SPIEGELSCHRIFT Erstes Kapitel

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Nina Trebesi

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Der Beginn? Im Café. Oder aber im Taxi. Wir würden nebeneinander auf der weich gepolsterten Rückbank sitzen. Er sieht mich von der Seite an, und ich blicke geradeaus. Das Taxi gleitet langsam durch die regnerische Nacht, und ich sehe, wie die Scheinwerfer der entgegenkommenden Autos tiefe Säulen in den nassen Asphalt der Avenue brennen.

Er legt nicht den Arm um mich, weil er denkt, ich würde es banal finden, wenn er das macht, worauf ich warte.
Nein, viel zu verschachtelt.
Oder besser im Café? In dem Café, in dem ich gerade wieder sitze? Es hätte sich für unser erstes Treffen geeignet. Es ist nicht elegant – das hätte eine steife Atmosphäre geschaffen. Es ist nicht schäbig – das hätte eine verzagte oder trübselige Stimmung aufkommen lassen. Die Besucher sind nicht vornehm zurückhaltend: Sie sprechen und lachen laut genug, um eine mögliche peinliche Stille zwischen uns zu überdecken. Sie sind aber auch nicht sturzbetrunken und aufdringlich: Niemand wäre an unseren Tisch getorkelt und hätte uns schwerfällig auf die Schultern geklopft.

In Wirklichkeit hat die Geschichte weder im Taxi noch im Café angefangen. Phil ist direkt zu mir nach Hause gekommen, mit einer Packung Präservative in der Hosentasche. "Wie ein richtiger Mann", so drückt es meine Freundin Claire aus.
Danach dachten wir, den kompliziertesten Teil hätten wir nun hinter uns. Dabei ist der Anfang nur der erste Schritt, vor dem nächsten, dem nächsten, dem nächsten, und jeder Schritt ist so kompliziert wie der vorige – zumindest für Leute, die ihr Leben damit verbringen, Vorsichtsmaßnahmen zu treffen.

Andere wiederum werden vom Wind der Ereignisse davongerissen, und denken erst darüber nach, wenn alles vorbei ist. Zu ihnen zähle ich diese schöne Frau, die hier im Café am Ecktisch sitzt, hinter dem spiegelnden Pfeiler. Dort sitzt sie jedesmal, wenn ich komme, und heute nickt sie mir zu. Ich nicke zurück und merke, wie ich dabei rot werde vor Aufregung, weil sie genau so aussieht, wie ich mir als Kind die Geliebte meines Vaters ausgemalt habe. Um mit ihr in einem fernen Land zu leben, dachte ich damals, war er von zu Hause weggegangen. Im Gegensatz zu meinen Geschichten hätte die der beiden auf eine unvorstellbar ausgefallene Weise begonnen. Ich jedenfalls habe meine ganze Kindheit vergeblich damit zugebracht, mir diesen Anfang und auch alles weitere vorzustellen.

Weiß diese Frau etwas, das ich nicht weiß? Woran denkt sie, wenn sie dasitzt und vor sich hin raucht?
Sie hat mich schließlich angesprochen, ist einfach an meinen Tisch gekommen - hier in Paris nachmittags und in nüchternem Zustand undenkbar - aber sie kommt nicht von hier, sie ist Tangotänzerin aus Argentinien. Sie heißt Haydée und wiederholt mehrere Male versonnen meinen Namen: "Anna. Anna also", als ob sie es schon geahnt hätte, auch das Land, aus dem ich komme, macht sie nachdenklich: "Aus Deutschland. Ich kannte einmal jemanden aus Deutschland…", und ich versuche mir vorzustellen, wie sie mit meinem Vater Tango tanzte. Auch für mich malt sie die Adresse eines Tangolokals auf einen alten Briefumschlag – dort wollen wir uns morgen treffen.

Fortsetzung folgt
 

Rainer

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hallo nina trebesi,

klingt interessant - da bin ich auf die fortsetzungen aber sehr gespannt.

zwei anmerkungen:
das bild der von scheinwerfern in den asphalt gebrannten SÄULEN erschließt sich mir nicht: entweder sie stehen AUF dem asphalt oder es sind eingebrannte rillen, riefen, scharten etc.

"Andere wiederum werden vom Wind der Ereignisse davongerissen, und denken erst darüber nach, wenn alles vorbei ist."

ein sehr schöner satz, leider kann ich aber an dieser textstelle nichts mit ihm anfangen. die anderen kommen zu unvermittelt. ich glaube, den gesamtem satz könntest du herausnehmen, und die frau einfach durch den neuen absatz in den text "einführen".

auf grund der kürze des textes kann ich noch nicht mehr dazu sagen; auf die fortsetzungen freue ich mich.

viele grüße

rainer
 

Nina Trebesi

Mitglied
Oh, vielen Dank für die Reaktion, es geht schon ganz bald weiter mit der Spiegelschrift!
Was die Säulen angeht: Ich wollte gerade Säulen, auch wenn sie in Wirklichkeit nach oben ragen - aber ich denke, in einem Text dürfen sie nach unten ragen. Wenn man auf eine Wasserfläche blickt oder auch auf eine nasse Strasse, dann sehen die Scheinwerfer-Strahlen auch wirklich aus wie Säulen, finde ich jedenfalls.
Und den Wind der Ereignisse lass ich mir nochmal durch den Kopf gehen!
Ich freu mich jedenfalls riesig über alle Anregungen, Anmerkungen, über alle Kritik und Ermutigung!
Nina Trebesi
 
Hi Nina Trebesi,

Mutmaßungen zur Eröffnung, ein sehr beliebtes Stilmittel von Frisch bis Johnson gehandhabt: Ich finde den Einstieg echt literarisch. Literarisch, weil der Leser nicht Konsument einer geradlinigen Geschichte ist.

Sehr schöne Passagen, die Lichtsäulen taugen aber ganz gewiss nichts, wie Rainer auch schrieb, es kommt nicht so sehr darauf an, ob etwas logisch richtig ist, sondern ob man beim Leser die richtigen Bilder auslöst. Ehe ich noch Rainers Kommentar las, stockte ich an dieser Stelle und stolperte und brach mir fast das Genick (Genicksäule).

An anderer Stelle, Kapitel vier oder fünf, probierst du es noch einmal mit dem Bild. Diesmal Zerschneiden die Lichter den Asphalt, was einleuchtender ist.

Begeistert bin ich von der Szene des Eintritts in dieses Tanzlokal (Szene 4 oder 5), das von der Protagonistin wie ein Aquarium empfunden wird. Schöne Satzrhythmen.
Ich habe noch nicht alles gelesen, aber was ich las, war ein Gewinn für mich.

Die Geschichte atmet. Noch mehr auf Bilder vertrauen!

Herzlich

Monfou
 

Nina Trebesi

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Vielen Dank, Monfou!
Schade, dass ihr alle die Säulen nicht seht! Ich sehe sie nämlich, aber wenn ich sie nicht für andere sichtbar machen kann, dann muss ich mir natürlich irgendwas einfallen lassen... Mal sehen... vielleicht werden sie gleich zu Beginn den Asphalt zerschneiden... Mal schauen. Jedenfalls toll, von Euch auf hinkende Stellen hingewiesen zu werden!!!
Bis bald!
Nina
 



 
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