Rotes Licht

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moehrle

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Rotes Licht

Der bittere Geschmack in seinem Mund war das Erste, was er bemerkte, als er wieder zu Bewußtsein kam. Uwe hielt die Augen geschlossen. Irgend etwas direkt in seiner Nähe stank erbärmlich nach Kotze und er befürchtete, dass er selbst es war.
Unmotiviert öffnete er seine Lider.
Sonnenstrahlen schossen in seine umnebelten Pupillen und ließen Lichtblitze vor seinen Augen tanzen, die ihn unwillkürlich an fahles Kneipenlicht erinnerten, dass sich in zerbrochenen Gläsern spiegelte. Der Kopf dröhnte.
„Wie spät ist es ?“, hörte er sich selbst murmeln, dabei hätte er nicht einmal mit Sicherheit sagen können, welcher Wochentag war.
Seine Hand fuhr zum Rücken, durch den plötzlich krampfartiger Schmerz zog und erst in diesem Moment, als die tanzenden Lichter verschwunden waren, wurde Uwe klar, dass er nicht wie er im Innersten erwartet hatte, irgendwo am Straßenrand in seinem eigenen Dreck lag, sondern umgeben von widerlich grüner Natur mitten auf einem Feldweg stand.
Nein, er stand nicht, er lief. Und hatte nur noch einen Schuh an.
Hätte ihn jemand gesehen, in diesem Augenblick, dann hätte er ihn für die völlig durchgeknallte Horrorversion eines Joggers gehalten.
Nachdem er es registriert hatte, dauerte es noch einige Zeit, bis er zum Stehen kam. Dann wurde ihm kalt und als ob das Laufen ihn wie eine Maschine in Bewegung gehalten hätte, brach er nun auf dem schmalen Schotterweg zusammen; ein stinkendes, verdrecktes menschliches Wrack.
Mit seinem Körper stürzte auch sein Verstand zurück in das schwarze Loch, aus dem er gekommen war. Irgend etwas in dieser Dunkelheit jedoch leuchtete schwach, wie eine Kerze hinter geschlossenen Fenstern und hielt Uwe davon ab, völlig fort zu driften. Das letzte Stück Bewußtsein, dass ihm geblieben war konzentrierte sich ausschließlich auf dieses flimmernde Licht in seinem Inneren, dass ihm etwas mitteilen wollte und trotzdem schwieg. Das Leuchten wurde heller und fing an zu flackern wie in einem Sturm, dann blähte es sich zu gigantischer Größe auf und nahm Uwes ganzen Verstand ein. Pulsierend und rot.
Aus einem Licht irgendwo im tiefsten Dunkel war eine alles umfassende, glühende Hölle geworden.
Schlagartig riß er die Augen auf, blickte sich hilflos um, ein paar Augenblicke lang unfähig, die Bäume und Sträucher um ihn herum mit seiner Sicht der Dinge in Einklang zu bringen.
Er sah an sich herab, betrachtete sein zerrissenes Hemd und seinen nicht vorhandenen Schuh, und alle Sinneseindrücke lösten sich in Fragen auf.
(Wo ? Wie ? Wann ? Warum ? Weshalb ? Rot ?)
Alles was er wußte war, dass er gestern zuviel gesoffen hatte. Oder vorgestern.
Und er wußte, dass es ein rotes, pulsierendes Etwas in ihm gab, dass mit ihm kommunizierte. Das ihm etwas mitteilen wollte.
(Was ?)


Ungläubig starrte Uwe auf seine rechte Hand. Spritzer getrockneten Blutes waren über Knöchel und Handrücken verteilt.
(Rot)
Ein paar Bilderfetzen rasten durch seinen Kopf, zu klein um etwas genaues zu erkennen, aber zu groß um die Ungeheuerlichkeiten abzustreiten, die sich in ihnen abspielten. Ungewisse Schuldgefühle trieben ihn auf die tauben Beine, die zitterten vor Kälte und Alkoholentzug.
Trotz der Schmerzen, die nun seinen ganzen Körper umfaßten, setzte er sich in Bewegung, das Rascheln des Kieses unter ihm und das Schnaufen seiner Atmung waren die einzigen Geräusche um ihn herum, doch in seinem Hirn herrschte ein schizophrenes Wirrwarr aus mysteriösen Fragen und noch mysteriöseren Bildausschnitten.
Der einzig bewußte Gedanke, den er hatte, war, zurück auf eine befahrene Straße zu kommen.
Während er den Weg entlang lief; teils joggend, teils torkelnd; formten sich in seinem Unterbewußtsein immer neuere Kreaturen des Wahnsinns, die sich ihren Weg nach oben bahnten.
Für Sekundenbruchteile konnte er sich selbst sehen, wütend, das Gesicht zu einer Maske verzogen, wie er vor einem Ladenfenster wütend gestikulierte, neben ihm ein dunkler, gedrungener Schatten.
Er fragte sich ob er jemanden verletzt haben könnte und sah verschämt hinab zu den Blutspuren auf seiner Hand.
(Mord ?)
War es möglich, dass er im Vollrausch jemanden ermordet hatte und dann hierhin geflohen war ?
Das hätte er selbst an einem seiner wenigen nüchternen Tagen nicht verneint. Er konnte sich einfach nicht erinnern und vielleicht wollte er es auch nicht. Das Bild verschwand wieder, als er in der Ferne das Geräusch fahrender Autos vernahm.
Als Uwe die Straße sah konnte er sich halbwegs orientieren.
Er war ein gutes Stück außerhalb der Stadt, wenn er diese Strecke wirklich gelaufen war, dann war es kein Wunder, dass seine Beine und sein Rücken schmerzten.
Uwe beschloß die Straße entlang Richtung Stadt zu laufen, ohne sich dabei Hoffnungen zu machen, dass ihn jemand mitnehmen würde. Als er jünger war, hatte er oft getrampt und konnte sich denken, wie gering die Chance war, dass jemand für einen heruntergekommenen, blutbeschmierten Suffkopp mit nur einem Schuh anhält.
Der Straßenlärm donnerte an seinen Ohren vorbei und als er die Bremslichter der Autos vor sich sah, die rot aufleuchteten, schlossen sie alles andere aus. Alles verschwand, nur die Bremslichter blieben und blinkten ihm zu. Unbewußt beschleunigte er seinen Schritt und folgte ihnen am Straßenrand.
Um ihn herum wurde alles rot und dann sah er sich wieder in einem kurzen Ausschnitt seiner Gedanken: Er stand in einer Telefonzelle und schrie in den Hörer. Er konnte nicht hören was er schrie, aber die Lippenbewegungen waren eindeutig. Sie waren bösartig.
(..ich werde...umbringen...nie mehr...verrecken...)
Dann nahm er den Hörer und schlug die Seitenscheibe der Zelle ein, die schlagartig von Tausenden kleinen Rissen durchzogen war.
Der Lärm der Autos und die Sicht kehrten zurück, als Uwe ins Wanken geriet und stehen bleiben mußte.
Niemals in seinem Leben hatte er sich so nach einem Drink gesehnt. Er wünschte sich den Geschmack eines Martinis herbei, obwohl der abgestandene Geschmack etlicher Drinks noch immer in seinem Mund herumgeisterte. Hatte er diesen Anruf wirklich gemacht ?
Vor allem, hatte er wirklich die Person angerufen, von der er glaubte, dass er es getan hatte ?
(...umbringen...verrecken...)
Wenn dem so war, dann wäre es für ihn schlimmer gewesen als ein Mord. Uwe stützte sich mit den Händen auf die Knie und atmete tief durch, was ihn dazu brachte zu husten wie es sich für einen starken Raucher und Alkoholiker gehört. Hatte er seine Letzte Chance vertan ?
Er hob leicht den Kopf und erblickte direkt vor sich zwei rote Lichter, die seinen Blick paralysierten. Er war sich sicher nun endgültig das letzte bißchen Verstand zu verlieren, dass ihm der Alkohol nach all den Jahren gelassen hatte und ein Teil von ihm sehnte diesen Zustand herbei. Wahrscheinlich sogar der stärkere Teil von ihm. Dann hupte etwas vor ihm.
Die roten Bremslichter, in die er gestarrt hatte, gehörten zu einem alten Golf, der ein paar Meter vor ihm am Straßenrand stand.
„Geht es ihnen gut ?“, hörte er eine Frauenstimme aus der Ferne rufen.
Sein Verstand war in bedrohliches Rot getaucht, das ihm zuflüsterte und ihn mit sich riß.
(...umbringen...rot...verrecken...rot...)
Als er wieder zu sich kam, fand sich Uwe auf dem Beifahrersitz des Golfs wieder. Er hatte endlich aufgehört zu zittern.
Neben ihm rauschten die Felder vorbei, über die er die Nacht zuvor getorkelt war.
„Haben ne´anstrengende Nacht hinter sich, was ?“, fragte die Frau neben ihm. Sie war etwas älter als er, hatte einen langen, blond-grauen Bauernzopf und ein einnehmendes Lächeln, das ihren Mund umspielte.
Sie wartete nicht bis Uwe antwortete.
„Sie sehen aus, wie mein Mann, wenn er von der Angeltour kommt.“
Die Frau lachte.
„Ich muss...“, begann Uwe den Satz, bevor er merkte, wie verdammt trocken seine Kehle war und er hart schluckte.
„Können sie mich mitnehmen ?“, fragte er, ohne zu merken, wie dämlich seine Frage war.
Die Frau lachte noch einmal.
„Vielleicht haben sie es noch nicht gemerkt, sie sitzen bereits und wir fahren. Wo müssen sie hin ?“
„Nach Hause. In die Stadt. Weil...“
(...das rote Licht es mir gesagt hat...)
Uwe brach den Satz ab und die Frau am Steuer fragte nicht weiter nach.
Den Rest der Fahrt lehnte er schweigend mit dem Kopf am Fenster und beobachtete, wie die Häuser der Stadt langsam näher kamen.
Als sie in der Innenstadt ankamen, bat Uwe ihn rauszulassen. Er bedankte sich artig und meinte es von ganzem Herzen. Sie sah ihn abschätzend an:
„Sie haben Hilfe gebraucht und ich hab Ihnen geholfen. Bei dem Bad, das sie nötig hätten, müssen sie sich allerdings selbst helfen.“
„Das schaff ich schon.“, versicherte er ihr zwinkernd.
Als sie winkend davonfuhr fühlte Uwe etwas, dass er an diesem Tag noch nicht einmal ansatzweise gefühlt hatte. Etwas, das man mit großem Wohlwollen als Hoffnung hätte bezeichnen können. Doch kaum dass der ramponierte Golf aus seinem Sichtfeld verschwunden war und er die vertrauten Straßen seiner Nachbarschaft wahrnahm, stellte sich wieder dieses ruhelose Gefühl ein.
(Rot)
Plötzlich war er absolut sicher, dass die Polizei vor seiner Wohnung auf ihn warten würde. Oder seine Ex, oder etwas noch Schlimmeres. Etwas, dass er sich lieber nicht ausmalen wollte.
Seine Beine trugen ihn von alleine stetig seinem Ziel zu.
(Martinis...nur einen...zum runterkommen)
An der Ampel, ganz in der Nähe seines Zuhauses, blieb er stehen. Er fixierte das rote Ampelmännchen und beachtete die Blicke der Menschen um sich herum nicht.
(Rot...stehenbleiben...rot...stehenbleiben)
Als das grüne Männchen das Rote ablöste, setzte sich Uwe mechanisch in Bewegung. Er bog um eine Häuserecke in seine Straße ein, fest in der Überzeugung einen Polizeiwagen vor dem Haus zu sehen. Oder mehrere.
Aber die Straße war leer. Nur zwei kleine, türkische Kinder spielten mit einem Tennisball auf dem Bürgersteig.
Uwe sah nach oben zu seinen Fenstern im zweiten Stock. Nachdem er schon über zwei Jahre hier wohnte, waren seine Fenster immer noch die einzigen ohne Gardinen.
Die Fenster glühten rot.
Jetzt war er sich sicher, was immer das Leuchten ihm mitteilen wollte, die Antwort würde er in seiner Wohnung finden.
In Gedanken sah er seine Ex-Frau blutüberströmt neben der Couch liegen. Alles um sie herum war in Rot getaucht. Uwe war keineswegs schockiert. Er war an einem Punkt in seinem Denken angelangt, an dem er alles für möglich hielt.
Er stocherte mit dem Haustürschlüssel im Schloß herum. Seine Hände schwitzten vor Nervosität. Dann war er im Treppenhaus.
Die Stufen bis zum zweiten Stock zogen sich ins Endlose.
Uwe wollte am liebsten panisch das Gebäude verlassen und zurück in die Felder fliehen, doch eine rohe Kraft zog ihn weiter nach oben.
Zitternd stand er schließlich vor seiner Wohnungstür. Durch den Türspion meinte er, im Innern ein rotes Leuchten erkennen zu können und er befürchtete, dass er sich beim Versuch, den Türknauf zu greifen verbrennen könnte. Erst als die Tür langsam aufglitt, merkte er, dass er bereits aufgeschlossen hatte und immer noch den Schlüssel in der Hand hielt.
Der Flur war so, wie er meinte ihn verlassen zu haben.
Er trat ein und machte Licht, schloß die Tür hinter sich und spähte nach links ins Wohnzimmer. Halb in der Gewißheit den Teppich voll Blut zu sehen, war er beruhigt, als er sah, dass dies nicht der Fall.
(Keine Polizei...keine Leiche...kein ROT)
Erleichtert seufzte Uwe.
Er marschierte auf seinen Spiritosenschrank zu, der neben der Couch stand. Wenn er sich heute keinen Drink verdient hatte, dann würde er mit dem Trinken wohl aufhören müssen.
Als er sich im Stehen einen Wodka einschenkte sackte sein Gesicht plötzlich in sich zusammen. Das halbvolle Glas stürzte auf den Teppich.
Er sah quer durch das Wohnzimmer zu seinem Telefon. Das rote Lämpchen des Anrufbeantworters starrte ihn zornig durch den Raum hinweg an.
Er trat näher und konnte lesen, dass eine Nachricht für ihn hinterlassen worden war.
(Die Polizei?...Ex-Frau?...Was?...Wer?)
Zitternd fuhr sein Arm nach vorne. Mit seinem blutbeschmierten Finger drückte er auf den Abspielknopf und die rote Lampe erlosch.
Was er dann hörte, war schlimmer als alles, was seine Phantasie sich jemals hätte ausmalen können. Die Stimme war so gewohnt und doch so fremd. Es war seine eigene.
Zuerst hörte er nur Grunzen. Dann plötzlich wildes Gebrüll:
„...wird dich umbringen. Lass es! Nie mehr, verstehst du, scheiß Alki ?! Willst du verrecken?!“, schrie seine eigene Stimme. Ein lautes Krachen von Glas beendete die Aufzeichnung.
Einen Moment schien Uwe unsicher, doch dann hatte er verstanden.
Er hatte das rote Licht vollkommen verstanden.

ENDE
 

knychen

Mitglied
gut beschriebenes erwachen aus dem delirium. bißchen langatmig vielleicht. jemand, der gerade durch eine ganz private hölle marschiert ist, bastelt nicht solch komplizierte sätze. ganz am anfang gab es ein stirnrunzeln.
[red]Sonnenstrahlen schossen in seine umnebelten Pupillen und ließen Lichtblitze vor seinen Augen tanzen, die ihn unwillkürlich an fahles Kneipenlicht erinnerten, dass sich in zerbrochenen Gläsern spiegelte.[/red]
was hat fahles kneipenlicht mit lichtblitzen zu tun?
testhalber würde ich die ganze geschichte zusammenstreichen und dann nochmal probelesen. vielleicht gewinnt sie ja dadurch.
p.s. passiert übrigens öfter als man denkt, daß sich leute im vollrausch selbst anrufen, um eine erkenntnis auf den eigenen anrufbeantworter zu sprechen. der wiedererkennungseffekt macht (mir) die geschichte sympathisch.
gruß knychen
 

Nieselregen

Mitglied
meine Meinung?

Hallo moehrle,
mir gefällt die Geschichte uneingeschränkt. Es ist ein quälend langer Weg aus der Bewustlosigkeit, über Zweifel und Hirngespinste bis hin zur Auflösung am Ende. Die Dramatik wird systematisch aufgebaut und gesteigert, genau wie die Spannung. Ich finde hier ist kein Satz zu viel.

Liebe Grüße
Nieselregen.
 



 
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