Rumpelstilzchen II

eli-fant

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Es war einmal ein Müller, der zwar nicht reich war, mit seinem Gewerbe aber doch seine Familie ernähren konnte.
Trotzdem war er nicht zufrieden mit dem, was er im Leben erreicht hatte und suchte nach einer Möglichkeit, sich Ansehen zu verschaffen.
Da traf es sich, daß er dem König begegnete und er sah eine Gelegenheit, sich hervorzutun.
Er sagte zum König:
"Ich habe eine Tochter, die Stroh zu Gold spinnen kann."
Der König, der ein habgieriger Mann war, horchte auf.
"Das ist eine Kunst, die mir gefällt," sagte er. "Bring deine Tochter unverzüglich in mein Schloß, ich will prüfen, ob du die Wahrheit sprichst."

So fand sich die Müllerstochter im Schloß ein und der König führte sie in eine Kammer, in der neben einem großen Haufen Stroh ein Spinnrad stand.
"Spinne dieses Stroh zu Gold," verlangte der König. "Wenn du bis Sonnenaufgang nicht damit fertig bist, werde ich dich töten lassen."
Dann versperrte er eigenhändig die Tür.
Die Müllerstochter war verzweifelt, da sie keine Möglichkeit sah, diese Aufgabe zu bewältigen.
Da stand plötzlich ein kleines, buckliges Männchen vor ihr und fragte sie:
"Warum weinst du?"
Sie erzählte es ihm und das Männchen wollte wissen:
"Was gibst du mir, wenn ich dir das Stroh zu Gold spinne?"
"Mein Halsband," antwortete die Müllerstochter.
Das Männchen nahm es und begann zu spinnen.

Als der König am Morgen sah, daß alles Stroh zu Gold gesponnen war, war er begeistert. Aber er war noch nicht zufrieden.
Am Abend brachte er die Müllerstochter in eine Kammer, in der sich ein noch größerer Strohhaufen befand.
"Spinne mir dieses Stroh zu Gold," sagte er,"oder du hast dein Leben verwirkt."
Da saß das Mädchen wieder und wußte nicht, was es tun sollte - bis abermals das bucklige Männchen erschien.
"Was gibst du mir diesmal, wenn ich die Arbeit für dich erledige?" fragte es.
"Meinen Ring," sagte das Mädchen.
Und das Männchen spann die ganze Nacht.

Als der König am nächsten Morgen das viele Gold erblickte, war sein Verlangen nach noch mehr Reichtum geweckt.
So sperrte er am Abend die Müllerstochter in einen großen Raum mit einem Berg voll Stroh darin.
"Wenn dir dein Leben lieb ist, dann spinne das alles zu Gold!" forderte er. "Gelingt es dir, so sollst du meine Frau werden."
"Ist es auch nur eine Müllerstochter," dachte er bei sich, "so finde ich doch weit und breit keine reichere Braut."
Gleich nachdem die Tür verschlossen war, erschien wieder das kleine Männchen.
"Ich habe nichts mehr, was ich dir geben könnte," sagte die Müllerstochter.
"Dann versprich mir, daß mir, sobald du Königin bist, dein erstes Kind gehören wird." verlangte es. "Hast du allerdings bis dahin herausgefunden, wie ich heiße, will ich darauf verzichten," setzte es listig hinzu.
"Daß ich Rumpelstilzchen heiße, wird sie nie herausfinden!" dachte er
Da ihr nichts anderes übrigblieb, willigte die Müllerstochter ein.

Bei Sonnenaufgang war alles Stroh zu Gold gesponnen und der König sagte zur Müllerstochter:
"Nun sollst du meine Frau werden!"
"Du hast doch wohl nicht alles Ernstes gedacht, daß ich das will," erwiderte das Mädchen. "Nie und nimmer werde ich dich heiraten!"
Einige Augenblicke herrschte Totenstille.
"Wie bitte?" stammelte der König.
"Ich habe gesagt, daß ich dich nicht heiraten werde," erklärte die Müllerstochter. "Niemals!"
"Aber... Aber das darfst du nicht sagen!" Die Stimme des Königs wurde lauter und bekam einen hysterischen Unterton.
"Wir sind doch im Märchen! Du mußt erröten und flüstern: "Von Herzen gern will ich deine Frau werden!" Und dann feiern wir ein Hochzeitsfest, das sieben Tage dauert und am Schluß muß es heißen:
- Und sie lebten glücklich bis an ihr Ende - "

"Pah!" sagte die Müllerstochter. "Glücklich bis an mein Ende? Mit dir? Daß ich nicht lache! Hast du wirklich erwartet, ich würde einen Mann heiraten, der mich noch gestern ohne Skrupel hätte töten lassen? Für wie naiv hältst du mich eigentlich?"
"Aber es ist unerheblich, was du willst," erklärte der König und versuchte, seiner Stimme, die etwas zitterte, einen majestätischen Klang zu verleihen. "Du mußt einfach! Weil ich will. Ich bestimme, denn ICH BIN DER KÖNIG!"
"Na und?" erwiderte die Müllerstochter. Und ich bin eine Müllerstochter! Was hast du schon dafür getan, König zu werden? Nichts. Du hattest zufällig einen Vater, der König war, genauso wie mein Vater eben Müller ist. Wo ist da der Unterschied?
Und deine Frau werde ich auf keinen Fall. Wahrscheinlich werde ich überhaupt nie heiraten.
Ich habe nämlich die Nase voll von Männern:
Erst mein Vater, der mich dir ohne Gewissensbisse ausgeliefert hat, nur um sich wichtig zu machen, dann dieser gräßliche kleine Kerl, der mir beim Spinnen geholfen hat, bloß um mir meine Wertsachen abzunehmen und dann du, der mich ebenfalls nur für seine Zwecke ausgenutzt hat... Mir reicht's!"
Die Müllerstochter hatte sich in Rage geredet.
"Und noch etwas werde ich dir sagen:
Du hast es dir, seit du auf dem Thron sitzt, ausgesprochen gutgehen lassen - übrigens auf Kosten deiner Untertanen, von denen viele kaum das Nötigste haben - und das ausschweifende Leben sieht man dir an. Du bist dick und bequem. Ein junges, hübsches Mädchen wie ich will doch keinen schwabbligen Fettwanst zum Mann!
So, und jetzt gehe ich!"
Die Müllerstochter ging mit raschen Schritten und erhobenem Kopf aus dem Thronsaal.

Der König hätte die Wachen rufen und sie in den Kerker werfen lassen können, doch er war vor Verblüffung nicht fähig dazu. Er machte den Mund auf und klappte ihn, weil er keinen Ton herausbrachte, wieder zu.
Die Müllerstochter ging durch das Schloß und den Schloßpark, aus der Stadt hinaus und in die große weite Welt.
Wir wissen nicht, wie es ihr dort ergangen ist.

Der König starrte vor sich hin.
Als ihm der Nachmittagskaffee serviert wurde, schob er Tassen, Kännchen, Teller und Platten weit von sich.
Ihm war schlecht.
Und dann schaute er über Cremetörtchen und Windbeutel hinweg aus dem Fenster.
Er begann nachzudenken. Darüber, was es heißt, König zu sein, Untertanen zu haben und Macht auszuüben.
Wahrscheinlich wurde er wenig später vom Duft des Abendessens, der aus der Schloßküche in den Thronsaal drang, abgelenkt und aus seinen Gedankengängen gerissen, denn er hatte nicht viel Übung im Nachdenken.
Doch falls nicht - wer weiß - vielleicht ist dann mit der Zeit ein richtig verantwortungsvoller und gerechter Herrscher aus ihm geworden.
 
R

Rote Socke

Gast
Hi eli

Zweierlei fiel mir auf.

Von der Message her gesehen, also Betrachtungsweise über die herrschende Klasse, finde ich die Geschichte gelungen und regt zum Nachdenken an. Ein wenig mehr Kürze betreff der bekannten Märchenpassage am Anfang wäre vielleicht günstiger.

Übrigens, wenn Du noch eine andere Variante schreiben willst, dann beteilige Dich doch im Forum Schreibwerkstatt unter Fingerübungen an der Aufgabe. Schau mal rein.

Schöne Grüße
Volkmar
 



 
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