Romanleseprobe "Der Rosenfriedhof"

Morrigan

Mitglied
Cork / Irland 1907

Ein dichter Schwarm von winzigen Vögeln erhob sich aus einem Baum in der Auffahrt, wogte für ein paar Sekunden unschlüssig über dem Dach des Küchentraktes hin und her, nur um sich dann wieder in den selben Ästen niederzulassen. Mary betrachtete das Spiel der Vögel nun schon eine ganze Weile und manchmal erschien es ihr, als würden die kleinen, gefiederten Körper nur von ihren Gedanken aufgescheucht. Wie lange war es her, das sie einen so geruhsamen Augenblick auf Carston erlebt hatte?
Zu lange . . . eine Ewigkeit! Seufzend löste sie sich von der Gesellschaft der Zugvögel, die sie nun bald verlassen würden, und machte sich auf den Weg zum Stall herüber, der friedlich in der goldenen Oktobersonne schlief. Auch in den rotgoldenen Wein- und Efeuranken balgten sich die Vögel und der Hof war von ihren zarten Stimmen erfüllt.
In den langen Fluren des Stalls erwartete sie eine dumpfe Kälte und das freudige Wiehern ihrer hungrigen Schützlinge.
Robert hatte den Stall ausbauen und renovieren lassen, als sie nach dem Tod von Gillians Vater nach Carston zurückgekehrt waren. Gillian hatte darauf bestanden ihren Sohn und Erben hier zur Welt zu bringen und Robert hatte sie gehen lassen. Er hatte sogar erlaubt, daß Mary und ihre Familie, Gillian nach Carston begleiteten. Robert selbst bewirtschaftete zusätzlich weiter das Gut seiner Eltern in Kinsale und pendelte seitdem zwischen seinen beiden Wohnsitzen hin und her. So hatte Gillian endlich die Distanz zwischen ihnen geschaffen, die ihr so lebenswichtig erschien.
Während Mary Stroh und Hafer in den verschiedenen Boxen verteilte, dachte sie leicht wehmütig an den Tag zurück, als sie sich in die Arme dieser Dunkelheit geflüchtet hatte, um bei Gwendoline Trost zu suchen. Robert hatte die alte Stute inzwischen längst dem Messer des Metzgers übergeben, genau wie den größten Teil der fast alle anderen Pferde der Familie Carpenter, um Platz für seine edle Zucht zu schaffen. Nur Azisa und ihr Fohlen hatten Gnade vor seinen Augen gefunden.
„Gillian hätte ihm auch eigenhändig den Kopf abgehackt, wenn er dir etwas angetan hätte.“ Schmeichelte sie der schönen Perserin, die ihr huldvoll den Kopf in die ausgestreckte Hand legte.
Dann jedoch fröstelte sie bei dem Gedanken, das es nicht nur eine leere Phrase war.
Gillian hätte . . . oh ja sie hätte wirklich . . .
In der Nebenbox lärmte und protestierte Shadé, Azisas heißblütige, zweijährige Tochter, gegen die Mißachtung ihrer Person. Mary lächelte und hielt der langbeinigen, mausgrauen Stute einen Apfel entgegen. Sie würde sicherlich auch einmal so strahlend weiß werden, wie ihre schöne Mutter. Als sie mit ihren dunklen, samtenen Augen zu ihr aufsah, erinnerte sie Mary plötzlich an die kleine Patricia, die jetzt in England lebte. Robert hatte eine überraschend gute Partie für sie ausgehandelt, zog man seine Entfremdung von der englischen Adelsgesellschaft in Betracht. Ein Neffe des Lord Hastings, gerade einmal acht Jahre alt, würde Patricia heiraten, sobald sie das Mindestalter von vierzehn Jahren erreicht hätte. Mary betrauerte den Verlust des hübschen, Babys und sie fürchtete das Leben, das dem armen Geschöpf ihr von nun an bevorstand. Für Robert war sie nichts weiter, als eine Zuchtstute, die geboren und ausgebildet wurde, um trächtig zu sein . . . ihr Leben lang, bis sie im Kindbett den Tod fand . . . genau, wie ihre Mutter.

Nach der Morgenfütterung mistete Mary die Boxen aus, bis ihre Knochen und Sehnen schmerzten, wie die einer alten Frau. Stöhnend und ächzend ließ sie sich gegen einen Zaunpfahl sinken, nachdem sie die letzten Körbe Mist auf den Misthaufen aufgeschüttet hatte. Der Himmel war immer noch blau und keine Wolke zeigte sich am Horizont. Die warme Herbstsonne ließ das Wasser des Springbrunnens vor dem Haus glitzern, wie einen Fluß aus Diamanten. Doch schon lag Stille über dem Hof, die erste Vorbotin des Winters. Der Vogelschwarm war aus den Bäumen verschwunden, aufgebrochen zu seiner ungewissen Reise nach Süden, in Länder, deren Namen Mary nicht einmal kannte. Wie gerne wäre sie mit ihnen gezogen, der Sonne entgegen, an ferne Orte, an denen es nur Wärme, Licht und Schönheit gab.
Plötzlich wurde ihre stille Welt von lauten Stimmen auf dem Hof durchbrochen. Mary wollte mißmutig den Mund verziehen, doch dann lächelte sie glücklich, denn sie hörte aus dem Tumult eine Stimme heraus, die ihr lieber war, als alle Ruhe der Welt. Patrick war wieder da! Sie haßte die Tage, in denen er mit Robert zum Viehmarkt in Douglas hinüber ritt und in denen sie ihre Arbeit allein verrichten mußte. Doch um wieviel kürzer war die Zeit zwischen Abschied und Wiedersehen, wenn man sie nicht müßig verbrachte.
Eilig löste sie ihren Zopf und kämmte sie ihr langes Haar mit den Fingern durch, um das Stroh daraus zu entfernen und klopfte sich so gut es ging, den Staub von ihrem braunen Kleid. Da kam er ihr auch schon entgegen. In dem Licht der Sonne schienen seine Harre selbst ein Heiligenschein aus purem Gold zu sein. Seine Kleider waren schmutzig von dem langen Ritt, doch er hätte auch in Sackleinen so prächtig, wie ein Prinz ausgesehen! Es schien, als schmiege das Sonnenlicht sich wie eine zweite Haut an seinen Körper schmiegte, um jede Kontur seiner schlanken Gestalt hervorzuheben. Mary blinzelte und widerstand der Versuchung ihre Augen mit der Hand vor seinem Glanz zu schützen. Dann flog sie in seine Arme und ließ sich von dem blauen Feuer seiner Augen verbrennen. Lange, lange verharrte sie in seiner Umarmung, in seinem Kuß, bis ihre Stimme ihr wieder gehorchte.
„Wo ist James? Hast du ihn mir wieder gesund nach Hause gebracht?“ flüsterte sie leise in sein Haar.
Sie spürte, wie ein Lächeln über sein Gesicht glitt.
„Hattest du gedacht, ich würde ihn auf dem Markt verkaufen? Zusammen mit den Kühen?“
Mary schloß die Augen und schmiegte sich enger an seine Schulter.
„Er ist erst achtzehn Monate alt. Er hätte vom Pferd fallen können, oder auf dem Mark verschwinden, oder von einem Wagen überfahren werden können, oder von einer Herde zertrampelt . . .“, zählte sie schläfrig auf.
Sie hatte nicht gefürchtet, das ihrem Sohn etwas passieren würde, wenn sein Vater bei ihm war, doch sie wollte nicht, daß Patrick zu sehr von seinem Stolz geblendet wurde und die Gefahren für ein so kleines Kind auf solchen Marktplätzen gering schätzte.
„Ja, du hast recht.“, antwortete er ernst.
Dann legte er seine Hand sanft auf ihre Wange und zwang sie ihm ins Gesicht zu sehen.
„Du hast nicht geglaubt, ich würde zulassen, daß ihm etwas zustößt, oder?“
Mary schüttelte stumm den Kopf. Dann ließ sie sich in seiner Umarmung fallen, bis sie vergaß, was er gefragt hatte.
„Mary! Mary, wo bist du? Mary!“
Mary und Patrick fuhren wie ertappt auseinander. Die spitzen Schreie der Köchin hallte noch immer über den Hof. Dann hatte die aufgelöste Frau sie erreicht. Keuchend stützte sie sich auf einen der Zaunpfähle.
„Lucie, was ist los?“, drängte Mary sie ängstlich.
„Die Lady . . . das Kind . . .“, stöhnte die beleibte Frau atemlos.
Mehr hörte Mary nicht, denn bevor Lucie genug Luft gefunden hatte, um weiter sprechen zu können, war sie schon im Haus verschwunden.
Patrick fluchte laut und entfernte sich wütend in Richtung Stall.
Lucie blieb allein zurück und sah ihm ratlos hinter, doch ihr kleiner Geist durchschaute die Vorgänge um sie herum nicht und so schlurfte sie schließlich gleichmütig in ihre Küche zurück.

Die Tür des Salons stand weit offen und dünne Rauchschwaden zogen unter der Decke hin. Mary betrat vorsichtig den Raum und bemühte sich, die Gewalt über ihre Gesichtszüge zu bewahren. Sie haßte Robert, sie verachtete ihn und sein schleimiges, grausames Wesen, doch sie wußte auch, das er ihr überlegen war. Er war der Herr und sie war ein Nichts. Das waren die Tatsachen des Lebens und sie waren nicht zu ändern, auch wenn sie inzwischen nicht mehr schmerzten.
„Herr, die Lady hat sich soeben zu Bett begeben. Das Kind wird noch heute zur Welt kommen.“ , verkündete sie steif.
Robert drehte sich nicht einmal zu ihr um. Abweisend schüttelte er die Asche von seiner Zigarre und sah weiterhin aus dem Fenster. In der Reflexion des Glases, starrten seine harten Augen Mary lauernd an. Sie begann zu zittern.
„Soso, meine Gemahlin begibt sich ins Kindbett, na und? Was kümmert es mich? Ich will nur hoffen, daß ihre Schönheit nach der Geburt meines Sohnes nicht völlig verloren ist. Ein Lord, der mit einem Schwein verheiratet ist, gibt der Gesellschaft Grund zum Klatsch und das sollte sie in ihrem eigenen Interesse vermeiden!“ Seine Stimme war nicht mehr, als ein drohendes Flüstern und seine Augen leuchteten tückisch.
Mary drehte sich auf dem Absatz um und hastete aus dem Zimmer.
Er war der Teufel! Gillian hatte die Wahrheit gesagt! Er mochte, wie ein Mensch aussehen, doch innerlich, war er so deformiert und böse, wie Satan selbst!
Plötzlich hatte sie furchtbare Angst um Gillian. Bisher hatte sie nie geglaubt, das Robert ihr etwas antun würde, denn schließlich war sie seine einzige Chance auf einen männlichen Erben und außerdem, nach seinem eigenen Bekenntnis, die einzige Frau, die er besitzen, wenn auch nicht lieben, wollte. Doch sie hatten ihm bisher keinen Sohn schenken können und auch ihre Schönheit hatte nach der ersten Geburt stark gelitten. Ihr Körper weigerte sich, den Schein eines erfüllten Lebens aufrecht zu erhalten, und ließ sie schmählich im Stich. Sie war füllig und schlaff geworden und selbst immer engere Mieder und immer grellere Schminke konnten die Spuren ihres Leidens nicht vollständig verbergen. Mary wußte nicht, ob sie um einen Sohn für Gillian beten sollte, der ihren Mann von ihr fernhalten würde, oder ob sie fürchten mußte, daß Robert sich ihrer entledigen würde, sobald ihre Pflicht getan war, um vielleicht eine weitere junge Seele mit sich in die Verdammnis zu reißen.

In den oberen Zimmern erwartete sie eine unerträgliche Hitze, die von fest verschlossenen Fenstern und Vorhängen und einem riesigen, rauchenden Kaminfeuer noch verstärkt wurde. Der ganze Raum, um das riesige Bett, in dem Gillian sich unter Schmerzen wand, war schwarz und verraucht, wie die Hölle. Sofort ließ sie alle Fenster öffnen und Sand auf das Feuer schütten, auch wenn die ängstlichen Zofen blind darauf beharrten, ihre Herrin habe die Dunkelheit und das Feuer gewünscht. Mary achtete nicht auf ihr hysterisches Geschwätz und ließ nach Gladys schicken. Dann kniete sie sich neben Gillians Bettstatt und wusch ihrer Freundin mit einem nassen Tuch das verschwitzte Gesicht. Ihre Haut hatte sich so verändert . . . wo waren die wunderschönen Züge, die Mary so bewundert hatte? Gillians Augen lagen tief in den Höhlen, ihre Wangen waren eingefallen und von einer gelblichen, verbrauchten Haut überspannt. Und sie war doch noch so jung . . . so jung! Gerade einmal einundzwanzig Jahre lang hatte Gillian schön sein dürfen, bevor Robert sie zerstörte . . . ihren Körper und ihren Geist! Mary sah in das Gesicht, das ihr einmal bekannt gewesen war und weinte vor Angst.
Gillian litt schon seit fast drei Stunden, doch Mary befürchtete, das ihr noch einmal das vierfache an Zeit bevorstand. Mary betete, daß sie es diesmal leichter haben möge, als bei Patricias Geburt.
Dann sah sie sich in dem, nun wieder kühlen, Zimmer um. Sie hatte es nicht mehr betreten seit Patricia geboren worden war . . . wie hatte es sich verändert! Wie seine Gefangene war es nun schwarz und trostlos. Die goldenen Sonne tanzte höhnend über schwarze Bettvorhänge, schwarze Tischdecken, schwarze Kommoden und Schränke. Gillian hatte sich eine Gruft geschaffen, einen perfekten Ort für ihr lebendiges Begräbnis. Wußte sie, daß Robert sie inzwischen verachtete? Einst hatte er sie bewundert und mit der gesamten englischen Gesellschaft gebrochen, aus dem störrischen Beharren heraus, sie zu bekommen, doch jetzt . . . hatte er Gillian in seinen Gedanken begraben, so wie sie sich selbst begraben hatte.
Mary betete jetzt um ein Mädchen. In Anbetracht dieser sargähnlichen Gemächer zweifelte sie nicht einen Moment länger daran, daß Robert auch Gillians Körper begraben würde, wenn er erst seinen Sohn in Händen hielt.

Als Gladys etwa eine Stunde später erschien, war Gillian in einen von Schmerzwellen durchzogenen Dämmerzustand gefallen. Sie hielt Marys Hand umklammert und redete in einem fort von ihrem wunderschönen Sohn. Gladys untersuchte sie vorsichtig und schüttelte dann den Kopf. Mary sah besorgt zu ihr auf.
„Diesmal bin ich mir sicher, daß das Kind richtig liegt, doch es ist bei weitem größer, als das Letzte. Es wird noch Stunden dauern, bis sie sich soweit geöffnet hat, das sie es austreiben kann. Und sie wird noch größere Schmerzen haben . . .“
Ihre Stimme verklang mutlos. In Marys Augen schimmerten Tränen.
Robert brauchte sie nicht einmal selbst zu töten . . . er der Teufel und damit der Tod selbst!
„Können wir denn nichts tun!?“, schluchzte sie verzweifelt.
Gladys überlegte lange und auf ihrer Stirn bildeten sich immer wieder sorgenvolle Falten. Schließlich nickte sie.
„Ich kann ihr Morphium geben. Das wird sie schlafen lassen und die Schmerzen lindern. So verhindern wir wenigstens, dass sie sich jetzt schon zu sehr ermüdet. Das wird sie nicht lange durchhalten.“
Sie warf einen sorgenvollen Blick zu Gillian herüber, die sich inzwischen weinend und schreiend auf ihrem Laken hin und her warf.
„Es wird ihre Schmerzen lindern? Warum hast du es ihr dann nicht schon beim letzten mal gegeben? Und worauf wartest du jetzt noch? Macht es dir Spaß sie so leiden zu sehen?“, schleuderte Mary ihr aufgebracht entgegen.
Sie zitterte vor Angst und Wut. Gladys sah sie ernst an.
„Beim letzten Mal wäre es sinnlos gewesen. Bevor das Morphium geholfen hätte, wäre das Baby längst da gewesen. Außerdem ist die Verabreichung sehr gefährlich, denn schon eine geringe Menge kann einen Menschen töten.“
Mary erbleichte.
„Und das willst du ihr geben? Und was, wenn sie stirbt?“
„Wenn ich es nicht tue, stirbt sie mit Sicherheit. Sie ist einfach nicht kräftig genug, um Kinder zu bekommen! Ich bezweifle jedoch, daß sie nach dieser Geburt überhaupt noch einmal gebären kann.“, stellte Gladys traurig fest.
Eine neue Angst kroch in Mary hoch.
Wenn es ein Junge ist . . . dann wird sie sterben . . . Wenn es ein Mädchen ist und sie keine Kinder mehr bekommen kann . . . dann wird sie ebenfalls sterben.
Robert würde sie nur dulden, wenn seine Hoffnung auf einen männlichen Erben bestehen bliebe. Das hieß, das Kind durfte kein Junge sein! Und Gillian durfte nicht erfahren, dass sie vielleicht keine Kinder mehr bekommen konnte! Sie könnte es nicht vor ihm geheim halten. Ihr lag nur daran ihn von sich fernzuhalten, nicht aber, ihr Leben zu retten.
Gladys verabreichte Gillian eine verschwindend geringe Dosis des Morphiums, woraufhin diese nach einer Weile in einen unruhigen Schlaf fiel. Dann konnten sie nichts mehr tun . . . nur warten. Mary wies die Zimmermädchen an, ihnen Essen zu bringen, dann verließ sie Gillians Zimmer, um nach ihrem Sohn zu sehen.

Lucie kümmerte sich um den kleinen James, seit er mit Patrick aus Douglas zurück gekehrt war. Unter ihrer Aufsicht spielte er in der großen Küche mit kleinen Steinen und Bauklötzen, die sein Vater für ihn gesammelt und geschnitzt hatte. Als Mary die Küche betrat erhob er sich krähend auf seine stämmigen Beinchen und watschelte ihr entgegen. Trotz ihrer Anspannung mußte Mary lächeln. Während sie ihrem Kind seine Abendmahlzeit verabreichte, erschienen immer neue Bedienstete ihrem kleinen Zimmer und fragten nach dem Kind der Herrin. Ein trauriges Kopfschütteln war die einzige Antwort, die Mary ihnen geben konnte. Kaum hatte sie ihren Sohn wieder der Fürsorge von Lucie und ihren Küchenmädchen anvertraut, hastete sie zurück zum Haupthaus. Die Angst begleitete jeden ihrer Schritte und überfiel sie wie eine riesige Welle, als sie die Tür zu Gillians Zimmer öffnete. Was würde sie vorfinden? Doch in der knappen Stunde ihrer Abwesenheit hatte ich nicht das geringste verändert. Gladys schnarchte leise in einem der dunklen Sessel und Gillian lag noch immer in ihrem unnatürlichen Drogenschlaf. Mary registrierte zufrieden, dass man ihre Anweisungen befolgt und ein Tablett mit Obst und Brot heraufgebracht hatte. Doch sie verspürte keinen Appetit. Das kommandieren der Mädchen gab ihr lediglich etwas zu tun, um sie vom schlafen abzuhalten. Zu gut erinnerte sie sich an ihren Alptraum vor Patricias Geburt und die schrecklichen Ereignisse, die ihm folgten. Sie setzte sich ans Fenster und sah hinaus. Die Sonne hatte ihren Zenit bereits überschritten und strebte nun energisch dem Horizont entgegen. Sechs Stunden . . . und vielleicht noch einmal so viele, bevor sich etwas regte. Sie schickte nach einem Buch, doch als sie es sich neben der Leselampe bequem gemacht hatte und versuchte seinen Inhalt zu erfassen, glitten ihre Gedanken immer wieder ab. Unzufrieden warf sie es in eine Ecke und begann im Zimmer umher zu wandern. Sie ließ Fenster öffnen und wieder schließen, verlangte nach einem anderen Buch, das jedoch neben dem ersten landete, kaum das es aufgeschlagen war, versuchte ihren Widerwillen zu überwinden und etwas zu essen, gab es auf und schickte das Tablett in die Küche zurück . . . langsam, quälend langsam verging die Zeit . . .

„Halt sie fest! Der Kopf kommt!“
Mary bemühte sich den Anweisungen der Hebamme zu folgen, doch Gillian schien durch die Droge noch um einiges stärker geworden zu sein, als sie es bei Patricias Geburt gewesen war. Mit einer heftigen Bewegung ihres Oberkörpers schleuderte sie Mary zu Boden. Dann schlug sie wild um sich und fegte dabei einen der großen Kerzenständer von ihrem Nachtisch, die das Zimmer seit Sonnenuntergang erhellten. Acht Stunden hatten sie noch mit bangem Warten verbracht, bis die erlösenden letzten Wehen eingesetzt hatten. Nun offenbarte das Morphium ihnen sein schwarzes Antlitz, denn Gillian war rasend vor Schmerz, aber doch nicht bei Sinnen. Stöhnend kam Mary wieder auf die Beine und stürzte zu den am Boden liegenden Kerzen herüber, um zu verhindern, das der ganze Teppich Feuer fing. Das Kerzenlicht ließ das Zimmer noch unwirklicher und trostloser erscheinen, als es das Sonnenlicht getan hatte. Es erinnerte an die Kerzen, der Totenwache, an Einsamkeit, Stille und unaussprechliche Schrecken. Schaudernd wendete sich Mary von den flackernden schwarzen Schatten ab und versuchte erneut, Gillians unbändige Arme in ihre Gewalt zu bringen. Diese schrie noch einmal durchdringend, als der Kopf geboren wurde, dann versank sie in schwarzer Ohnmacht und ihre Arme und Beine fielen, wie tot auf ihr Lager zurück. Gladys beendete ihre Arbeit sicher und routiniert, auch ohne die Hilfe der Mutter. Mit leichtem Druck auf die Bauchdecke und einem unendlich vorsichtigen Griff um den zerbrechlichen Hals des Kindes, zog sie es auf die Welt.
„Es schreit nicht!“, dachte Mary panisch.
Doch dann gab Gladys dem Baby einen leichten Klaps auf den Hintern, und wie auf ein Kommando brüllte der kleine Säugling, als hätte er soeben die schlimmste Beleidigung seines jungen Lebens erfahren.
„Was ist es?“, fragte Mary zaghaft und betete um . . .
„Ein Mädchen.“, antwortete Gladys leichthin.
Sie hatte ja keine Ahnung! Mary atmete auf und die schwere Last der Angst löste sich von ihrem Herzen. Gillians Träume blieben weiterhin unerfüllt, doch immerhin rettete ihr dieses kleine, Wesen das Leben!
Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, wie Gillian sich langsam bewegte. Kam sie zu sich? Hatte sie nicht ihren Namen gerufen?
Mary eilte an ihr Lager und legte ihren Kopf neben Gillians bleiches Gesicht. Sie war wieder bei Bewußtsein, auch wenn ihre Pupillen noch zu vielsagenden Stecknadelköpfen zusammen gezogen waren.
„Mein . . . Sohn . . . wo?“, hauchte Gillian schwach.
Mary schloß kurz die Augen und bereitete sich darauf vor Gillians Hoffnungen ein weiteres Mal zu enttäuschen. Vielleicht würde sie es leichter ertragen, wenn sie begriff, das ihr Leben, mit einem Sohn, keinen Penny mehr wert war.
„Du hast eine Tochter, Gil.“, sagte sie ruhig.
Es war als entfesselte sie einen Sturm mit diesen wenigen Worten. Als wären sie die Lunte zu einem lange verborgenen Pulverfaß.
Ein langer, gräßlicher Schrei entrang sich Gillians Kehle. Mary fuhr entsetzt zurück.
Sie hatte sie nur einmal so verzweifelt schreien hören . . . als sie über Seans Leiche lag und ihr Leben verfluchte . . .
Wie eine Besessene warf sie sich auf ihrem Bett hin und her, während sie aus Leibeskräften schrie und fluchte. Doch dann hielt sie plötzlich mitten in ihrer Bewegung inne und schwieg. Mary und Gladys wagten nicht, sich zu rühren. Die Stille im Raum war greifbar und unheilsschwer . . . sie erstickte jedes Wort, jede Bewegung und ließ kein Gefühl zu, außer tiefschwarzer Angst. Mit einem Ruck warf Gillian ihren Kopf herum und starrte mit weit aufgerissenen Augen zur Kinderwiege hinüber. Schweiß und Blut rannen zwischen ihren Augenbrauen hinab und in ihrem Blick loderte das blutrünstige Feuer eines tollwütigen Tieres.
„ Nein . . . nein . . .nein!“
Mit einem schrillen Wutschrei stürzte sie sich auf die Wiege. Mary wußte kaum, wie ihr geschah, doch plötzlich strafften sich ihre Muskeln und sie stellte sich Gillian in den Weg, bereit das Leben in der Wiege mit dem ihrigen zu verteidigen. Eine ihr unbekannte Kraft strömte durch ihren Körper, als ihre Hand Gillians Wange traf und sie zurücktaumeln ließ. Auch Gillian taumelte vor Schmerz und Überraschung ihrem Bett entgegen, doch sie fiel nicht. Fassungslos befühlte sie ihr glühendes Gesicht. Wertvolle Sekunden, in denen Mary, von ihrer Angst beflügelt, das Kind aus seiner Wiege riß und Gladys in die Arme drückte.
„Weg hier! Bring sie weg hier!“, rief sie ihr in heller Panik zu.
Eilig schob sie die beiden aus dem Zimmer und warf die Tür hinter ihnen ins Schloß. Dann drehte sie sich ruckartig zu Gillian um, bereit jeden Angriff abzuwehren, um Gladys und das Kind zu beschützen. Doch Gillian stand einfach da, mitten im Zimmer und hielt sich die Wange. Dann drehte sie langsam den Kopf und sah Mary an. Sie sah, daß sie sich getäuscht hatte. Gillian war immer noch schön . . . nicht mehr naiv und zart, wie in ihrer Kindheit, sondern dunkel und mystisch. Das grüne, kalte Feuer ihrer Augen brannte, wie der Vorhof der Hölle und ihr rotes Haar loderte im Schein der Kerzen. Der Teufel entsandt seinen schönsten Todesengel, die Welt zu versuchen . . . vielleicht hatte Roberts sie doch schon unrettbar vergiftet. . .
Schwer atmend standen sie sich gegenüber und Mary wußte, sie würde ihre Tochter suchen und töten, wenn es ihr nicht gelang sie in diesem Zimmer fest zu halten, bis die Wirkung der Droge endgültig verflogen war.
„Geh . . .mir . . . aus . . . dem . . . Weg!“ keuchte Gillian leise, bedrohlich.
Marys Schultern strafften sich.
„Nein!“
Ein Segen, daß ihre Stimme nicht zitterte, wie ihr Körper, denn ansonsten hätte Gillian leichtes Spiel mit ihr gehabt. So jedoch fühlte sie neuen Mut durch ihre Adern branden, als sie in ihr erstauntes Gesicht sah.
„Ich werde nicht zulassen, daß du diesem armen Kind etwas zuleide tust.“
Gillian lächelte. Es war, als verhöhnte ein Totenschädel die Besucher seiner Gruft. Gillian war ein Dämon, eine weiße, blutverschmierte Gestalt mit dem wirren, verfilzten Haar einer Hexe, inmitten eines toten Raumes. Sogar die Kerzen erstarben langsam unter der Kälte, die von ihr ausging. Dann begann das Wesen, das einmal ihre Gillian gewesen war, zu sprechen und sogar seine schmeichelnde Stimme war dem Tod näher, als dem Leben.
„Natürlich Mary. Immer meine liebe Mary. Wann hättest du etwas unversucht gelassen, um meine Träume zu zerstören? Es muß so sein. Jedes Wesen braucht einen Gegner. Sonst macht das Spiel doch keinen Spaß, nicht wahr?“
Der Blick aus ihren riesigen, seelenlosen Augen schmerzte Mary mehr, als ihre Worte.
„Gil, das ist nicht wahr und das weißt du. Ich war nie gegen dich.“
Gillian lachte verächtlich auf.
„Ach nein?“, zischte sie scharf, „ Hast du mich nicht gehaßt, weil ich bei Sean mein Glück gefunden hatte, und bist deshalb gleich in die Arme deiner Mutter gerannt, als du die Gelegenheit hattest? Vielleicht hätten wir fliehen können, doch du wolltest es nicht, habe ich recht? Du wolltest mich leiden sehen! Und jetzt? Wohnst du nicht hier bei mir und hältst mir deinen perfekten Sohn und deine glückliche Ehe unter die Nase, bis ich fast daran erstickte?“, entsetzlich müde winkte sie ab, „ Oh nein, ich nehme es dir nicht übel, schließlich warst du immer ein jämmerlicher Niemand. Wie süß muß der Triumph für dich schmecken . . . ich würde auch gerne triumphieren, weißt du? Über meine Mutter, sagst du? Ja, das war ein Anfang . . . doch ich will sie alle vernichten . . . denkst du das ich böse bin? Ja, böse und häßlich, wie ein Geschwür. Und hier steht sie, meine schöne und gütige Mary, bereit meine unnütze Brut zu beschützen und meine Pläne ein weiteres Mal zu durchkreuzen. Doch ich bin es müde . . .“
Wie angewurzelt stand Mary vor der geschlossenen Tür und starrte Gillian an. Diese drehte sich jetzt langsam im Kreis und brabbelte wirr vor sich hin.
Wie konnte sie so etwas behaupten? . . . Wie konnte sie ihr so etwas unterstellen? . . .
Der tiefe Schmerz des Verstehens grub sich in ihr Herz und ließ sie leise aufstöhnen. Sie hatte ihre Freundin an die dunklen Kräfte des Wahnsinns verloren. Sie hatte bereits jeden Bezug zu ihrer Welt verloren 2*verloren!. Wie ein führerloses Boot wurde ihre Seele in die Tiefen des Vergessens gerissen. Sie konnte nichts mehr tun. Mutlos und geschlagen wandte sie sich der Tür zu und drehte den Knauf.
„Warte doch Mary! Ich bin noch nicht fertig mit dir!“
Entsetzt fuhr Mary herum und begegnete Gillians tollwütigem Blick. Eisige Angst lähmte ihre Glieder.
Langsam streckte Gillian ihre Arme aus und kam auf sie zu. Ihre Hände glichen entsetzlichen Klauen, blutig und gnadenlos.
„Was willst du von mir?“, fragte sie entsetzt.
Gillian legte den Kopf schief und sah sie unschuldig an.
„Nur, daß wir uns wieder vertragen, meine liebe Mary. Du warst wirklich böse, doch ich glaube, ich kann dir verzeihen. Hier nimm meine Hand!“
Sie konnte sich nicht rühren. Sie sah, wie Gillians Seele zerbrach und ihre Augen blicklos wurden. Leicht legten sich ihre steifen Finger an Marys zitterndes Gesicht und hinterließen eine Spur aus Blut, die sich mit Marys verzweifelten Tränen vermischte.
„So schön!“, hauchte Gillian tonlos, „ So schön . . . so jung . . . der Tod mag junges Blut, weißt du? Er nimmt sich, was er will . . . er ist die absolute Macht! Auch dich Mary . . . auch dich . . .“
Ein dunkler Schleier ging vor ihren Augen nieder. Ihre Glieder erschlafften und sie sank, irre kichernd, vor Mary zu Boden. Wie ein kleines Kind rollte sie sich zusammen und rührte sich nicht mehr. Mary wagte kaum zu atmen. Als sie sicher war, das Gillian endlich schlief, stürmte sie aus er Tür und blickte weder rechts noch links, bis sie ihr Zimmer erreicht hatte. Dort brach sie zusammen und weinte zitternd vor Angst und Schmerz.
 
C

Cuchulainn

Gast
Hallo Morrigan,

wo fange ich an? Am besten ich sage dir zuerst einmal, dass ich finde dass du eine sehr schöne Art zu schreiben hast. Aber… es gibt immer ein aber :eek:)… hatte ich dennoch große Probleme beim Lesen.

Es handelt sich hier ja um einen Auszug… Ich bin mir nicht sicher ob der nun mitten aus dem Geschehen gerissen wurde, oder einen Anfang darstellen soll…?

Hier habe ich mir jetzt die erste Seite geschnappt, und meine Gedanken dazu gekritzelt. Ich hoffe das geht in Ordnung.

Ein dichter Schwarm von winzigen Vögeln (würde es schön finden zu wissen was für Vögel es waren) erhob sich aus einem Baum in der Auffahrt, wogte für ein paar Sekunden unschlüssig über dem Dach des Küchentraktes hin und her, nur um sich dann wieder in den selben Ästen niederzulassen. (…des Küchentraktes hin und her, und ließ sich dann wieder in den selben Ästen nieder)

Mary betrachtete das Spiel der Vögel nun schon eine ganze Weile und manchmal erschien es ihr, als würden die kleinen, gefiederten Körper nur von ihren Gedanken aufgescheucht (das würde ich etwas genauer erklären). Wie lange war es her, das sie einen so geruhsamen Augenblick auf Carston erlebt hatte?

Zu lange . . . eine Ewigkeit! Seufzend löste sie sich von der Gesellschaft der Zugvögel, die sie nun bald verlassen würden, und machte sich auf den Weg zum Stall herüber (…und machte sich auf den Weg zum Stall, der friedlich in der goldenen…), der friedlich in der goldenen Oktobersonne schlief. Auch in den rotgoldenen Wein- und Efeuranken balgten sich die Vögel und der Hof war von ihren zarten Stimmen erfüllt.
In den langen Fluren des Stalls erwartete sie eine dumpfe Kälte und das freudige Wiehern ihrer hungrigen Schützlinge.

Robert hatte den Stall ausbauen und renovieren lassen, als sie nach dem Tod von Gillians Vater nach Carston zurückgekehrt waren. Gillian hatte darauf bestanden ihren Sohn und Erben hier zur Welt zu bringen und Robert hatte sie gehen lassen. Er hatte sogar erlaubt, daß Mary und ihre Familie, Gillian nach Carston begleiteten. Robert selbst bewirtschaftete zusätzlich weiter das Gut seiner Eltern in Kinsale und pendelte seitdem zwischen seinen beiden Wohnsitzen hin und her. (diesen Absatz finde ich sehr verwirrend und sehr schwierig, all diese Namen mit denen man gar nicht anfangen kann…Wäre dies hier eine eigenständige Geschichte würde ich ihn entweder ausbauen oder ganz streichen)

Während Mary Stroh und Hafer in den verschiedenen Boxen verteilte, dachte sie leicht wehmütig an den Tag zurück, als sie sich in die Arme dieser Dunkelheit geflüchtet hatte, um bei Gwendoline Trost zu suchen. Robert hatte die alte Stute inzwischen längst dem Messer des Metzgers übergeben, genau wie den größten Teil der fast alle anderen Pferde der Familie Carpenter (genau wie fast alle anderen Pferde der Familie Carpenter), um Platz für seine edle Zucht zu schaffen. Nur Azisa und ihr Fohlen hatten Gnade vor seinen Augen gefunden.
„Gillian hätte ihm auch eigenhändig den Kopf abgehackt, wenn er dir etwas angetan hätte.“ Schmeichelte sie der schönen Perserin, die ihr huldvoll den Kopf in die ausgestreckte Hand legte.



Beste Grüße
Chulainn
 

Morrigan

Mitglied
Hallihallohallöle!

Erst einmal danke für dein Lob - auch wenn ein aber folgte, damit kann ich leben;-)
Ansonsten hast du natürlich recht, die Handlung ist aus diesem kurzen Ausschnitt natürlich nicht zu erkennen - die Leseprobe war halt nur als Anhaltspunkt für den Stil und einige Personenkonstellationen gedacht. Was deine produktive Kritik angeht sage ich schon einmal brav danke scjön, muß aber leider gestehen, daß ich noch ncht dazu gekommen bin mehr damit zu tun, als sie nur zu überfliegen - Abistress;-) - werde aber bestimmt noch drüber nachdenken!
Liebe Grüße Morrigan
 



 
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