Konstantin Konstantinowitsch Rosenzweig löste seinen Blick von den Buchseiten, zwischen die er vertieft schien, schob die randlose Brille mit den dicken Gläsern auf die Stirn und rieb sich die Augen, als wollte er in die Gegenwart zurückschauen. Er schnäuzte sich lautstark und verpasste der aufgeschlagenen Buchseite ein Eselsohr. Dann begann er seinen nächtlichen Gang durch das bescheiden ausgestattete Zimmer der Dachgeschosswohnung. Er nannte sie sein "Himmelreich", wähnte er sich doch diesem - unerreichbar näher. Was er keineswegs hören mochte, war das Wort: Dach - wegen dieser verhängnisvollen, ergänzenden Silbe "Au", die ihm unvermeidlich in den Sinn kam. Es verletzte seine wunde Seele und tat ihr weh.
Sein Blick fiel auf die Lampe, den Messingständer und den graugelben Schirm aus Leder mit den herabhängenden Fransen. An gedörrte Därme musste er denken. Damals in Galizien - er war noch Kind - baumelten sie von Wäscheleinen, wenn ein... Schaf geschlachtet war, dienten getrocknet der Herstellung von Violinsaiten. Zigeuner brachten sie zum Klingen. Konstantin Konstantinowitsch hielt inne, glaubte sie zu hören, Klänge seiner Heimat, welche man ihm gestohlen hatte. Was hatten sie aus Därmen gemacht? Nein, diese ledernen Fransen stammten...von Opferlämmern.
Er betrachtete diesen Schirm misstrauisch. Aus wessen Lederhaut mochte er gespannt sein mit Flecken wie getrocknetes Blut? Er empfand Abneigung gegen die Lampe, schenkte ihr wiederum fast ehrfurchtsvolle Beachtung. Da war sein Schatten, den sie in den Raum warf. Er mochte ihn nicht, wandelnde Erscheinung seiner selbst, stets in Schwarz gekleidet warf sie sein Vergangenheitsbild, das er zu vergessen versucht hatte, auf Wände und Boden. Er schloss die Augen, wenn gelegentlich schwarzweiße Streifen auf seiner einst ausgemergelten Schattengestalt Form annahmen, der Stern Davids sich darauf im Totentanz wiegte. Dann beschleunigte er seine Schritte durch den kleinen Raum, zehn Schritte türwärts, zehn Schritte zurück zum Fenster mit den Gittersprossen. Er hätte auch zwanzig Schritte nehmen können, aber es waren zehn, wie damals in der mit menschlichen Körpern überfüllten Baracke.
Konstantin Konstantinowitsch wandte sich wieder seiner Lektüre zu, doch der Schatten verharrte vor seinem inneren Auge. Sollte er die Lampe löschen und mit ihr die Erinnerung? Das verbot ihm seine Ehrfurcht vor der Ungewissheit über ihre Herkunft und Entstehung.
Warum sind Schatten nicht bunt?, fragte er sich. Bunt wie das Leben, das sie damals in ihm zu ersticken versucht hatten.
Bilder gestreifter Jammergestalten taumelten beharrlich über seine innere Schaubühne und verloren sich, um wieder aufzutauchen.
Er saß gebeugt, das Kinn auf die Hände gestützt, und vertiefte sich weiter fragend in die Thora. Antworten fand er nicht, seine Augen streiften zwischen den heiligen Zeilen begleitet von Zweifeln.
So jung war er gewesen in den letzten Wochen vor Kriegsende, als man sie ins Lager pferchte. Schwarzer, übel riechender Rauch kräuselte sich täglich aus den Backsteinschornsteinen wie flatternde Schatten, die sich himmelwärts verloren und mit ihnen die Seelen derer, die man zum Duschen geführt hatte. Ja, zum Duschen gehen...hatte es geheißen. Vorbei an Öfen mit rostigen Klappen und hinter den Gestalten verlor sich die Rampe in der Ferne. Die Seife sei aus... Knochen gemacht, sagte man ihnen mit teuflischem Grinsen. Er "durfte" arbeiten, sich "Frei machen". So stand es über dem Tor. Danach trieb man sie zum Waschen, nicht zum Duschen. Das sei tödlich, sagten sie.
Er putzte seine Brille am schwarzen Samt - er besaß das Tuch noch immer -, als wollte er seinen Blick frei machen für die Lektüre dieser Nacht - jeder Nacht. Alles verwischen wollte er - was immer wieder vor ihm auftauchte und ihn quälte - mit dem löcherigen Stofffetzen, in den er so oft geweint hatte. Damals - um Sarah - seine kleine Schwester, wie sie ihm fröhlich zuwinkte an der Hand der Mutter auf dem Weg zum Duschen. Da hatte er in ahnungsvoller Erstarrung das Tuch zerrissen. Er vermochte nicht zu weinen. Schwarzer Rauch, der beißend den Blick verschleierte, ließ Tränen fließen, in denen seine Lieben ertranken, verblassten, doch fest verankert durch seine verzweifelte Seele irrten. Grauen hatte sie zerstört.
Konstantin Konstantinowitsch machte eine Handbewegung, als wollte er diese Scheußlichkeiten aus seinem Kopf verbannen. Er wiegte seinen Oberkörper stumm klagend rhythmisch vor und zurück, murmelte unverständliche Worte, schlug mit dem Schädel zwischen die Buchseiten, als wollte er die Gedanken zertrümmern. Er verfluchte die Heilige Schrift und haderte mit seinem Gott, falls es ihn gab. Hatte der ihn behütet - einziger Rosenzweig -, um ihn seinem Schatten zu überlassen und selbst die Auge geschlossen? Ja, Gott war blind, musste es gewesen sein.
Der Tag hatte sich längst aufgemacht. Die Lampe war erloschen. Sonne fiel ins Dachgeschoss. Konstantin Konstantinowitsch schälte sich aus seinem Sessel, in dem er eingeschlafen war, und wandte sich dem Bad zu. Er benutzte nur noch Flüssigseife - aus dem Ausland. Er begann sich zu rasieren, da hörte er sie, dumpfe Trommelklänge, Marschschritte. NPD stand auf ihren Fahnen. "Neue Pest Deutschlands", pflegte er sie zu nennen. Und er murmelte seinem Gesicht im Spiegel zu: "Gott ist gerecht!" Nein, ist er nicht, die unhörbare Antwort.
Und er wartete auf die nächste Nacht.
Sein Blick fiel auf die Lampe, den Messingständer und den graugelben Schirm aus Leder mit den herabhängenden Fransen. An gedörrte Därme musste er denken. Damals in Galizien - er war noch Kind - baumelten sie von Wäscheleinen, wenn ein... Schaf geschlachtet war, dienten getrocknet der Herstellung von Violinsaiten. Zigeuner brachten sie zum Klingen. Konstantin Konstantinowitsch hielt inne, glaubte sie zu hören, Klänge seiner Heimat, welche man ihm gestohlen hatte. Was hatten sie aus Därmen gemacht? Nein, diese ledernen Fransen stammten...von Opferlämmern.
Er betrachtete diesen Schirm misstrauisch. Aus wessen Lederhaut mochte er gespannt sein mit Flecken wie getrocknetes Blut? Er empfand Abneigung gegen die Lampe, schenkte ihr wiederum fast ehrfurchtsvolle Beachtung. Da war sein Schatten, den sie in den Raum warf. Er mochte ihn nicht, wandelnde Erscheinung seiner selbst, stets in Schwarz gekleidet warf sie sein Vergangenheitsbild, das er zu vergessen versucht hatte, auf Wände und Boden. Er schloss die Augen, wenn gelegentlich schwarzweiße Streifen auf seiner einst ausgemergelten Schattengestalt Form annahmen, der Stern Davids sich darauf im Totentanz wiegte. Dann beschleunigte er seine Schritte durch den kleinen Raum, zehn Schritte türwärts, zehn Schritte zurück zum Fenster mit den Gittersprossen. Er hätte auch zwanzig Schritte nehmen können, aber es waren zehn, wie damals in der mit menschlichen Körpern überfüllten Baracke.
Konstantin Konstantinowitsch wandte sich wieder seiner Lektüre zu, doch der Schatten verharrte vor seinem inneren Auge. Sollte er die Lampe löschen und mit ihr die Erinnerung? Das verbot ihm seine Ehrfurcht vor der Ungewissheit über ihre Herkunft und Entstehung.
Warum sind Schatten nicht bunt?, fragte er sich. Bunt wie das Leben, das sie damals in ihm zu ersticken versucht hatten.
Bilder gestreifter Jammergestalten taumelten beharrlich über seine innere Schaubühne und verloren sich, um wieder aufzutauchen.
Er saß gebeugt, das Kinn auf die Hände gestützt, und vertiefte sich weiter fragend in die Thora. Antworten fand er nicht, seine Augen streiften zwischen den heiligen Zeilen begleitet von Zweifeln.
So jung war er gewesen in den letzten Wochen vor Kriegsende, als man sie ins Lager pferchte. Schwarzer, übel riechender Rauch kräuselte sich täglich aus den Backsteinschornsteinen wie flatternde Schatten, die sich himmelwärts verloren und mit ihnen die Seelen derer, die man zum Duschen geführt hatte. Ja, zum Duschen gehen...hatte es geheißen. Vorbei an Öfen mit rostigen Klappen und hinter den Gestalten verlor sich die Rampe in der Ferne. Die Seife sei aus... Knochen gemacht, sagte man ihnen mit teuflischem Grinsen. Er "durfte" arbeiten, sich "Frei machen". So stand es über dem Tor. Danach trieb man sie zum Waschen, nicht zum Duschen. Das sei tödlich, sagten sie.
Er putzte seine Brille am schwarzen Samt - er besaß das Tuch noch immer -, als wollte er seinen Blick frei machen für die Lektüre dieser Nacht - jeder Nacht. Alles verwischen wollte er - was immer wieder vor ihm auftauchte und ihn quälte - mit dem löcherigen Stofffetzen, in den er so oft geweint hatte. Damals - um Sarah - seine kleine Schwester, wie sie ihm fröhlich zuwinkte an der Hand der Mutter auf dem Weg zum Duschen. Da hatte er in ahnungsvoller Erstarrung das Tuch zerrissen. Er vermochte nicht zu weinen. Schwarzer Rauch, der beißend den Blick verschleierte, ließ Tränen fließen, in denen seine Lieben ertranken, verblassten, doch fest verankert durch seine verzweifelte Seele irrten. Grauen hatte sie zerstört.
Konstantin Konstantinowitsch machte eine Handbewegung, als wollte er diese Scheußlichkeiten aus seinem Kopf verbannen. Er wiegte seinen Oberkörper stumm klagend rhythmisch vor und zurück, murmelte unverständliche Worte, schlug mit dem Schädel zwischen die Buchseiten, als wollte er die Gedanken zertrümmern. Er verfluchte die Heilige Schrift und haderte mit seinem Gott, falls es ihn gab. Hatte der ihn behütet - einziger Rosenzweig -, um ihn seinem Schatten zu überlassen und selbst die Auge geschlossen? Ja, Gott war blind, musste es gewesen sein.
Der Tag hatte sich längst aufgemacht. Die Lampe war erloschen. Sonne fiel ins Dachgeschoss. Konstantin Konstantinowitsch schälte sich aus seinem Sessel, in dem er eingeschlafen war, und wandte sich dem Bad zu. Er benutzte nur noch Flüssigseife - aus dem Ausland. Er begann sich zu rasieren, da hörte er sie, dumpfe Trommelklänge, Marschschritte. NPD stand auf ihren Fahnen. "Neue Pest Deutschlands", pflegte er sie zu nennen. Und er murmelte seinem Gesicht im Spiegel zu: "Gott ist gerecht!" Nein, ist er nicht, die unhörbare Antwort.
Und er wartete auf die nächste Nacht.