S.O.S. 2036

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Esta

Mitglied
Vorwort: Zu Beginn möchte ich eines unbedingt los werden: Es handelt sich tatsächlich um eine Kurzgeschichte. Zugegebenermaßen – eine Kurzgeschichte aus einer etwas eigenwilligen Erzählperspektive.

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„File/05-05-2036:>>S.O.S<“

Id-Nr.:5078405
Name/Author: Stuart, Rod
Nickname: „Skye“
DNA-Code registrated?: Yes.

Title: „S.O.S.“

„Sieh an. Ich bin überrascht.
Überrascht, dass jemand inmitten des endlosen Dschungels aus Dateien und Vernetzungen den Weg zu mir gefunden hat. Dass jemand den Mut hat, eine Datei mit dem Namen S.O.S. anzuklicken ... Save Our Souls.

Sollte ich nach all den Jahren tatsächlich auf den winzigen Funken Hoffnung gestoßen sein, den man in meiner Welt schon seit Generationen – vorausgesetzt natürlich, dass der Begriff ´Generation` im weiteren Sinne zu verstehen ist – sucht?

Doch was rede ich – Sie sitzen vor Ihrem Bildschirm, lesen mit gerunzelter Stirn die unscheinbare Kolumne eines Ihnen völlig unbekannten Wesens.
Deshalb werde ich mich vorstellen.

Ich bin die kleine Schwarze aus Nachbars Wohnstube.

... Sie schütteln den Kopf? Sie beteuern, Sie würden sich nicht an die Gestalt eines schlaksigen afrikanischen Mädchens erinnern?
Denken Sie nach. Und stellen Sie sich vor, wie Sie die Arbeit verlassen und den Weg nach Hause nehmen. Sie laufen durch die stinkenden Gassen Ihrer Heimatstadt, Sie sehen weder nach Links noch nach Rechts, Sie wollen einfach nur Ihr Heim erreichen und den stickigen Smok der großen Stadt aussperren. So hasten Sie denn durch die Gassen, Sie hören den ein oder anderen Laut, doch vermag Ihr ungeschultes Gehör keine Zuordnung vorzunehmen. Vielleicht eine Katze, vielleicht ein kranker Hund.
Dann erreichen Sie Ihre Tür. Sie kramen in Ihrer Tasche, es ist dunkel.
Ihr Blick fällt auf die schwächlich beleuchtete Scheibe gleich im Erdgeschoss und Sie stellen mit einem Lächeln fest, dass Ihr stets vielbeschäftigter Nachbar recht zeitig daheim ist.
Die Rollos der Wohnung sind heruntergelassen, alles was Sie erkennen können setzt sich aus unterschiedlichsten Schattierungen schwacher Schatten zusammen; es scheint, als würde eine unsichtbare Kamera das Geschehen innerhalb der Wohnung auf den hellen Schirm des Rollos projizieren.
Sie wenden sich ab, Sie haben Ihre Schlüssel endlich gefunden, Sie wollen die Tür öffnen.
Ein dumpfes Splittern dringt an Ihr Gehör. Neugierig verharren Sie an der Tür, Sie wissen, dass die eigenartigen Geräusche nur aus der Wohnung Ihres Nachbars kommen können. Urplötzlich interessiert Sie, woher der Laut des zerbrechendes Glases rührt.

Sie sehen die Umrisse einer schmächtigen Gestalt über den ungewollten Projektionsschirm huschen. Sie sehen, wie sie sich bückt, hastig etwas vom Boden aufklaubt.
Eine zweite Gestalt erscheint. Sie erkennen die rundliche Silhouette Ihres Nachbarn; er ist ein guter Mensch. Des Abends treffen Sie sich oft auf der Treppe und halten einen kleinen Plausch. Er ist freundlich und sehr friedliebend.
Er hebt den Arm. Er scheint wütend, die Gestalt am Boden zitternd.
Sie blinzeln. Sie fragen sich, was geschehen wird, obgleich Sie eine ungefähre Vorstellung nicht abschütteln können.
Mit einem gedämpften Klatschten saust die Hand Ihres Nachbarn hernieder; gleichzeitig vernehmen Sie ein unterdrücktes Wimmern.

Sie wenden sich ab.
Sie wissen, um was es geht.
Denn Sie haben mich gesehen.
Morgens. Abends. Ich lebe in der Wohnung Ihres Nachbarn, ich arbeite für ihn, lese ihm die Wünsche von den Augen ab. Ich habe weder das Recht, die Wohnung zu verlassen, noch mit den anderen Einwohnern des Hauses ein Wort zu wechseln.
Faktisch habe ich gar kein „Recht“.
Schließlich bin ich ein nichts. Ein kleines Häufchen Knochen und Haut und Haar, das von Petrischale und Pipette in die grausame Welt des Lebens verstoßen wurde ...

Ich sehe, Sie runzeln die Stirn erneut. Sie nagen an Ihren Fingernägeln; Sie können sich beim besten Willen nicht an eine junge Afrikanerin erinnern. Oder Sie wollen es nicht.
Na schön.
Dagegen kann ich nichts tun, ich bin kein Hypnotiseur, der die Geister anderer Wesen mit einem Fingerschnippen in seinen Bann ziehen kann.

Doch lassen Sie mich Ihnen den weißhäutigen Chinesen vorstellen. Denn das bin ich. Sie sagen, Sie würden keinen weißhäutigen Chinesen kennen? Das sagen alle. Und ich werde Ihnen das Gegenteil beweisen.
Versuchen Sie sich den Weg zum Wohnheim Ihrer gealterten Mutter vorzustellen, den Sie allmorgendlich nehmen, um ihr einen angenehmen Tag zu wünschen. Die Straßen sind verstopft, der Smok liegt in der Luft, die Glydes rasen an Ihnen vorbei, nicht viel mehr als ein schrilles Blitzen in der eisigen Morgenluft. Sie spüren den giftigen Schutt der Fabriken auf Ihrer Haut.
Und plötzlich kommt dieses schnuckelige Haus in Sicht. Die triste Schönheit der immerzu geschlossenen Läden hat Sie seit jeher fasziniert; das stechende Grün der geschwungenen Fassade ist ein echter Blickfang.
Und wie jeden Morgen verharren Sie einen Moment, bleiben vor den vergitterten Toren des eleganten Anwesens stehen. Sie fragen sich, was für Menschen wohl hinter den schwarz gestrichenen Fensterläden hausen. Sie fragen sich, zu wem die dreibeinige Katze gehört, die Ihnen um die Füße streicht.
Und dann sehen Sie das weißhäutige Kind mit dem schlohblonden Haar. Das blasse Gesicht hinter den getönten Scheiben. Wie durch ein Wunder steht ein Paar der Fensterläden offen, grelles, von unmenschlich dickem Glas reflektiertes Neonlicht trifft auf Ihre Netzhaut; Sie kneifen die Augen zusammen ...
Die schmächtige Gestalt hinter der Scheibe starrt Sie durch formlose, milchig weiße Linsen an, die seltsam helle Iris rund um die unsichtbare Pupille scheint wie von gleißenden Blitzen durchzuckt.
Sie lächeln den Kleinen an, Sie wollen, dass er seine emotionslose Miene gegen ein warmes Lächeln eintauscht und Sie heben eine Hand, um ihm zuzuwinken.
Doch er sieht Sie nicht. Er sieht niemanden, nichts, nur Dunkelheit.
Eine hagere Gestalt ist erschienen, sie packt den Arm des Kindes und Sie sehen, welch seltsame Form die Glieder des Jungen doch haben.
Und der Mann trägt einen weißen Kittel, ein schlangenförmige Symbol ziert seine Brust.

Ich sehe, Sie schütteln erneut den Kopf. Sie kennen keinen solchen Jungen. Sie kennen auch kein Haus, dass durch knallgrüne Fassaden auffällt.
Schön und gut.
Sie erkennen mich also weder in Gestalt der Schwarzen, noch in der des Chinesen wieder.

Doch den stillen Jungen an der Kasse – den kennen sie bestimmt.
Auch das bin ich. Sie beobachten, wie ich an der Kasse stehe und doch nicht zahlen kann. Ich werde ignoriert. Die Verkäufer täuschen vor, mich nicht zu sehen, die Kunden behandeln mich wie Luft. Die bleiernen Münzen in meiner Hand sind zu schwer für mich, ich kann sie nicht ausgeben.

Ich bin das überdrehte Kind Ihrer Obermieter. Sie sehen mich des öfteren, Sie fragen sich, woher der kleine Bengel kommt und Sie erbitten sich Auskunft. Meine Eltern verraten Ihnen lächelnd, ich sei ihr älteres Kind. Doch Sie wissen, dass der älteste Sohn meiner Eltern vor zwei Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam. Sie sehen mich an. Sie denken nach.

Und Sie wenden sich ab, genau wie Sie es mit dem chinesischen Jungen getan haben, genau wie sie es mit dem afrikanischen Mädchen getan haben.
Sie sind fest davon überzeugt, dass unser ein kein Leben in sich trägt. Kein Glück, kein Schmerz. Wir sind Puppen. So will es das Gesetz.

Wir sind Klone.
Helfen Sie uns.
Selbst wenn Sie fest an die Ansprachen der Regierung glauben: „Sie sind keine Menschen, sie sind keine Tiere. Sie sind biologisch gesehen noch nicht einmal Leben.“

Doch Sie sehen, dass ich lebe.
Ich kann schreiben. Ich kann um Hilfe rufen.
Und deshalb bitte ich Sie –
Helfen Sie uns – Save Our Souls. Sollten wir denn welche haben.“

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Nachwort: Das war also S.O.S. Es hat mir großen Spaß gemacht, diese Kurzgeschichte zu schreiben, da ich mich sehr für das Thema des Klonens interessiere und Genetik generell als interessant empfinde. Während ich den ersten Entwurf dieser Kurzgeschichte verfasst habe (das hier ist der fünfte XP), dachte ich viel darüber nach, aus welchen Gründen die Menschen ihre Klontechnologie weiterentwickeln könnten. Fünf Gründe kamen mir in den Sinn – und sie alle haben sich hier irgendwie eingeschlichen ... Um ehrlich zu sein, sollte die „Story“ anfänglich ein klein bisschen anders verlaufen ...
Die Erzählperspektive dieser Kurzgeschichte und der Ausdruck sind für gewöhnlich nicht mein Ding (Normalerweise stütze ich mich auf den freundlichen, persönlichen Er-Erzähler in der einfachen Vergangenheit ... normalerweise schreibe ich nicht so aggressiv – und ich empfinde es als ziemlich aggressiv) und falls etwas schrecklich hölzern oder ungeschickt klingen sollte, bitte ich denn höflich darum, mich auf die kleinen Fehlerteufel aufmerksam zu machen. Vorausgesetzt, irgendjemand erklärt der armen Esta, wie man einen hochgeladenen Text editieren kann ... komplizierte neue Welt ...
Nun denn.
Ich wünsche allen Anwesenden einen angenehmen Tag (wer sein Halbjahreszeugnis heute bewundern durfte, erhält mein herzlichstes Beileid!), bitte (so zurückhaltend wie es nur geht) um die ein oder andere Kritik und bedanke mich fürs Lesen.
Arigato!

Esta
 

Gandl

Mitglied
Boah, ey

Hi Esta,
klasse! Wie du mit den Perspektiven spielst...
Aggressiv fand ich den Text nicht, eher kühl.
Aber diese Kühle unterstelle ich den Klonen,
also daher ist es genau richtig so.
Mir gefiel dein Text.
Liebe Grüße
Gandl

PS: 5. Zeile: denn=den
(Über edit/delete federleicht zu ändern)
 

knychen

Mitglied
auch mir gefällt die perspektive, aus der du die geschichte erzählst. ein bild hat mich gestört. die dreibeinige katze mag zwar kuschelbedürftig sein, aber "um die beine streichen" vermittelt eine geschmeidige bewegung, die die katze mit den drei beinen wohl kaum so elegant hinbekommt.
und der smog wird mit g geschrieben.
ein grund für's klonen wäre vielleicht in der christlich geprägten welt die angenommene tatsache, dass gott eva aus einer rippe adams schuf.
nicht nachvollziehbar, aber denkbar.
das vorwort und nachwort hätte ich vielleicht weggelassen, ich glaube, du mußt bei dieser geschichte nichts erklären.
knychen
 

Esta

Mitglied
Dankeschön! ^^

Hi, Gandl!
Dankeschön! Es ist immer sehr aufbauend, wenn man als unerfahrener SChreiberling wenigstens von einem Leser hört, dass es ihm gefällt. Merci!
Und danke auch für den kleinen Tipp. Wie gesagt: komplizierte neue Welt ... =.= - "Denn" erfolgreich geändert!
Ich wünsch dir noch einen schönen Tag!
Esta

P.S.: Klone sind kühl ... interessant. Man kann es ihnen nicht verübeln, oder?
 

katia

Mitglied
gefallen

hi esta,

auch dieses werk von dir ist sehr gut bei mir angekommen. kann mich da meinen vorrednern bzw. -schreibern im großen und ganzen nur anschließen.
son bissel handwerklich solltest du noch drüber gehen, meine ich.

beispiele:
"..was Sie erkennen können setzt sich aus.." -kommt ein komma zwischen können und setzt.
"So hasten Sie denn durch.." könnte man das "denn" nicht einfach weg lassen?
"unser ein" -heißt es nicht unsereins?

..was deiner super geschichte jedoch keinen abbruch tut, sind halt kleinigkeiten.

liebe grüße
kati
 



 
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