S-Bahn-Surfen

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Nicky_H

Mitglied
S-Bahn-Surfen ist geil. Klar, auch gefährlich. Aber, he, Alter, gestern hat mich so'n Scheißtyp vorm Kaufhaus abgezogen und auf'n Weg hierher hätte mich bald 'ne Horde Skins plattgemacht. Auch nicht gerade ein Hort der Sicherheit, das Leben sonst.
Haste mal 'ne Tüte, Alter? Nee? Fuck! Komm, wir fahren zum Corner Hermannstraße. Die anderen sind bestimmt schon dort.
Wohnst noch nicht lange in Berlin, hä? Hab dich das erste mal in der C-Base gesehen, auf der Bühne. Geiler Sound, Alter, aus eurer Band wird mal was.
Scheiße, diese Strecke ist einfach nur Scheiße. Die setzen nur noch neue Bahnen ein. Mit diesen Türen ohne gescheitem Griff und so. He, Mann, auf dieser Strecke ist nüscht mehr los. Die Crews gehen mehr auf die alten Strecken. Da pulsiert das Leben. Können ja morgen mal 'ne Tour machen.
Du bist noch nie gesurft? Klar, bei euch gibt's ja keine S-Bahnen. He, witzig, so'n Kaff, bei dem man's zu Fuß am Vormittag von einem Ende zum anderen schafft. Naja, möchte trotzdem nicht tauschen. Mir gefällt's hier. Dir wird's auch bald gefallen.
Wenn du nicht willst, dann laß es mit dem Surfen. Bringt nix, wenn die Schiss zu groß ist. Macht man nur Fehler, echt, Alter. Man hat nur 'n kleinen Halt. Wenn man den verliert, ist's aus.
Ich hab's mehr oder weniger von Micro gelernt. Der hat mich mitgerissen. Von einigen Sachen lasse ich aber auch die Finger. Dieses Hangeln von einer Tür zur anderen - nicht mein Ding, Alter.
Ich laß mich lieber abhängen, genieße die Fahrt. Ist echt 'n tolles Gefühl.
S-Bahn-Surfen ist wie das Leben irgendwie, nur schneller. Der Fahrtwind zerrt an dir und unter dir donnern die Räder. Ein irrer Sound. Du mußt schnell sein, wach, darfst den richtigen Zeitpunkt zum Reingehen nicht verpassen. Pfeiler, Sträucher, Stromschienen und so, beim Hangeln biste da nur in Action.
Drinnen schimpfen sie manchmal. "Laß das, du kommst noch um dabei!" oder "Verdammter Rotzbengel, geh lieber arbeiten!"
Echt, Alter, ich kann's nicht mehr hören. Sonst schert sich auch keine Sau. Aber großen Rabatz machen, wenn man draußen mitfährt! Dabei lassen sie uns doch sonst auch immer draußen stehen. Arbeiten, wenn ich das schon höre! Wo denn? Ich könnte kotzen!
Am geilsten ist's, wenn die ganze Crew einen Zug entert. Du hängst draußen und siehst die Leute vor dir und hinter dir, die teilweise irre Action machen. Klasse Feeling, sag ich dir. Es ist, als könne man die Leute da drin mitreißen, den ganzen Zug zum Partywagen machen. Bei 'ner Crew rühren die sich alle nicht mehr, da hört auch das Gezeter auf. Die gucken bloß noch, manchen kann man ansehen, dass sie's Klasse finden.
Einmal haben wir gesehen, wie sich so'n Mütterchen bekreuzigt und gebetet hat. He, Alter, wir haben so gelacht! Wann hat man das schon mal, dass einer für einen betet? Sonst guckt einen keiner auch nur mit'm Arsch an.
Micro ist immer erst kurz vor Ultimo reingegangen. Mann, die alten Bahnhöfe, wo die Mauern noch bis zur Bahnsteigkante vorgezogen sind - da musste aufpassen, sonst biste platt. Micro hat's immer auf die letzte Sekunde rausgezögert. Ich war manchmal froh, wenn ein paar Leute zwischen ihm und mir waren, denn zum Hinsehen war das nüscht.
Nee, Micro wird heut nicht da sein. Den kannste nicht mehr kennenlernen, der ist tot. Nee, nicht wegen der Surferei. Hat sich das Leben genommen. Ist nun fast schon 'n Jahr her. Fuck!
Frag mich nicht, warum. Keine Ahnung. Micro war 'n bisschen komisch in der Zeit, bevor das passierte. Wollte aber nicht mit der Sprache raus.
An seinen Alten konnte es nicht liegen, dachten wir. Mit denen war er lange fertig. Kroatische Aussiedler. Die Mutter war Putze und ständig auf Achse, der Vater bekam 'ne Hauswartstelle und soff. Die hatten keinen Nerv auf Micro. Kannten sich nicht aus.
Fast hätten sie ihn nicht zur Schule angemeldet. Solche Dinge machte später entweder Micro selbst oder keiner.
Als der Krieg da unten losging, bekam sein Alter auf einmal 'n Patriotischen und er wollte zurück. War nicht Micros Ding, schätze ich mal. Ob's das war, weiß ich nicht. Jedenfalls hängte er sich auf.
Nee, wir waren nicht zur Beerdigung. War uns nüscht, dort seine Alten zu treffen und dann dieses ganze Ritual und womöglich noch Fragen, was wir dort zu suchen hätten. Wahrscheinlich hätten sie uns eh draußen stehen lassen.
Wir sind einen Tag später ans Grab gegangen. Haben seine Schwester dort getroffen. Als wir sagten, dass wir Freunde seien, fiel sie in Ohnmacht. Konnte sie gerade noch auffangen. Da lag sie dann und keiner traute sich, irgendwas zu tun. Aber sie kam bald wieder zu sich und das war irgendwie noch schlimmer. Erzählte, dass sie vor 'nem Jahr geheiratet hätte. Hatte ihn nachholen wollen, weg von den Alten, nach Falkensee. Er hätte vielleicht im Laden des Schwagers jobben können. So war's abgesprochen. Aber dann kam ein Kind, wie das eben so geht... Sie machte sich Vorwürfe.
Jesus, wir hätten lieber zur Beerdigung gehen sollen. Die Frau heulte Rotz und Wasser. Sie hat ihn wirklich geliebt.
Was tatsächlich war, weiß keiner. Vielleicht hat sie ja Recht und er hatte die Hoffnung aufgegeben, nachziehen zu können. Keine Ahnung. Leben ist wie Surfen irgendwie. Man hat nur 'n kleinen Halt. Wenn man den verliert, ist's aus.
He, Alter, nächste müssen wir raus. Mal sehen, ob die anderen schon am Corner sind.
 
K

kaffeehausintellektuelle

Gast
hallo nicky

ich muss sagen, diese geschichte hat mich total gefesselt und ich konnte nicht aufhören zu lesen.
temporeich und die sprache passt zum inhalt. nix mit wahrer wort wert und so. sehr lebendig ist die sprache und du beschreibst einfach sehr authentisch dieses gefühl aus der sicht des s-bahn surfers, ich konnte ihn/sie richtig spüren.
gut gefallen hat mir auch der schluss. erst der vergleich mit dem leben, wenn man keinen halt hat, dann ist es aus. damit lässt du den leser aber nicht zurück, sondern das leben geht weiter, nämlich am corner, mit den anderen, mit der crew.

einzig ein bisschen irritiert hat mich, dass du nicht schreibst so'n scheißtyp, sondern diesen strich dazwischen, den brauchts nicht. aber das ist eh nur eine kleinigkeit.

wie gesagt, du hast mich beeindruckt, das schaffen nur wenige hier.

die k.
 

Nicky_H

Mitglied
Hallo K.,

vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren. Ui, da werde ich ja ganz rot.
Ja, die Striche, weiß der Henker, wie die da reingekommen sind. In der Vorschau sah es noch ganz normal aus. Ich habe es nun noch mal editiert und hoffe, ich habe alle Slashes erwischt. Wahrscheinlich hatte das was mit der PHP-Umwandlung zu tun. Vorher war es leider nicht zu bemerken, erst nach der Freisschaltung waren die drin.
Danke, dass Du Dich trotz dieser Lesebehinderung durchgekämpft hast.

Viele Grüße
Nicky
 
Hi Nicky !
Deine Geschichte ist so rasant und temporeich geschrieben wie das S-Bahn fahren an für sich selbst ! Es erinnert mich ein wenig an den Schreibstil von Nick McDonell. Der Vergleich mit dem wahren Leben ist gut getroffen finde ich.
Den Halt den jeder Mensch im Leben braucht, ohne den Micro vermutlich einfach nicht mehr weiterleben konnte. Sehr tragisch !


Ciao
 

Nicky_H

Mitglied
Hallo Perlentaucherin,

vielen Dank fürs Lesen. Ich freue mich, dass es gefällt, hatte schon die Befürchtung, dass es wegen des zeitlichen Bezugs als inaktuell eingestuft wird. Wahrscheinlich ist es der von Dir angesprochene Vergleich, der das wieder rausreißt.
Nick McDonell kenne ich nicht, hast Du da vielleicht einen Tip? Was schreibt der so?

Viele Grüße
Nicky
 
Hi Nicky !
Nick McDonell ist st ein amerikanischer Autor, der seinen Debütroman mit siebzehn Jahren geschrieben hat.
In seinem Buch geht es um die Hauptfigur White Mike,einen Drogendealer. Seine Kunden sind High-School-Schüler,die in den Weihnachtsferien gegen die Langeweile kämpfen,während ihre reichen Eltern im Urlaub oder auf Geschäftsreisen sind.Die größte Party aller Zeiten soll an Silvester stattfinden, und bis dahin hat White Mike noch einiges zu tun.( laut der New York Times ) Der Autor erzählt seine Geschichte in einem genauso schnellen Tempo.

Viele Grüße zurück
 

Rainer

Mitglied
hallo in die runde,

also, wenn das buch vielleicht auch nur zu 90 % so gut ist wie der text hier, wüßte ich gern den titel.

viele grüße

rainer (*zählt schon mal das geld fürs buch*)
 

Nicky_H

Mitglied
Hallo Perlentaucherin,

vielen Dank für den Tipp. Ich glaube, das könnte mich interessieren. Das Setting macht mich dann wieder etwas skeptisch, weil reiche Leute eigentlich nicht so mein Thema sind, aber ich notiere den mal zum weiteren Beschnuppern und drüber informieren.


Hallo Rainer,

ein Buch gibt es nicht. :D
In Wirklichkeit habe ich eine monströse Schreibblockade und seit einiger Zeit nichts Vorzeigbares mehr auf die Reihe gebracht. Außer Sachartikeln freilich, aber ich würde lieber gerne wieder in Geschichtenschreibrausch verfallen. Ich glaube fast, ich habe es inzwischen verlernt. Eigentlich bin ich auch nur deswegen hier, ich dachte, ich könnte mir Anstöße z.B. bei den Schreibaufgaben holen. Aber man muss hier ja erst ein Werk reinstellen, damit man freigeschaltet wird. Insofern vielleicht nicht ganz fair, hier was "Abgelaufenes" anzubieten, aber die Verzweiflung trieb mich.

Viele Grüße
Nicky
 

Andrea

Mitglied
So recht überzeugen kann mich der Text nicht. Liegt vermutlich aber daran, daß ich mit "Mundart"-Texten wenig anfangen kann, vor allem mit Ich-Erzähler.

Hier irritiert mich außerdem der ständige Wechsel zwischen emphatischem Schwärmen über das ach so geile Gefühl des Surfens und dem tiefgreifend-philosophischen Gejammer über die Verlorenheit in der Welt. Außerdem find ich das Ohnmachtsfallen etwas übertrieben.
Soweit inhaltlich.

Sprachlich zum einen ein Kompliment, wie konsequent durch den Stil durchgehalten hast. Wem es gefällt, muß begeistert sein. Bei mir war aber schon beim zweiten "Alter" und "Fuck" Schluß. Eine Frage noch: heißt es im Berlinerischen echt "die Schiss" und "nicht"? Weil: bei uns heißt es nämlich "der Schiss" und definitiv "nich". Nur interessehalber.
 

Nicky_H

Mitglied
Hallo Andrea,

vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren.
Tiefgreifend philosophisch finde ich es eigentlich nicht mal bei dem Surfen-/Leben-Vergleich. Aber dass es nervt, kann ich mir schon vorstellen. Wenn ich Dich recht verstehe, würde Dir eine Geschichte in der dritten Person und ohne Slang besser gefallen? Hm, mir sträubt sich alles, das in solcher Weise umzusetzen. Es würde IMHO nur unnötig länger.
"Schiss" als Synonym für Angst kenne ich nur als "die Schiss". "Der Schiss" ist mir auch bekannt, dann aber eher z.B. für den berühmt anrüchigen "Bierschiss".

Viele Grüße
Nicky
 



 
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