Rote Sonne, steig hinab

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NSchaefer

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Sie war groß. Ich meine wirklich groß – für eine Frau. Lange braune Haare, die sie mit einem hellen Haarband nach hinten schnürte.
Sie kleidete sich schlicht: ein langer grauer Rock, ein rotes Korsett und ein schwarzer Mantel mit Pelzbesatz.
Sie nähte. Wie jeden Tag saß sie auf ihrem kleinen Schemel am Bett – und nähte.
Sie war meine Mutter, aber draußen schien die Sonne.

Sie sitzt im Fliesenzimmer, dem schwarzweißen. Unser Hund schaut sie an und kommt dann doch zu mir gelaufen. Ihm ist wohl genauso langweilig wie mir. Also schaue ich mir den Sonnenuntergang an, der sich allmählich über unser Haus ergießt und stütze mich dabei ganz leicht auf das Fensterbrett.

Plötzlich ist es schwarz – Sonnenfinsternis, denke ich. Doch ich höre keine Geräusche mehr, kein Vogelgezwitscher, kein Hecheln des Hundes und kein Knautschen des Stoffes beim Nähen.
Langsam höre ich nicht einmal mehr mich selbst und denke, es ist ein schwarzes Loch, das uns alle verschluckt, uns voneinander trennen will, uns die Sprache, alle Töne stiehlt, damit wir uns aus den Ohren verlieren.

Langsam wird es wieder hell, heller, am hellsten. Das Steigern von Adjektiven habe ich gestern in der Schule gelernt.
Meine Mutter hält mich an beiden Beinen nach oben und schüttelt mich – heftig, heftiger, am heftigsten – als ich das Zimmer wieder erkenne.
Es ist dunkel geworden, aber ich habe noch immer keinen Vater.
Kopfüber sieht alles so ungewohnt unmenschlich aus. Meine Mutter, mit offenen Haaren, sieht schrecklich verstört aus.
Mein Blick saust vom roten Korsett meiner Mutter auf den Hund, der am Boden der Küche liegt und wimmert. Im-mer schneller, hin und her, bewegen sich meine Augen.
Die Fliesen in der Küche sind schwarz und rot, doch je öfter ich vom Korsett zum Hund schaue, desto schneller fär-ben sich auch die schwarzen Quadrate um ihn herum rot.
Schneeweißchen und Rosenrot ist mein Lieblingsmärchen.
Ich will in mein Zimmer gehen und schlafen, es ist ungemein kalt geworden, doch das Küchenmesser, das tropft und kleine rötliche Flecken auf meiner Haut hinterläßt, will ich dalassen.

Oben auf meinem Zimmer lege ich mich ins Bett und schlafe ein, tief, tiefer am tiefsten und denke noch:


Sie ist meine Mutter, aber draußen scheint die Sonne,
was ich jedoch erst bemerke als der Winter in der linken unteren Schublade meines Schreibtisches verschwindet.​


Und ich hinterher.


(07.12.1998)
 



 
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