Rolle rueckwaerts

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Kinski

Mitglied
Rolle rückwärts

Es schneite und war dunkel. Zu dem waren die Strassen gefroren und machten die Fahrt ins Krankenhaus zu einer gefährlichen Angelegenheit. Nichts desto trotz musste ich mich beeilen. Verlorene Sekunden konnten ein Leben lange Vorwürfe bedeuten. Und das wollte ich tunlichst vermeiden.
An der Einfahrt angekommen, ließ ich den Wagen stehen, wo ich Augenblicke zuvor gestoppt hatte, um nach einen Parkplatz Ausschau zu halten. Aber es war mir egal. Ich sprang raus, konnte leider den Türrahmen nicht mehr fassen und knallte kopfüber auf die schneebedeckte Strasse. Nun wusste ich, warum hier ein Parkverbot angeschlagen war.
Ich kämpfte mich zurück auf die Beine und klopfte mir den Schnee von meiner in der Not gegriffenen Bergsteigerjacke und tastete mir, noch während ich die Autotuer zuschlug, meinen Kopf nach Blut oder anderen schmerzhaften Stellen ab. Es war jedoch nichts zu entdecken. Also lief ich los, hielt auf den Krankenhausglaskasteneingang zu, der mich glauben ließ, ich sei auf dem richtigen Weg. Und es war ein langer Weg. Nicht von der geografischen Entfernung – ich glaube es war der Druck, der auf mir lastete und dem ich seit Tagen ausgesetzt war.
Andererseits begriff ich in diesem Moment, dass ich die Wagentuer zugeschlagen hatte, ohne den Autoschlüssel mitzunehmen.
“Nein!”, schrie es in mir. Und doch kehrte ich nicht mehr um. Die Zeit drängte und auf eisglatter Strasse einen Richtungswechsel vorzunehmen, würde mir endgültig die Kraft rauben.
Ich stürmte durch die Glastuer und wäre beinahe mit ihr kollidiert, weil ich wohl schneller war als ihr Sensor, der die Technik anwies, die Glastüren zu öffnen.
An der Rezeption saß eine ältere Dame im blauen Schwesternkittel. Sie bewegte sich keinen Millimeter, als ich an sie herantrat. Stattdessen schob sie ihre Augen über den oberen Brillenrand, während sie das neue Rätselheft mit dem Extrabonusteil in den Händen hielt, als rechnete sie damit, ich könne es ihr entreißen.
“Ja, bitte? Wie kann ich Ihnen helfen?”
Ihre Stimme stand im engen Kontakt zu ihrer Körperhaltung. Beide waren für ein Krankenhaus und erstrecht für meine Lage sehr anteilnahmslos.
“Ich suche… wo muss ich lang, um…”
Verdammt, war ich außer Atem. Der Sturz und der Lauf hatten mir stärker zugesetzt, als ich anfangs dachte.
Die Schwester fackelte nicht lang, sondern stand sofort auf, warf in derselben Bewegung das Rätselheft zur Seite und streckte ihren Arm in Richtung Treppenhaus aus.
“Zur Treppe! 3.Etage! Durch die Glastuer, rechts! Und legen Sie einen Gang zu, denn Sie müssen bis ans Ende! Los! Los!”
Sie hatte alles unter Kontrolle. Und junge, werdende Väter ebenso. Wobei wohl jeder Mann in meiner Situation den größten Respekt vor ihrer Offizierslaufbahn haben würde.
Ich stöhnte über den Gedanken, Treppen bis in einen dritten Stock zu steigen, mit einer Geschwindigkeit, mit der ich im New-Yorker-Treppenhausmarathon starten konnte.
Ich lief los und stieß die Milchglastuer zu dem Gang auf, der die letzte Hürde - vielleicht auch die letzte Grenze – zu einer neuen, aufregenden Lebensumstellung war. Was ich nicht wusste:
Diese Hürde war endlos lang, belebt und enthielt viele große Hindernisse wie Brutkästen, Betten und Rollstühle. Was immer diese hier suchten; ich beschloss, dass das der falsche Ort für sie war.
Dann endlich sah ich alle stehend und wartend. Dass sich so ein Ereignis kein Mitglied der Familie entgehen lassen wollte, konnte ich verstehen. Allerdings die Art und Weise, wie sie diesen Moment abwarteten, fand ich sehr seltsam:
Mein Vater stand zusammen mit ihrem Vater in der Ecke, beide spielten sie mit ihren neuen Kameras, die, wie sie behaupteten, nicht wegen des Ereignisses zugelegt wurden und beschämten sich gegenseitig, dass der andere doch die bessere von beiden hätte. Wobei ich wusste, dass beide durch die Blume hindurch ihren Hahnenstreit austrugen, den sie nun schon seit Jahren führten.
Unsere Mütter gaben sich wie immer ihrer Harmonie hin. Während die eine wohl das zehnte Paar Socken für meinen Nachwuchs strickte, blies die andere weiter Luftballons auf, die sie einem nach dem anderen meiner Schwester zusteckte, die sie doch bitte schön zusammenhalten sollte, damit sie den Knirpsen nachher darin fotografieren konnten.
Mein angehender Schwager nahm sich nicht viel von der Anteilnahme, sondern schichtete einen Kaffeebecher nach dem anderen in einander, die er zu einer Burg aufbaute. Dabei saß er an der Wand gelehnt und auf dem gebohnerten Fußboden, der so spiegelglatt war, dass ich ein Loch in seiner Hose erkennen konnte.
Seltsam diese Szene, dachte ich. Eigentlich träumte ich immer davon, alle um mich zu versammeln, wenn ich mein wohl größtes Geschenk in den Armen hielt, was mir meine Freundin je machen konnte.
Ich schluckte den Brocken Skepsis über den verlorenen Wunschtraum herunter und stellte mich vor ihnen. Jedoch hielt sich ihre Begeisterung über mein spätes aber doch endliches Erscheinen in Grenzen. Die Herren machten nun nicht nur gegenseitige Komplimente, sondern auch Bilder. Nur meine Mutter schaute auf und mich kurz an, bevor sie sich wieder der anderen Ich-werd-bald-Großmutter zuwandte.
“Da bist du ja endlich. Hast es ja doch noch pünktlich geschafft. Wäre ja auch zu schade gewesen… Jedenfalls sah er damals sehr klein aus und wog nur 2900 Gramm. Wir waren total erschüttert – Herbert und ich. Was hatte ich damals für Krämpfe bei seiner Geburt…”
Ich drehte mich um. Ich hörte diese Geschichte nun zum Millionsten Mal und hatte es satt. Stattdessen blickte ich mich um und maß den Flur. Er glänzte vor Sterilisation und der Kohlsuppengeruch war auch nicht ohne. Die Wände glichen wohl denen eines jeden Krankenhauses. Sie waren beige mit einer Schicht Lack einen Meter als unterer Rand. Ab und an hinge in Bild, um die trostlose Leere auszufüllen mit Ansichten von Landschaften und alles, was sich sonst noch als Bild hergab.
Ich entdeckte auf meiner Suche nach Ablenkung ein Ehepaar zwischen all den Schwestern und Großmüttern und –Vätern – einfach jedem, der glaubte, hier sein zu müssen – was insgesamt drei Kinder mit sich zum Ausgang trug. Alle waren sie warm eingepackt in dicken Jacken und Mänteln und sahen sehr geschafft und mitgenommen aus.
“Ich kann es einfach nicht glauben, dass Du die ganze letzte Woche mit Deinen Freunden beim Bowling warst! Nicht einmal Einkaufen warst Du! Dabei wusstest Du ganz genau, dass ich heute mit unserem Kind nach Hause kommen würde! Ich weiß nicht, was mit Dir los ist, aber ich werde es herausfinden…”, sagte sie in vorwurfsvollem Ton, den jeder auf sie aufmerksam werden ließ. Der Vater war genervt und es war ihm sichtlich unangenehm, dass jeder die Urteilsverkündung seiner Frau mit anhörte. Er wollte überall sein, nur nicht gerade hier.
Als die Glastuer hinter ihnen schloss, blendete ich meine Umwelt aus und stellte uns in dieser Lage vor. Ich, der die Anwesenheit seiner Freunde liebte, mit einer nach der Geburt gestressten Frau. Keine Chance. Die Vorstellung blieb aus. Aus welchen Gründen auch immer.
Jedoch sah ich Menschen auf der Strasse, die nebeneinander liefen. Und ich sah, wer wen im Griff hatte und wer nur teilnahmslos neben dem anderen trottete. Ich schämte mich für diese Menschen. Hatten sie denn kein Durchsetzungsvermögen? Wollte sie nicht auch mal den Ton angeben?
“Herr Renz? Herr Renz! Sie können Ihre Frau sehen, wenn Sie möchten.”
Eine flache und schüchterne Stimme holte mich zurück. Die junge Schwester schaute mich an und nickte freundlich mit ihrem Kopf.
“Sie ist nicht meine…”, ich verschluckte des Ende des Satzes.
Sie riss ihre Augenlider hoch und ich fürchtete, ihre grünen Augen würden jeden Moment herausfallen.
“Wo liegt sie?”, warf ich gleich noch hinterher.
“Gleich dort drüben, Zimmer 307. Sie können zu ihr. Die Wehen sind noch zu schwach, daher brauchen Sie sich noch nicht umziehen.”
Sie wirkte freundlich und besänftigend.
“Umziehen…?”, wunderte ich mich. Wer will sich denn umziehen? Ich kann kein Blut sehen! Hab ich das nicht erwähnt?
Doch sie war schon auf dem Weg ins Schwesternzimmer, irgendwo in dem Türenwirrwarr der Entbindungsstation.
“Ok, dann wollen wir mal.”
Ich schritt voran und realisierte erst jetzt, dass alle schon längst bei meiner Freundin waren. Nur ich schien wieder viel zu langsam zu sein.
Das Zimmer war durchflutet von warmem Licht und ausgestattet mit allerhand Geburtshelferschnickschnack. Undefinierbar, aber es schien wichtig zu sein. In der Mitte des Raumes, und auch mittig aller Schaulustiger dieses wunderbaren Tages, lag sie auf einer großen Liege, aus dem Beim-Schlafen-Herausfallen Lebensgefahr bestehen konnte.
Sie war mit einem cremefarbenen Kittel bekleidet, auf dem kleine Blümchen und Teddybären gedruckt waren. Ich fragte mich ernsthaft, ob in diesem Saal wirklich das Leben begann oder ob nicht hier die mütterliche Verhätschelung junger Menschen seinen Ursprung fand. Ich fand den Kittel grässlich, ließ es aber niemanden wissen. In welchem Krankenhaus wurde schon Modegeschichte geschrieben?
Dann endlich schenkte auch sie mir ihre Aufmerksamkeit, nachdem sie von allen Seiten der Liege gefragt wurde, wie es ihr denn ginge und ob die Wehen schon stärker werden würden. Abgesehen von den bohrenden Fragen zur weiblichen Psyche in solchen Stresssituationen der Mütter, antwortete sie meinem recht zufriedenem Lächeln und ich erkannte ihre blitzenden Augen und die Aufregung, die in ihr wuchs.
“Ha-hallo- Schatz! Wie geht es Dir? Du siehst ja selbst in dieser Lage bezaubernd aus… Ich meine, Lage, nein – hier, jetzt, bei der Geburt und so…”, ich angelte nur erstaunte Blicke der anderen.
Sie jedoch trat auf mich zu:
“Hey, na klar muss ich doch gut aussehen. Du bist doch hier!”
Ja. Stimmt genau. Ich war ja hier.
“Außerdem ist noch Zeit. Der Doktor meinte, dass hier vor Mitternacht nichts passieren wird. Also ist noch Zeit für Dich, den Kittel zu holen.”
Oha! Es wird Ernst, dachte ich.
“Jaaaa… darüber wollte ich auch noch mit Dir sprechen.”, ich konnte nur schwer schlucken. Doch noch bevor ich etwas sagen konnte, wurde die schwere Tür geöffnet und ein grauhaariger Mann mit schmaler Brille, den dazugehörigen schmalen Mundwinkeln und Gedächtnisfalten trat ein und setzte dazu an, die heitere Masse an Menschen zu sprengen.
Sein weißer Kittel, das Stethoskop und das fast Handflächen große Namenschild identifizierten ihn als den zuständigen Arzt und Ansprechpartner.
Auch gut, schoss es mir in Kopf. Jetzt werden alle rausgeschmissen und die Party ist vorbei.
“Guten Abend, verehrte Damen und Herren, mein Name ist Oprey-Pirchhausen und ich bin hier der nette Onkel Doktor der Entbindungsstation!”
Alle nickten und stimmten der Rede eindeutig zu.
“Wie geht es Ihnen, Frau Renz? Alles im grünen Bereich? Will der Knabe noch nicht rauskommen?”
Wie bitte? Der hat sie auch gerade zu meiner Frau gemacht! Hab ich die Hochzeit verschlafen oder hat der Sturz vorhin doch ernsthaftere Schäden hinterlassen, als ich erst annahm?
Er schlürfte weiter durch den Raum und hielt auf mich zu. Das Quietschen seiner Schlappen war nicht zu überhören und das Rauschen seines geöffneten Kittels hinterließ den Eindruck, man hätte die Zeitlupe einer Filmaufnahme zu schnell eingestellt; die Einblendung des Helden, wenn er zur rechten Zeit am rechten Ort eintraf, misslang.
Jedoch reichte er mir die Hand.
“Sie müssen der Ehemann sein – Herr Renz. Wie fühlen Sie sich? Aufgeregt? Angst? Brauchen Sie nicht zu haben! Alles reine Routine. Da müssten Sie mal meine Kollegen sehen, wie die vor einem Routineeingriff zittern…. hehehehe.”
Sein Lachen erstarb im Krächzen seines Raucherhustens. Die anderen grinsten ebenso und schienen sich über meinen bedepperten Gesichtsausdruck zu amüsieren.
Ich dagegen tastete ein zweites, diesmal intensiveres Mal meinen Kopf nach Schäden des Sturzes ab.
“So! Nun muss ich diese nette Menschenmenge aber auflösen und sie bitten, wieder draußen im Flur zu warten. Sie wissen ja, wo der Kaffeeautomat steht… hehehehe!”
Die Väter packten wieder ihre Kameras aus und machten noch ein paar Schnappschüsse mit allem, was sich für den Vorher-Nachher-Vergleich eignen ließ. Der Kettenraucherdoktor musste natürlich schon jetzt auf das Bild – der gefeierte Held vor der Tat.
Sie drängten mich mit raus und verstreuten sich in alle Richtungen. Mein Schwager plante, seinen persönlichen Kaffeerekord zu brechen, während meine Schwester ein weiteres Mal die Ballons zählte und scheinbar im Kopf durchging, ob alle Utensilien für die große Überstanden-Feier zusammen waren. Ich hoffte sehr, dass hier keine Luftschlangen im Spiel waren.
Ich setzte mich auf einen der vielen verstreuten Stühle und atmete tief ein. Gegenüber an der Wand hing eines der Landschaftsbilder, die aus Verzweiflung angebracht waren, um Farbe und Frohsinn in den Krankenhausalltag zu streuen.
Abgebildet war der Ausschnitt eines Alpengletschers mit dicken Eisbrocken, scharfen Kanten und spitzen Klippen, in seinem Schatten erhoben sich verschieden hohe Bergkuppen und Gipfel, erhellt von purer Sonne.
Ich spürte den seichten Stoss des Windes gegen Stirn, Nase, Wangen; roch plötzlich das saftige Grün der Alm und hörte des Klingen der Kuhglocken; das Zwitschern der Vögel an einem wunderbaren Tag auf dem Fahrrad, auf dem schmalen Pfad entlang durch die Waldstücke und Lichtungen folgend auf meinem Weg durch die Täler und Bäche, den Berg wieder herauf. Dort hinten unter dem Baum saß ich. Angelehnt an eine seiner dicken Wurzeln; ein Wurstbrot in den Händen haltend und schmatzend beobachtete ich die Ruhe und Glückseligkeit der Natur mit den Augen eines Rentners, der sein ganzes Leben geschuftet hatte und nun seinen wohlverdienten Ruhestand genoss. Ich träumte plötzlich vom Leben, meinen Wünschen und Zielen, die es noch zu erreichen gab. Plante Treffen und Abenteuer mit den Kumpanen daheim. Die Welt stand mir offen und wollte erobert werden. Ganz egal, wie mir geschah, ich wollte vor nichts zurückschrecken. Sah mich in Island in Geysiren baden, in Kanada Wildpferde reiten, in Australien reißende Strömungen mit Schlauchboot standhalten. Das alles und noch viel mehr trat vor mein inneres Auge und pumpte den letzten Tropfen Adrenalin in mein Blut. Es geriet in Wallung und ich wollte mehr sehen. Aber ich konnte sie nicht erkennen. Keiner war aufzufinden – meine Freundin nicht, mein Kind nicht. Niemand erschien und teilte meine Erlebnisse durch ein gemeinsames Lachen, aufgeriebene Ellebogen, Blasen an den Füssen oder tausende von Urlaubsbilder, die man wieder und wieder anschaute, nur um Neues zu entdecken.
Ich konnte nicht erklären, was es war; was mit mir passierte.
Um mich herum geriet alles in Panik, wie ich unterbewusst wahrnahm.
Zwei Schwestern liefen an mir vorbei in das Zimmer meiner Freundin. Die Familienschar trieb sich nun auch zusammen und begann wildeste Spekulationen zu erfinden, unter die sich dann wie ein Gewürz die professionellen Erlebnisse der Mütter mischten.
Nun kam auch der Arzt und Magier im weißen Kittel schnellen Schrittes – wirklich sehr schnellen Schrittes – herbeigeeilt und verschwand ebenso im Zimmer meiner Freundin.
Die Schar trieb in derselben Bewegung mit, als hätte der Doktor ein Lasso geworfen und sie hinter sich hergezogen. Sie hielten inne und versuchten zu erhaschen, was sich wohl darin abspielen könnte. Ich ahnte es und geriet auch in Panik. Nein, nicht mal annährnd so wenig, wie der Rest, sondern weit aus nervöser.
Sollte es das nun gewesen sein? Werde ich in wenigen Minuten oder sogar Sekunden ein junger Vater sein mit allen Macken, die diese Aufgabe für mich bereithielt? Flasche geben, Windeln wechseln, nur noch 3 Stunden Schlaf in der Nacht, alle Steckdosen zu kleben, keine 240 Stundenkilometer mehr auf der Stadtautobahn, nicht mehr länger in wilder Ehe leben mit wilden Konzerten und Sex bis in den frühen Morgen…
Die Tür wurde einen Spalt geöffnet und es schob sich ein kleiner Kopf hindurch. Der Blick schoss nervös von einer Richtung in die andere und zurück.
“Herr Renz, bitte! Herr Renz?”
Die Schwester schaute erwartungsvoll meinen Schwager an und dann meinen Vater. Beide schüttelten ihre Köpfe, bildeten aber eine Gasse, deren Ende in meine Richtung führte.
Ich setzte mich aufrecht auf den Stuhl und spürte, dass mich jeder anstarrte. Sie warteten auf eine Reaktion, irgendeine Bewegung, vielleicht auf einen bestimmten Gesichtsausdruck.
Doch es kam nichts in mir hoch. Außer, dass ich so nötig auf Toilette musste, dass ich auf dem Stuhl hin- und herrutschte. Im Studium nannten wir es “Angstpipi” und wurde vor jeder Prüfung zelebriert.
Und nun stand mir wohl die bedeutungsvollste Prüfung bevor, die eigentlich geprägt sein sollte von soviel positiven Stresshormonen, dass ich fast betrunken sein musste. Aber ich spürte den Funken nicht, der den Hormoncocktail zum Explodieren brachte. Darum saß ich da und musste aussehen, wie ein Trottel, der auf dem Abstellgleis auf den Zug zurück ins Leben wartete. Als dieser nicht kam und ich erkennen musste, dass er nur dann kam, wenn ich das richtige Abfahrtsgleis finden konnte, stand ich auf und rückte meine Jacke zurecht.
“Ich geh da nicht rein!”, sagte ich mit krächzender Stimme.
Sie sahen mich noch immer erwartungsvoll an. Doch wandelte sich der Ausdruck nun in einen fragenden, der angestrengt versuchte, die merkwürdigen, akustischen Signale zu deuten, die sie empfangen hatten. Diese schienen für niemanden einen Sinn zu ergeben; völlig aus dem Zusammenhang gerissen.
“Guter Witz! Los jetzt! Ist Deine Stunde!”, warf meine Schwester in die Runde, deren Grinsen vergangen war.
“Nein, ich geh das nicht rein”, wiederholte ich. ”Welchen Teil von: Ich-geh-da-nicht-rein verstehst Du nicht?”
Meine Mutter klinkte sich schnell ins Gespräch ein und versuchte die Situation mit mütterlichen Instinkten zu retten:
“Ach mein Sohn, Du bist nur aufgeregt, weil das nette Leben zu zweit jetzt vorbei ist und Du Verantwortung tragen musst. Aber glaube mir, Du wirst schnell in Deine neue Rolle wachsen und stolz sein auf dein Kind.”
Ihre Stimme wurde weicher, von Wort zu Wort. Mit dieser Art schaffte sie es tausend Jahre zuvor, mich in die Schule zu schicken, trotz meiner Angst. Aber heute zog das nicht. Ich war kein kleiner Scheißer mehr.
Die Männer in der Runde begannen zu feixen und witzeln. Dennoch war ihre Fassungslosigkeit nicht zu überhören.
“Sollen wir Dir vorher noch Deinen Arsch zu gipsen, damit es nachher nicht stinkt, wenn Du dir in deine Hosen machst?”, mein Schwager hob die Hand zum High-Five und wartete sehnlichst darauf, dass einer der Väter schrie und einschlug.
Ich knöpfte mir meine Jacke zu, denn es war kalt draußen und geschneit hatte es auch.
“Wer hat Dich grad nach Deiner Meinung gefragt?... Wer von uns beiden hat denn die Brautjungfer auf seiner eigenen Hochzeit gevögelt?”
Nun schrieen die Väter wirklich lauthals los und zogen ihre Kameras, um Bilder des entblößten Gesichts zu machen, dass zum Bruder meiner Freundin gehörte.
Die Schwester hatte noch immer ihren kleinen Kopf zwischen Tür und Rahmen und beobachtete die Szene mit Spannung. Ihr musste es vorkommen, als stünde sie mitten in einer Seifenoper. Was kam wohl als nächstes? Wer schlug sich mit wem, bevor er mit wem anderes ins Bett steigen würde?
Ich drehte mich auf meinen Absätzen um und hielt auf die Milchglastuer zu, durch die Augenblicke vorher die Großfamilie mit dem genervten Vater in die Welt hinausging, in deren Lage ich nie kommen wollte. So beschloss ich.
“Hey, das ist doch jetzt nicht…. Was hat er denn? Ärger im Job?”
Meine Pseudo-Schwiegermutter war betroffen und verwirrt.
“Aber Du kannst doch nicht gehen! Denk doch mal an meine Tochter, an mein Enkelkind… dein…”
Die Worte halten in meinem Kopf – noch so lang, bis ich zu meinem Wagen kam, der eine weiße Weste trug, wie ich sie jetzt lieber getragen hätten.
Ich zog den Ersatzschlüssel aus der Tasche, den ich aus irgendeinem Grund heute Morgen einsteckte.
Noch im Auto suchte ich nach dem Ticket für den nächsten Flug nach Alaska. Meine Kletterausrüstung klimperte, als ich den Wagen auf die Strasse rollte. Auf der Strasse zu irgendeinem Leben, weit weg und doch näher an meines, als ich wohl glauben mochte.
 



 
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