SPIEGELSCHRIFT Zweites Kapitel

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Nina Trebesi

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Heute rufe ich Phil an, einfach so, ohne Anlass. Das ist nicht meine Art, wichtige Gründe sprechen gewöhnlich dagegen: das Risiko ihn zu stören, zu überfordern, ihm nichts zu sagen zu haben - doch heute ist ein besonderer Tag: ich kann ihm von einer mysteriösen Tangotänzerin erzählen, die er wahrscheinlich sofort in seinen neuen Krimi integrieren wird. Phil schreibt Krimis, die er nur mir zeigt. Sie sind voller phantastischer Verwicklungen und blühender Bilder.
Er beißt auch sofort an, will mehr wissen, will sich mit mir verabreden: Übermorgen im Flèche d'Or, einer Kneipe hinter dem Père-Lachaise-Friedhof. Dann werde ich ihm den Abend im Tangolokal schildern können:
"Haydée und ich haben Wange an Wange getanzt. Sie hat ihren Oberkörper an meinen gelehnt und ihn mit sanftem Druck über die Tanzfläche bewegt."
Ihre Knie streiften meine tastenden Beine. Ich schloss die Augen und hörte auf zu denken, was mir erst bewusst wurde, als wir voneinander gelöst am Tresen standen. Haydée sah mich an und sagte: "Wie schön Sie sind, Anna!" Sie sagte es so selbstverständlich, als würde sie einen messbaren Tatbestand ausdrücken, oder eine von allen geteilte Ansicht, etwa: Wie schön die Sonne scheint!
***

Der schielende Wirt gesellt sich an den Tisch, an dem ich allein unter dem Lokomotivenschrott sitze, der hier im Flèche d'Or als Dekor von der Decke herunterhängt. Weil er mich noch nicht kennt, will er wissen, wer ich bin, will es dann aber doch nicht wissen, auch wenn ich immer gern versuche, auf diese Frage zu antworten, sondern erzählt mir von seiner Kneipe – ein ehemaliger Bahnhof, und heute, bitte! keine Szene- sondern Stadtteilkneipe – und ihren Gästen, Leute mit rosa und grün gefärbten Haaren, einfache Leute aus dem Viertel, betont der Wirt, und keine Künstler- oder Möchtegern-Künstler, keine Insider oder Outsider, was auf dasselbe herauskommt. Stolz deutet der Wirt auf eine Clocharde, die mit einer Plastiktüte in der Hand wie eine dusselige Traumtänzerin durch die ehemalige Bahnhofshalle schlurft: "Sie kommt jeden Tag", sagt er, und sie ist aus dem Viertel.

Die Halle sieht so aus, als würde Phil sie niemals durchqueren, und es leuchtet ein, daß er sie in der Tat nie durchqueren wird. Jedenfalls nicht in ihrer gegenwärtigen Form. Denn sein Auftritt wird sie in eine andere verwandeln – besser gesagt in ihr Gegenteil: Diese Halle ohne Phil ist das Gegenteil dieser Halle mit Phil. Eine Verwandlung, die ich mir immer weniger vorstellen kann, je mehr Minuten vergehen, auch wenn ich aus Erfahrung weiß, daß Phil immer zu spät, aber nie nicht kommt.

Doch nach dem alltäglichen Erscheinen der Clocharde
kippt
tatsächlich lokal
die Welt um.
Phil kommt durch die Halle geschossen, seinen besorgten Blick auf mich gerichtet, er überholt die Clocharde, zieht sich einen Stuhl her. Er ist außer Atem. Der Wirt zwinkert mir schielend zu und geht davon, Phil holt Luft für die Schilderung der Abenteuer, die ihn am Pünktlichsein gehindert haben. Sie hören sich an wie seine Krimiszenen: Verfolgungsjagden im Taxi, der Fahrer ein Psychopath, die um den Triumphbogen rasenden Autos eine Meute Pitbulls.
Ich lache auch über eher klischeehafte Bilder.
Nun bin ich dran – der Abend mit Haydée. Ich versuche, Phil zu übertreffen: "Paare, die im schummrigen Licht ineinander verfließen", "schwere rote Samtvorhänge", "schimmernde Fenster", Haydées "leichte Hand auf meiner Schulter", genau da schiebt sich die behaarte Pranke des Flèche d'Or-Wirtes auf den Holztisch vor mir, er hat sich zwischen uns beiden aufgestützt, den Kopf hat er in meine Richtung gedreht, schielend blickt er auf meine Ohren.
"Ein Bier", sagt Phil zu dem Rücken des Wirts.
"Für mich auch", sage ich, und sehe dabei Phil an, weil ich den Blick des Wirtes nicht finden kann. Der Wirt schnaubt und verschwindet.

Phil klopft mit männlich-energischer Geste seine Zigarette auf den Tisch - er raucht Camel ohne Filter wie seine Krimihelden und wie der Held seines Vorbilds Raymond Chandler. Zumindest glaube ich, daß auch Chandlers Held Camel ohne Filter raucht, vielleicht bilde ich mir das aber nur ein. Vielleicht bildet auch Phil sich das nur ein, vielleicht raucht der Held etwas ganz anderes, und beide haben wir Chandler falsch verstanden.
"Und dann?" fragt Phil, und ich lege erst richtig los: "Beine, die sich ineinander schlingen", "tragische Senkrechtfalten auf tanzenden Gesichtern ", "wehmütige Musik".
Zum Beispiel: "Mi noche triste". Haydée hat mir den Text auf ein Blatt Papier geschrieben: Der Spiegel ganz beschlagen, selbst er weint, weil die Geliebte den Mann nicht mehr liebt. Die schweigende Gitarre, nichts mehr bringt ihre Saiten zum Schwingen, seit die Frau gegangen ist. Und die Straßenlampen im ganzen Stadtviertel. Haben ihre Abwesenheit bemerkt und sind zu traurig, um die traurige Nacht des Verlassenen zu erhellen. Und das mußt du erstmal auf spanisch hören.

"Voilà", dröhnt der Wirt. Krachend stellt er die Biergläser vor uns ab.
"Hast du getanzt, Anna?" Phil sieht mich mit glänzenden Augen an, und der Wirt entfernt sich mit lauten, enttäuschten Schritten.
"Ja. Haydée hat sich zu mir hingedreht und gesagt: Sollen wir? Ich bin der Mann, Sie schließen die Augen und lassen sich führen. Denken Sie an nichts."
"Und?" Mißtrauischer Unterton. Ich verstehe ihn. Ich sage das, was einem sowieso niemand glaubt: "Meine Beine haben sich wie von selbst bewegt."
Ich frage: "Hast du nicht Lust, es zu lernen?"
Er entsetzt: "Ohne mich."
Ich lache, und der Wirt wirft uns quer durch den Raum seinen schielenden Blick zu.
 

Rainer

Mitglied
hallo nina trebesi,

nun verspricht es, interessant zu werden. stil und athmosphäre gefallen mir gut.
allerdings habe ich noch probleme mit einigen einzelheiten. mag sein, dass sich alles im weiteren verlauf in wohlgefallen auflöst (wäre zu schön), aber momentan fielen mir einige dinge ins auge. nehmen wir mal den ersten abschnitt:



Heute rufe ich Phil an, obwohl es dazu keinen Anlass gibt. [blue] (sperrige formulierung; vielleicht besser:
Ohne offiziellen Anlaß rufe ich Phil an.)[/blue] Das ist nicht meine Art, wichtige Gründe sprechen gewöhnlich dagegen: das Risiko[blue] ,(ich glaube das komma ist optional; ich würde es weglassen, denn es zerhackt den satz unnötig)[/blue] ihn zu stören, zu überfordern, ihm nichts zu sagen zu haben - doch heute ist ein besonderer Tag[strike] ,[/strike] [blue] :[/blue] [strike] und[/strike] ich kann ihm von einer mysteriösen Tangotänzerin erzählen, die er wahrscheinlich sofort in seinen Krimi integrieren wird.


Phil schreibt Krimis voller phantastischer Verwicklungen und blühender Bilder, die er nur mir zeigt[blue] .(oh, finde ich unglücklich. der leser „sieht“ die verbindung bilder – zeigen. es dauert eine weile, bis klar wird, dass sich die bilder auf den inhalt, und das zeigen auf den text des krimis beziehen)[/blue]
Er beißt auch sofort an, will mehr wissen, will sich mit mir verabreden: Übermorgen im Flèche d'Or, einer Kneipe hinter dem Père-Lachaise-Friedhof. Dann werde ich ihm den Abend im Tangolokal schildern können:
"Haydée und ich haben Wange an Wange getanzt. Sie hat ihren Oberkörper an meinen gelehnt und hat ihn mit sanftem Druck über die Tanzfläche bewegt[blue] ." warum läßt du hier die zukunftige aussage deiner prot enden, wo du danach doch den weiteren ablauf des abends (teilweise?) weiter schilderst. denkt sie sich das nur, ist das für phil (der ja mehr wissen will s.o.) nicht wichtig?[/blue]
Ihre [blue] Knie (bin mir unsicher, aber wird der plural nicht kniee geschrieben? gesprochen wie knie, aber anders geschrieben?)[/blue] streiften meine tastenden Beine [blue] (das bild der tastenden beine erschließt sich mir nicht)[/blue]. Ich schloss die Augen und hörte auf zu denken, was mir erst bewusst wurde, als wir voneinander gelöst am Tresen standen, Haydée mich ansah und zu mir sagte: Wie schön Sie sind, Anna! [blue] (würde ich zwei sätze draus machen)[/blue] Sie sagte es so selbstverständlich, als würde sie einen messbaren Tatbestand ausdrücken, oder eine von allen geteilte Ansicht, etwa: Wie schön die Sonne scheint! [blue] (eine äußerst gelungene formulierung)
[/blue]“

so, nun habe ich genug gemeckert. ich hoffe, du kannst etwas damit anfangen; nichts ist sicher, alles intuitiv –deswegen keine garantie für vollständig- und richtigkeit

viele grüße

rainer (*irgendwann kaufe ich mir mal einen duden*)
 

Nina Trebesi

Mitglied
Hallo Rainer!
Erstmal herzlichen Dank! Noch nie hat sich jemand so intensiv mit meinen Texten beschäftigt! Ich bin Dir wirklich sehr dankbar für Deine wertvollen Anmerkungen. Das macht mir Lust, nochmal an dem Text zu arbeiten.
Zur Deiner Frage, warum ich die zukünftige Aussage der Protagonistin an dieser Stelle enden lasse: das war eigenlich nicht mein Ziel. Ich wollte eher darstellen, wie ein Ereignis schrittweise vom Erlebnis über die Erzählung zum Text wird. Denn einer der "Helden", ein Hauptthema dieser Geschichte ist die Schrift, das Schreiben. Die Hauptfiguren schreiben alle, verwechseln manchmal Wirklichkeit und Fiktion, wachsen aber auch dadurch, dass sie schreiben. Anna macht ihr Leben zur Fiktion. Hier überlegt sie also, was sie Phil erzählen wird - kaum hat sie etwas erlebt, ist es für sie schon wichtig, wie sie's formulieren wird. Und dann wechsle ich in den Imperfekt, weil sie schon dabei ist, eine Geschichte aus diesem Abend mit Haydée zu machen.
Diese Lust am schreiben, am verdichten ist eine Bereicherung, aber zugleich auch eine Gefahr für die Protagonisten, weil sie vor lauter Träumen und Ausmalen und Formulieren es nicht auf die Reihe kriegen oder es nicht wagen, gewisse Dinge wirklich zu leben.
Am Ende wird aber alles gut ausgehen und die Schreiberei wird sich als positiv für die Hauptfiguren herausstellen.
Bis bald!
Nina Trebesi
 

Nina Trebesi

Mitglied
P.S.
Aber klar: da nicht deutlich wird, was ich eigentlich erreichen wollte, muss ich mir an der besagten Stelle, was anderes überlegen.
 

Rainer

Mitglied
nö, überhaupt nicht.
wenn du diesen stil des verschwimmens von persönlicher rede und fiktionalem schreibtext (kann es nicht besser ausdrücken) über den gesamte text beibehälst (vielleicht zur verstärkung absätze an der "bruchstelle" einbauen), ist das absolut in ordnung - mal ein ungewöhnliches, aber nicht "überkandideltes" stilmitttel.

ich bleibe dabei, die weiteren teile interessieren mich sehr.
vielleicht wäre es günstiger, wenn du längere abschnitte (wir sind ja im erzählungen-forum) posten würdest. dann sind kongruenzen leichter "durchschaubar".

viele grüße

rainer
 

Yoanna

Mitglied
Wunderbare Passagen

Hallo Nina,
ich kann nur sagen, es gibt da ein paar herrliche Passagen, mal sehen, ob ich die jetzt quoten kann.
"will er wissen, wer ich bin, will es dann aber doch nicht wissen, auch wenn ich immer gern versuche, auf diese Frage zu antworten", schöön!
Dann die Sache mit der Halle: "Die Halle sieht so aus, als würde Phil sie niemals durchqueren, und es leuchtet ein, daß er sie in der Tat nie durchqueren wird. Jedenfalls nicht in ihrer gegenwärtigen Form. Denn sein Auftritt wird sie in eine andere verwandeln – besser gesagt in ihr Gegenteil: Diese Halle ohne Phil ist das Gegenteil dieser Halle mit Phil. Eine Verwandlung, die ich mir immer weniger vorstellen kann,". Ich finde das subtil, fein und richtig spannend. Als danach dann die Welt umkippt, weil Phil kommt, da ist's perfekt.
Wow, wie geht das nu weiter?
Gruß,
Yoanna
 

Rainer

Mitglied
damit ich nicht nur meckere:

ich habe beim ersten posting vergessen, die magie der hallenszene herauszustellen.

wollt' ich nur noch schnell nachholen.

der dritte teil ist aber auch nicht von schlechten eltern... :)

viele grüße + ich bleibe gespannt

rainer
 



 
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