu gestalten. Ist es uns kalt, ziehen wir uns wärmer an. Im Sommer können wir uns dagegen nicht weiter ausziehen, bis wir dann völlig nackt sind. Und hat uns die lange Heizperiode eingeholt, glauben wir unsere Ursprünge im warmen Süden. Dieser sehnsuchtsvolle Süden. Auf diese Art kann eine Himmelsrichtung solche positiven Gedanken bei uns auslösen.
Ich stelle mein Glas ab. Die Flamme züngelt, der Südwind haucht, der Ventilator wälzt. Es ist dunkel und dennoch sehe ich das Grün der Bäume. Einen ganzen Winter haben sich die Blätter in den kahlen Ästen zurückhalten müssen, bis sie dann rücksichtslos ihre verhüllende Borkenschale durchbrechen konnten und dem Himmel entgegenstrebend mit Wachstum um sich blühten. Ich rieche Grün. Es ist dunkel. Der Wind hat uns die Dunkelheit von Süden gebracht und verhüllt unsere Weitsicht. Wir sollen nicht das Nahe sehen, sondern das Ferne denken. Auch schmecken. Ich schmecke Oliven, grüne Oliven. Ein Wort, wie Kalamata strahlt freundlich, schon wegen seiner vielen A's. Es löst bei mir ein Wohlgefühl aus. Ein Öl mit seiner Bezeichnung muss einfach gesund sein und Gesundheit fördern. Viele A's in einem Wort sind einfach gesund. Ich denke A, ich schmecke A.
Mich kitzeln rhododendrongrüne Olivengedanken. Meine Balkonnase schmeckt Rhododendron. Das Paradies hat einen großen weißen Raum. Weiße Gardinen bäumen sich vor den Fenstern auf und künden von dem neuen Tag. Er bricht sonnig über mich herein, strahlt durch weißgardinische Maschen. Große weite Fenster lassen die Sonne in den Raum. Alles ist weiß. Mein Kissen und die Laken. Die Wände und die Decke; die Decke über mir und die auf mir. Das Paradies hat vor dem Fenster Rhododendron. Im Paradies gibt es nur Rhododendron. Gott hat ein zweites Wort neben Kalamata vergeben, das Wohlgefühl ausstrahlt - Rhododendron. Es ist ein grünes Wort, ein Wort, ohne A. Ich denke Rhododendron, ich schmecke Rhododendron. Das schmeckt mir.
Im Paradies wacht man in einem weißen Bett auf. Man schläft lange, so lange, bis der Tag schon seinen Anbruch hinter sich hat. Man hört die Vögel über ihre gelegten und ungelegten Eier debattieren. Und man riecht Rhododendron. Vom Fenster aus kann man das Paradies überblicken. Es sieht toskanisch aus und riecht pronvenzialisch. Nur Flora und Fauna. Und viele A's.
Für feinfühlige Menschen ist es wichtig, von A's umgeben zu sein. Man braucht diesen Buchstaben in der Luft, im Trinken und Essen. Kleine Kinder essen gerne Buchstabensuppe. Da sind A's drin.
Mich schwitzt. Ich kann mein Glas kaum noch sehen und entzünde weitere Kerzen. Sie werfen noch mehr Schatten von mir an die Wände. Ich bin vielmals. Ich tanze und züngle. Ich bäume mich auf, falle in mich zusammen und erstehe neu. Ich arabisiere Volkstänze. Ich trinke Kühle und schwitze Wärme. Leckerer Tee benetzt meine Kehle. Tee, dessen exotischer Name kaum auf die Herkunft schließen lässt. Es sind die Länder des Orients und Okzidents, die uns Teeliebhabern den Alltag bunt gestalten. Die Farbenvielfalt seiner Erntehelfer überträgt sich auf sein wohliges Aroma. Es können bloß frohe Menschen gewesen sein. Wer Tee trinkt, wird froh sein. Die Menschen in ihren okzidentalischen Bekleidungen legen ihren Frohsinn mit in die Teesträucher. Hier wandert er, gleich dem unbeschwerten Frohsinn ursprünglicher Lebensformen, über lange Wege in unsere Teetasse und breitet sich über seinen Duft in uns aus. Wer Tee trinkt ist ein glücklicher Mensch. Ein Teetrinker trägt die Bereitschaft in sich, auf Fremdes einzugehen. Ich bin bereit, ich trinke Tee. Im Paradies wird Tee getrunken. Kühl oder kalt, warm oder heiß. Das schmeckt mir. Im Paradies richtet man nicht seinen Blick nach Neuem. Man geht der Nase nach. Die Nase geht vorneweg und ich gehe hintendrein. Sie erriecht sich einen neuen Weg. Ich folge ihr. Ich rieche frischen Tee und Rhododendron.
Mein Durst veranlasst mich, erneut eine Kanne Tee zu kochen. Ich verlasse also meinen kerzenbeleuchteten paradiesischen Platz. Im Schrank habe ich eine unzählige Menge von wohlriechenden Teesorten. Grünen, Schwarzen, Roten; Früchtetee, Frauentee, Männertee. Tee zum Anregen, Tee zum Aufregen. Ich bringe den kochenden Aromaträger mit den Teeblättern zusammen und warte ab. Man muss einfach abwarten. Ein Tee hat so viel Liebe zu vergeben, da braucht es seine Zeit. Die Liebe läuft durch die engen Maschen des Teebeutels und vermischt sich mit dem Wasser. Die Liebe hat auch eine Farbe. Sie kann rot sein, oder auch schwarz oder grün. In jedem Fall tut die Liebe gut. Die Liebe sieht aus wie Wolken, sich herannähernde Gewitterwolken. Sie wallen auf, ganz klein, dann werden sie größer. Blitze zucken und ein Krachen durchschneidet die Ruhe. Nichts ist wie es war. Alles ist neu, alles ist anders. Ich sitze mit meiner neuen Liebe auf dem Sofa und genieße sie. Es ist eine rote Liebe. Wohlschmeckend danke ich ihrer Herkunft. Ich verneige mich vor ihrem Produzenten und den vielen Mitarbeitern, die in mühevoller Kleinarbeit für mein ganz persönliches Behagen sorgen. Ich weiß um die Schwere ihrer Herstellung. Viel Mühe und viel Schweiß stecken in ihr. Ich zolle ihr meinen Dank, meinen Respekt, indem ich diesem alten Ritual folge, dem man nachgeht, wenn man sich einen Tee braut. Zeit spielt eine große Rolle. Nicht zu viel und nicht zu wenig. Der richtige Zeitpunkt sollte es sein. Dankt denen, die produzieren!
Zucker versüßt mir meine Liebe. Ein Stück davon regt meine Geschmacksknospen an. Eine süße Liebe. Mit leichtem Schlürfen koste ich den ersten Schluck. Der Tee ist heiß. Ich führe wiederholt die Tasse zum Mund und versuche, mit viel Sauerstoff das Getränk anzureichern. Sofort steigen in mir meine paradiesischen Gedanken auf und entführen mich in ferne Länder. Kräuter umgeben mich. Basilikum hängt an der Decke, Muskat wird irgendwo gerieben und in der Ferne ruft jemand nach Zimt. Orientalische Gewänder streifen mich beim Vorbeigehen. Rosenduft liegt in der Luft. Seide flattert an Menschen herum. Fremde Sprachen vermischen sich mit den Gerüchen. Ich fühle mich aufgenommen von der Fremdheit um mich herum. Ich werde angelächelt. Man antwortet stumm meinen fragenden Augen. Ich stille meinen Hunger mit honiggetränktem Reis, kardamomgeschwängerter Kaffee und Ziegenmilch stillen meinen Durst. Datteln mit Mohn und Feigen mit Marzipan sind meine Nachspeise. Ich nehme mesopotamische Heißgetränke aus sonnengegerbten Händen. Goldene Geschmeide zieren schmale Frauenhände. Protzige Ringe und Ketten die Männer. Ich koste mich an Ständen entlang. Ich esse mit Händen und teile mir den Tag mit all den Handeltreibenden. Turbanträger reihen sich an Pluderhosenbesitzer. Animalische Bauchtänzer lösen den Gesang des Muezzin ab. Mein Paradies ist bunt.
Berge von Pfeffer und Salz, Paprika und Nelken, Türme von Silbertellern, goldene Tabletts und farbenfrohe Menschen. Ich höre eine Sitar. Flötenspieler begleiten Tänzer. Ein Kind bittet mich um eine Gabe. Seine Hände sind dreckverkrustet. Dunkelschwarze Augen blicken aus einem sonnengebräunten Gesicht. Blondschwarze Locken wippen lustig auf dem Haupt. Ich gebe, was ich bereit bin zu geben. Weiße Zähne danken nubisch. Das Lachen ist Dank genug. An einer Teestube koste ich mich durch. Feine Geschmacksvariationen rinnen mir die Kehle hinunter. Wieder schmecke ich. Ich schmecke Weite und Unendlichkeit. Ich schmecke Ursprung. Ich schmecke mein Paradies. Mein Paradies schmeckt mir.

Ich sitze auf dem Sofa und hänge lächelnd meinen eigenen Gedanken nach. Immer noch umgeben mich Orient und Okzident, Toskana und Provence liegen mir duftend zu Füßen. Mich beweihräuchern teeinhaltige Getränke. Gewürze benebeln mir die Sinne. In der Ferne geht behände die Sonne auf. Es wird Tag in meinem Paradies. Ich schmecke den jungen Morgen. Ich rieche Licht und höre den Singsang meiner Rhododendrongedanken.

Mein Tag beginnt mit dem Wunsch, heute Abend wieder mit dir einen Tee zu trinken.
 



 
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