Nina Trebesi
Mitglied
Heute rufe ich Phil an, einfach so, ohne Anlass. Das ist nicht meine Art, wichtige Gründe sprechen gewöhnlich dagegen: das Risiko ihn zu stören, zu überfordern, ihm nichts zu sagen zu haben - doch heute ist ein besonderer Tag: ich kann ihm von einer mysteriösen Tangotänzerin erzählen, die er wahrscheinlich sofort in seinen neuen Krimi integrieren wird. Phil schreibt Krimis, die er nur mir zeigt. Sie sind voller phantastischer Verwicklungen und blühender Bilder.
Er beißt auch sofort an, will mehr wissen, will sich mit mir verabreden: Übermorgen im Flèche d'Or, einer Kneipe hinter dem Père-Lachaise-Friedhof. Dann werde ich ihm den Abend im Tangolokal schildern können:
"Haydée und ich haben Wange an Wange getanzt. Sie hat ihren Oberkörper an meinen gelehnt und ihn mit sanftem Druck über die Tanzfläche bewegt."
Ihre Knie streiften meine tastenden Beine. Ich schloss die Augen und hörte auf zu denken, was mir erst bewusst wurde, als wir voneinander gelöst am Tresen standen. Haydée sah mich an und sagte: "Wie schön Sie sind, Anna!" Sie sagte es so selbstverständlich, als würde sie einen messbaren Tatbestand ausdrücken, oder eine von allen geteilte Ansicht, etwa: Wie schön die Sonne scheint!
***
Der schielende Wirt gesellt sich an den Tisch, an dem ich allein unter dem Lokomotivenschrott sitze, der hier im Flèche d'Or als Dekor von der Decke herunterhängt. Weil er mich noch nicht kennt, will er wissen, wer ich bin, will es dann aber doch nicht wissen, auch wenn ich immer gern versuche, auf diese Frage zu antworten, sondern erzählt mir von seiner Kneipe – ein ehemaliger Bahnhof, und heute, bitte! keine Szene- sondern Stadtteilkneipe – und ihren Gästen, Leute mit rosa und grün gefärbten Haaren, einfache Leute aus dem Viertel, betont der Wirt, und keine Künstler- oder Möchtegern-Künstler, keine Insider oder Outsider, was auf dasselbe herauskommt. Stolz deutet der Wirt auf eine Clocharde, die mit einer Plastiktüte in der Hand wie eine dusselige Traumtänzerin durch die ehemalige Bahnhofshalle schlurft: "Sie kommt jeden Tag", sagt er, und sie ist aus dem Viertel.
Die Halle sieht so aus, als würde Phil sie niemals durchqueren, und es leuchtet ein, daß er sie in der Tat nie durchqueren wird. Jedenfalls nicht in ihrer gegenwärtigen Form. Denn sein Auftritt wird sie in eine andere verwandeln – besser gesagt in ihr Gegenteil: Diese Halle ohne Phil ist das Gegenteil dieser Halle mit Phil. Eine Verwandlung, die ich mir immer weniger vorstellen kann, je mehr Minuten vergehen, auch wenn ich aus Erfahrung weiß, daß Phil immer zu spät, aber nie nicht kommt.
Doch nach dem alltäglichen Erscheinen der Clocharde
kippt
tatsächlich lokal
die Welt um.
Phil kommt durch die Halle geschossen, seinen besorgten Blick auf mich gerichtet, er überholt die Clocharde, zieht sich einen Stuhl her. Er ist außer Atem. Der Wirt zwinkert mir schielend zu und geht davon, Phil holt Luft für die Schilderung der Abenteuer, die ihn am Pünktlichsein gehindert haben. Sie hören sich an wie seine Krimiszenen: Verfolgungsjagden im Taxi, der Fahrer ein Psychopath, die um den Triumphbogen rasenden Autos eine Meute Pitbulls.
Ich lache auch über eher klischeehafte Bilder.
Nun bin ich dran – der Abend mit Haydée. Ich versuche, Phil zu übertreffen: "Paare, die im schummrigen Licht ineinander verfließen", "schwere rote Samtvorhänge", "schimmernde Fenster", Haydées "leichte Hand auf meiner Schulter", genau da schiebt sich die behaarte Pranke des Flèche d'Or-Wirtes auf den Holztisch vor mir, er hat sich zwischen uns beiden aufgestützt, den Kopf hat er in meine Richtung gedreht, schielend blickt er auf meine Ohren.
"Ein Bier", sagt Phil zu dem Rücken des Wirts.
"Für mich auch", sage ich, und sehe dabei Phil an, weil ich den Blick des Wirtes nicht finden kann. Der Wirt schnaubt und verschwindet.
Phil klopft mit männlich-energischer Geste seine Zigarette auf den Tisch - er raucht Camel ohne Filter wie seine Krimihelden und wie der Held seines Vorbilds Raymond Chandler. Zumindest glaube ich, daß auch Chandlers Held Camel ohne Filter raucht, vielleicht bilde ich mir das aber nur ein. Vielleicht bildet auch Phil sich das nur ein, vielleicht raucht der Held etwas ganz anderes, und beide haben wir Chandler falsch verstanden.
"Und dann?" fragt Phil, und ich lege erst richtig los: "Beine, die sich ineinander schlingen", "tragische Senkrechtfalten auf tanzenden Gesichtern ", "wehmütige Musik".
Zum Beispiel: "Mi noche triste". Haydée hat mir den Text auf ein Blatt Papier geschrieben: Der Spiegel ganz beschlagen, selbst er weint, weil die Geliebte den Mann nicht mehr liebt. Die schweigende Gitarre, nichts mehr bringt ihre Saiten zum Schwingen, seit die Frau gegangen ist. Und die Straßenlampen im ganzen Stadtviertel. Haben ihre Abwesenheit bemerkt und sind zu traurig, um die traurige Nacht des Verlassenen zu erhellen. Und das mußt du erstmal auf spanisch hören.
"Voilà", dröhnt der Wirt. Krachend stellt er die Biergläser vor uns ab.
"Hast du getanzt, Anna?" Phil sieht mich mit glänzenden Augen an, und der Wirt entfernt sich mit lauten, enttäuschten Schritten.
"Ja. Haydée hat sich zu mir hingedreht und gesagt: Sollen wir? Ich bin der Mann, Sie schließen die Augen und lassen sich führen. Denken Sie an nichts."
"Und?" Mißtrauischer Unterton. Ich verstehe ihn. Ich sage das, was einem sowieso niemand glaubt: "Meine Beine haben sich wie von selbst bewegt."
Ich frage: "Hast du nicht Lust, es zu lernen?"
Er entsetzt: "Ohne mich."
Ich lache, und der Wirt wirft uns quer durch den Raum seinen schielenden Blick zu.
Er beißt auch sofort an, will mehr wissen, will sich mit mir verabreden: Übermorgen im Flèche d'Or, einer Kneipe hinter dem Père-Lachaise-Friedhof. Dann werde ich ihm den Abend im Tangolokal schildern können:
"Haydée und ich haben Wange an Wange getanzt. Sie hat ihren Oberkörper an meinen gelehnt und ihn mit sanftem Druck über die Tanzfläche bewegt."
Ihre Knie streiften meine tastenden Beine. Ich schloss die Augen und hörte auf zu denken, was mir erst bewusst wurde, als wir voneinander gelöst am Tresen standen. Haydée sah mich an und sagte: "Wie schön Sie sind, Anna!" Sie sagte es so selbstverständlich, als würde sie einen messbaren Tatbestand ausdrücken, oder eine von allen geteilte Ansicht, etwa: Wie schön die Sonne scheint!
***
Der schielende Wirt gesellt sich an den Tisch, an dem ich allein unter dem Lokomotivenschrott sitze, der hier im Flèche d'Or als Dekor von der Decke herunterhängt. Weil er mich noch nicht kennt, will er wissen, wer ich bin, will es dann aber doch nicht wissen, auch wenn ich immer gern versuche, auf diese Frage zu antworten, sondern erzählt mir von seiner Kneipe – ein ehemaliger Bahnhof, und heute, bitte! keine Szene- sondern Stadtteilkneipe – und ihren Gästen, Leute mit rosa und grün gefärbten Haaren, einfache Leute aus dem Viertel, betont der Wirt, und keine Künstler- oder Möchtegern-Künstler, keine Insider oder Outsider, was auf dasselbe herauskommt. Stolz deutet der Wirt auf eine Clocharde, die mit einer Plastiktüte in der Hand wie eine dusselige Traumtänzerin durch die ehemalige Bahnhofshalle schlurft: "Sie kommt jeden Tag", sagt er, und sie ist aus dem Viertel.
Die Halle sieht so aus, als würde Phil sie niemals durchqueren, und es leuchtet ein, daß er sie in der Tat nie durchqueren wird. Jedenfalls nicht in ihrer gegenwärtigen Form. Denn sein Auftritt wird sie in eine andere verwandeln – besser gesagt in ihr Gegenteil: Diese Halle ohne Phil ist das Gegenteil dieser Halle mit Phil. Eine Verwandlung, die ich mir immer weniger vorstellen kann, je mehr Minuten vergehen, auch wenn ich aus Erfahrung weiß, daß Phil immer zu spät, aber nie nicht kommt.
Doch nach dem alltäglichen Erscheinen der Clocharde
kippt
tatsächlich lokal
die Welt um.
Phil kommt durch die Halle geschossen, seinen besorgten Blick auf mich gerichtet, er überholt die Clocharde, zieht sich einen Stuhl her. Er ist außer Atem. Der Wirt zwinkert mir schielend zu und geht davon, Phil holt Luft für die Schilderung der Abenteuer, die ihn am Pünktlichsein gehindert haben. Sie hören sich an wie seine Krimiszenen: Verfolgungsjagden im Taxi, der Fahrer ein Psychopath, die um den Triumphbogen rasenden Autos eine Meute Pitbulls.
Ich lache auch über eher klischeehafte Bilder.
Nun bin ich dran – der Abend mit Haydée. Ich versuche, Phil zu übertreffen: "Paare, die im schummrigen Licht ineinander verfließen", "schwere rote Samtvorhänge", "schimmernde Fenster", Haydées "leichte Hand auf meiner Schulter", genau da schiebt sich die behaarte Pranke des Flèche d'Or-Wirtes auf den Holztisch vor mir, er hat sich zwischen uns beiden aufgestützt, den Kopf hat er in meine Richtung gedreht, schielend blickt er auf meine Ohren.
"Ein Bier", sagt Phil zu dem Rücken des Wirts.
"Für mich auch", sage ich, und sehe dabei Phil an, weil ich den Blick des Wirtes nicht finden kann. Der Wirt schnaubt und verschwindet.
Phil klopft mit männlich-energischer Geste seine Zigarette auf den Tisch - er raucht Camel ohne Filter wie seine Krimihelden und wie der Held seines Vorbilds Raymond Chandler. Zumindest glaube ich, daß auch Chandlers Held Camel ohne Filter raucht, vielleicht bilde ich mir das aber nur ein. Vielleicht bildet auch Phil sich das nur ein, vielleicht raucht der Held etwas ganz anderes, und beide haben wir Chandler falsch verstanden.
"Und dann?" fragt Phil, und ich lege erst richtig los: "Beine, die sich ineinander schlingen", "tragische Senkrechtfalten auf tanzenden Gesichtern ", "wehmütige Musik".
Zum Beispiel: "Mi noche triste". Haydée hat mir den Text auf ein Blatt Papier geschrieben: Der Spiegel ganz beschlagen, selbst er weint, weil die Geliebte den Mann nicht mehr liebt. Die schweigende Gitarre, nichts mehr bringt ihre Saiten zum Schwingen, seit die Frau gegangen ist. Und die Straßenlampen im ganzen Stadtviertel. Haben ihre Abwesenheit bemerkt und sind zu traurig, um die traurige Nacht des Verlassenen zu erhellen. Und das mußt du erstmal auf spanisch hören.
"Voilà", dröhnt der Wirt. Krachend stellt er die Biergläser vor uns ab.
"Hast du getanzt, Anna?" Phil sieht mich mit glänzenden Augen an, und der Wirt entfernt sich mit lauten, enttäuschten Schritten.
"Ja. Haydée hat sich zu mir hingedreht und gesagt: Sollen wir? Ich bin der Mann, Sie schließen die Augen und lassen sich führen. Denken Sie an nichts."
"Und?" Mißtrauischer Unterton. Ich verstehe ihn. Ich sage das, was einem sowieso niemand glaubt: "Meine Beine haben sich wie von selbst bewegt."
Ich frage: "Hast du nicht Lust, es zu lernen?"
Er entsetzt: "Ohne mich."
Ich lache, und der Wirt wirft uns quer durch den Raum seinen schielenden Blick zu.