Rom

Wir suchen den Geburtsort von Romulus und Remus, den beiden Stadtgründern Roms, die der Sage nach von einer Wölfin großgezogen wurden. Am Fuße des Palatins, einer der sieben Hügel der Stadt, werden wir fündig. Vor uns erhebt sich das Foro Romano, verwüstet, verkrüppelt - verlassen nicht. Es wimmelt von Reisegruppen und Souvenirhändlern.
Die teilweise recht ruinösen Bauten sind überriesig, so dass man vom dauernden Aufsehen einen steifen Nacken bekommt. Und über allem wölbt sich der unendliche Himmel, ein paar Schäfchenwolken hier und da. Der Horizont ist kantig, scharf wie eine Messerschneide. Gut vorstellbar, dass man auf der anderen Seite in ein bodenloses Nichts stürzt. Als ob der Mittelpunkt der Welt kein Umland besäße! Als sei dies uralte Trümmerfeld allein das Erdenrund – exakt umrissen, ohne Hinterhof, ohne Rückendeckung, vom azurblauen Himmel umschlossen, wie von einer stählernen Faust. Unweigerlich hebt sich der Blick, das Kinn wird straff, der Rücken streckt sich. Die Augen leuchten aufgrund des plötzlich einfallenden Lichtes und in dieser stolzen Haltung fühlt sich das Individuum – doch ganz besonders der Römer – erhaben und auserkoren.
Hoch oben auf dem Palatin vernehme ich in Rom erstmalig Vogelstimmen. Ein Gezwitscher wie in einem ornithologischen Garten. Kräftig stehen Pinien und Krüppelkiefern in der sengenden Hitze, werfen ihre Schatten auf Mauerreste und ausgetretene Pfade. Kein Lüftchen regt sich, der gelbe Staub zu unseren Füßen hebt sich träge aus dem Weg. Welche Zehen hat er wohl benetzt, vor Zeiten, als der Mensch Sandalen trug?

Rom ist die Stadt der Springbrunnen und der Statuen. Alle in Stein verewigten Götzen und Feldherren, Heilige und Schutzpatrone, selbst die gigantischsten hoch oben über der belebten Piazza, sind so modelliert, dass sie von unten herauf gut sichtbar sind. Jede Kleiderfalte, jede Gesichtswölbung regt sich schattenreich im wechselvollen Spiel des Lichtes. Die gleißende Sonne erhebt den toten Stein zu strahlend weißen Göttern, dem Himmel so nah. Brücken beider Ewigkeiten, dem Gestern und dem Morgen. Jeder Nebelschleier aber trägt Sorge und Bewegung auf und lässt den Vorüberziehenden erstaunt innehalten. Wie wenn ein Schatten auf des Menschen Seele fällt und ihm sein Antlitz geradezu bewölkt, so verblüfft die in Marmor gemeißelte Offenbarung seelischer Qualen in Abhängigkeit von Hell und Dunkel, von Gut und Böse, von Liebe und Tod.
Ich bin ganz meschugge von den leblosen Gestalten. Ich fühle mich ständig beobachtet.
„Steinerne Zeugen der Geschichte“ sagt Jan, als ich ihm erzähle, dass mich diese maßlose Ansammlung toten Gesteins irgendwie erschreckt. „Wer weiß, was die uns erzählen könnten?“
Was wohl? Dass sie Tausende von Düften atmeten? Jene, der Unsterblichkeit, der schönen Künste und der Liebe; die der Pest und der Dekadenz, Brandgeruch und Menschenblut? Der Wind umkreist ihre haarlosen Häupter und streichelt die tausend Tränen fort, die ihren Augen den Glanz nahmen. Arme, versteinerte, seelenlose Welt. Armer Mensch.

Derweil die Glocke jenseits des Tibers zum Abendgebet ruft, ziehen wir unsere besten Kleider an und begeben uns in jenen Teil der Stadt, welcher der Ursprung alles römischen Lebens ist und seit über zweitausend Jahren mit antiken Säulen und Palästen, beredten Skulpturen und brausendem Lärm besticht und verwundert. Auf die Piazza Navona fällt die Dämmerung. Endlich werden die Fenster der umstehenden Häuser geöffnet – die Sonne sinkt, die Kühle kommt.
Touristen und Einheimische vermengen sich in Bild und Sprache – wer ist Freund, wer Feind? Befrackte Kellner huschen durch die im Freien gruppierten Tischreihen, ein alternder Student gibt sich als Komödiant. Die Straßenmusikanten ziehen von Haus zu Haus: russische Weisen, französische Nonchalance, deutscher Argwohn. Zigeunermädchen überreden uns zum Blumenkauf, fassen uns an die Schulter, befühlen unser Haar – ist die Halskette noch da?
Nach einem ausgiebigen Bummel sitzen Jan und ich auf dem Rand des Vierströmebrunnens und betrachten eingehend die in weißen Stein gehauenen Flussgötter. Sie symbolisieren die größten Flüsse der im 17. Jahrhundert bekannten vier Erdteile: Nil für Afrika, Donau für Europa, Ganges für Asien, Rio de la Plata für Amerika. Das Wasser muffelt etwas verchlort und das Straßenpflaster ist holprig.

Mein Blick wandert weiter, schweift an den grauen Häuserfassaden empor, hält an klapprigen Fensterläden fest, sieht das kleine Mädchen im Hemd auf dem Balkon, eine Puppe im Arm oder einen Teddybären vielleicht. Es steht völlig regungslos. Sein Blick bohrt sich in meine Augen. Kein Muskel regt sich. Eine Frau teilt die Gardinen hinter ihm, hebt es auf und trägt es in die Stube zurück. In diese gähnende Dunkelheit, hoch über der murmelnden Piazza.

Die Lust zum bummeln ist plötzlich wie weggewischt. Auf dem Weg nach Hause pule ich in jeder dargebotenen Malerei den Kitsch heraus, an jedem Seidenschal nörgele ich herum, ob seiner farblichen oder stofflichen Qualitäten. Angesichts der allgegenwärtigen Vergänglichkeit wird mir jedes Souvenir als Erinnerung an gewesene Tage, wenn auch schöne aber eben verblühte Stunden verleidet.

Als der Abend mit einem orangeroten Dunst über den Tiber aufsteigt, glühte meine Stirn von Hitze und Überwältigung.
 



 
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