Ruths Heimkehr

Klemmy

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Ruths Heimkehr

"Lauf Ruth, dein Zug fährt gleich Kindchen!" rief Mama.
Meine Zöpfe flogen fast vom Kopf, als ich hinter ihr den Bahnsteig entlang lief.
Vor dem Zugabteil drückte sie mir mein graues Pappköfferchen in die Hand. Im anderen Arm hielt ich meinen geliebten Teddy; der einzige, der mich auf meiner langen Reise begleiten würde. Von Berlin nach Hamburg und von dort mit einem riesigen Schiff nach Amerika.
Gut, daß ich Teddy dabei hatte.

Mama küßte mich ganz sanft. Als ich ihr einen Kuß auf die Wange gab, schmeckte ihr Gesicht so merkwürdig nach Salz.
Papa umarmte mich, als hätte er die ganze Welt im Arm und wollte sie nie wieder loslassen. "Sei brav, kleine Ruth, wir kommen bald nach. Ganz bestimmt!"

Mama rückte mir noch einmal mein Pappschild, daß an einer Paketschnur um meinen Hals hing, zurecht. Auf der einen Seite des Schildchens stand mein Name: Ruth Stein, und auf der anderen Seite war die Anschrift meines Onkels und meiner Tante geschrieben: Mr. und Mrs. Joshua Stone, Michigan. Onkel Joshua war ein Vetter von Papa. Ich hatte ihn und Tante Magan noch nie gesehen.
Papa hatte viel von seinen fernen Verwandten erzählt. Onkel Joshua war schon vor langer Zeit nach Amerika ausgewandert. Papas sollte damals eigentlich mit seiner Familie mitgehen. Doch die Eltern wollten lieber hierbleiben, hier bei den Großeltern Blumenthal, die neben uns wohnten. Und außerdem hatte Papa gerade seine Praxis eröffnet. Er war nämlich Arzt. Ein hellglänzendes Messingschild schmückte unsere Haustüre:
Dr. David Stein - Kinderarzt.
Alle Kinder aus meiner Schule kamen zu Papa, wenn sie krank waren.

Es war eine schöne Zeit in Berlin, voller Lachen und Leben, mit Festen und Beisammensein mit Freunden und Verwandten.
Einmal abends hörte ich ein paar Gesprächsfetzen mit. Mama und Papa hatten Besuch von Freunden. Auch unsere Nachbarin war da. Eine echte Gräfin; sie hieß Frau von Dohrenbeck. Ich hörte, wie Papa zu ihr sagte: "Es ist besser für Ruth, es muß sein." Dann noch irgend etwas von "Sicherheit" und "schlimme Zeiten". Ich hatte das damals nicht so ganz verstanden.
Ein paar Tage später erklärte mir Mama, daß ich jetzt nach Amerika auf Besuch fahren würde. Sie selber könnten noch nicht mitkommen, weil der Großvater sehr krank sei und man ihn jetzt nicht allein lassen könne. Großvater hütete schon seit einigen Wochen das Bett. Wenn ich ihn besuchen ging, mußte ich immer ganz leise sein: "Pst, Ruth, weck ihn nicht auf", flüsterte die Großmutter. Ganz still und regungslos saß ich dann an seinem Bett.

Es wurde mit der Zeit alles ganz anders. Papa und Mama lachten kaum noch. Über Papas Gesicht zogen sich tiefe Falten, und Mamas Augen verloren ihren lustigen Glanz. Was war nur der Grund dafür? Ich vielleicht? Aber ich war doch immer brav und lieb.

Und nun war es soweit. Ich fuhr nach Amerika. Ich lehnte mich noch einmal aus dem Zugfenster und winkte meinen Eltern zu. Mama schwenkte ihr weißes Taschentüchlein: "Bis bald, kleine Ruth! Bis bald!"
Die Eltern wurden kleiner und kleiner. Dann sah ich nur noch das Taschentüchlein im Wind flattern.
Das sollte das Letzte sein, was ich jemals wieder von meinen Eltern sah.

Zwei Jahre vergingen in Michigan. Tange Magan und Onkel Joshua waren die liebsten Menschen, die ich kannte. Natürlich außer Mama und Papa und den Großeltern. Fast jeden Morgen kam ein Brief aus Berlin. Onkel Joshua tröstete mich und erzählte mir, daß die Eltern bestimmt bald kommen würden.
Wie sollte ich mit meinen elf Jahren auch verstehen, was inzwischen geschehen war. Seit einem Jahr tobte in Europa ein schrecklicher Krieg. Ein Mann namens Hitler wollte wohl die ganze Welt erobern. Deswegen könnten Papa und Mama nicht aus Deutschland weg, sagte Onkel Josh.
Bald darauf starb mein geliebter Großvater.
Ein paar Monate später kamen keine Briefe mehr von meinen Eltern. Dafür schrieb die Gräfin einen langen Brief an Onkel Josh. Erst sehr viel später habe ich verstanden, was die gute Gräfin mitgeteilt hatte. Onkel Joshua las den Brief Tante Magan vor. Was das Wort "Deportation" hieß, wußte ich nicht. Mama, Papa und meine alte Großmutter Blumenthal seien deportiert worden. So hieß es jedenfalls in dem Brief. Man wisse nicht genau, wohin.
Später kamen auch keine Briefe mehr von der Gräfin. Alle Post, die wir nach Deutschland schickten, blieb unbeantwortet.

Als der Krieg Jahre später zu Ende war, versuchten Onkel und Tante Stone durch das Rote Kreuz etwas über die Gräfin zu erfahren. Doch alle Suchaktionen blieben ohne Erfolg. Niemand wußte etwas von der Familie Stein aus Berlin. Niemand konnte sagen, wo meine Eltern und meine Großmutter waren und ob sie den Krieg überlebt hatten.
Inzwischen wußte ich, was mein Vater mit "Sicherheit für Ruth" gemeint hatte.
Für Juden gab es damals in Deutschland keinen Ort, an dem sie sicher gewesen wären. Ach, wären sie doch nur mitgekommen nach Amerika. Onkel Joshua sagte mir, daß die Eltern es nicht übers Herz gebracht hätten, die alten Großeltern allein zurückzulassen. Großvater hätte die lange Reise nicht mehr antreten können.
Aber wenigsten mich hätten sie schützen wollen.

Das alles ist nun schon sehr lange her.
Wieder stehe ich auf dem Bahnhof in Berlin. Eigentlich wollte ich nie wieder diesen Boden betreten. Doch mein Enkel David bat mich, ihn zu begleiten. Er wünschte sich so sehr, einmal die Heimat seiner Vorfahren zu sehen.
David ist wie mein Papa Arzt geworden. Er hat viel von seinem Urgroßvater, er sieht ebenso gut aus wie mein Papa. Er hat die gleiche markante Nase, die großen Ohren, die gütigen Augen und das gleiche verschmitzte Lächeln im Gesicht. Er ist ehrgeizig, zielstrebig und klug, ganz wie sein Urgroßvater. Ich konnte Davids Wunsch nicht abschlagen, einmal nach Berlin zu reisen, um den Spuren seines Urgroßvaters nachzugehen; einmal zu fühlen, wie er gedacht und gelebt hatte.
Uns beiden, meinem Enkel David und mir, tut die Vergangenheit weh. Vergessenes wird wieder erinnert. Welche Gefühle spüre ich in mir? Haß und Rache? Nein. Trauer, unendliche Trauer. Auch nach so vielen Jahren noch.
Das Grab der Gräfin haben wir auf einem Friedhof in Berlin-Zehlendorf gefunden. David und ich haben einen Stein auf ihr Grab gelegt.

Die Tage in Berlin haben mich leergebrannt. Ich möchte nur noch nach Hause.
Wieder stehe ich auf dem Bahnhof in Berlin. Diesmal ohne Teddy und Pappschild um den Hals. Ich habe aber David bei mir, meinen großen starken Enkelsohn. Er gibt mir Halt und Geborgenheit auf der langen beschwerlichen Reise nach Hause, nach Hause in die Sicherheit.

© Monika A.E. Klemmstein
 
Hallo Klemmy,

diese bittere Geschichte aus der Sicht eines Kindes klang für mich nach einer autobiographischen Erinnerung. Bei aller Anteilnahme für das Schicksal fand ich das jüdische (alttestamentarische) Element durch viele eindeutige Namen fast zu betont. Damit will ich sagen, ein Leser, der sich in solche Geschichten hineinliest, versteht den Kontext auch ohne diese „versteckten“ Hinweise. Es ist eine hohe Kunst aus Sicht eines Kindes die Greuel darzustellen, auch wenn sie von ihm nur indirekt wahrgenommen werden.
„Seit einem Jahr tobte in Europa ein schrecklicher Krieg. Ein Mann namens Hitler wollte wohl [[das „wohl“ würde ich streichen]] die ganze Welt erobern.“Ja, so könnte es ein kluges Kind sagen.

Ich las dann im Profil, dass du Ende der vierziger Jahre geboren bist, während die Protagonistin Ende der zwanziger Jahre geboren ist. Also die Elterngeneration aus Sicht der Autorin. Es ist mithin keine autobiographische Geschichte. Warum aber zielst du als Autorin auf diese Wirkung ab? Das ist durchaus legitim, aber was folgt daraus?

Eine Geschichte mit ehrenwertem Anliegen.

Liebe Grüße

Monfou
 

Klemmy

Mitglied
Beim Schreiben dieser Geschichte bin ich in die Haut der Ruth geschlüpft, habe mir ihr gelitten und geweint, habe die Angst und den Verlust empfunden. Wie einen Film sah ich das Leben dieser Familie vor mir ablaufen und war plötzlich mittendrin.
Den Namen des Großenkels David habe ich mir von meinem eigenen Enkel David kurzerhand ausgeliehen, obwohl mein Enkel und alle meine Familienmitglieder in der christlichen Kultur aufgewachsen sind und der christlichen Kirche angehören.
 



 
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