Satire

4,00 Stern(e) 1 Stimme
vorübergehend Betriebsferien

Ich spüre einen ziehenden Schmerz in der Kreuzgegend, noch bin ich mir unschlüssig, welcher Muskel es ist, – Ischias? DER berüchtigte Schmerzmuskel? - jedenfalls ein Muskel, den ich selten gebrauche und dessen Existenz mir nun erst seit seiner Überbeanspruchung bewusst wird. In der Anatomie des menschlichen Körpers, so ein kürzlich von mir konsumiertes Lehrbuch, existieren über tausend verschiedene Muskeln, welche wir tagtäglich für unsere Bewegungen gebrauchen – oder auch nicht: der moderne, im Allgemeinen sehr bewegungsarme Lebensstil lässt verschiedene Muskeln regelrecht verkümmern zugunsten einer umso ausgeprägteren Anhäufung von Fettgewebe. Der Schmerz ist eher auf der linken Seite, über dem Becken, und macht sich vor allem bei gewissen Bewegungen wie beim Sich-Setzen oder Aufstehen bemerkbar, und ich denke, das hat vor allem auch damit zu tun, dass ich Rechtshändler bin. Vorläufig sitze ich jedoch. Ich ignoriere den Schmerz und denke lieber an etwas Angenehmeres: das Lächeln der mandeläugigen Schönheit will mir nicht aus dem Kopf! Das war kurz zuvor am Bahnhof, als ich den Zug verliess. Chur. Endstation, wenigstens für mich. Für die Reisenden aus dem Unterland geht es nun weiter mit der schmalspurigen Rhätischen Bahn. „… meine Damen und Herren, wir treffen in Chur ein. Bitte alle aussteigen…“ und „Reisende nach Disentis oder St. Moritz bitte umsteigen!...“ St. Moritz, die berühmte Feriendestination, die immer Erwähnung in den Zugsdurchsagen findet, als ob die Reise ins Engadin dort unweigerlich enden müsste. St. Moritz: ein kleines Dorf mit unzähligen Erstklasse-Hotels, die tendenziell immer weniger ausgebucht sind – wegen dem starken Schweizerfranken.

Ich blättere in einer deutschen Illustrierten mit dem Titel „im Fokus“ oder ähnlich – eine Illustrierte, die ich im „Parterre“ unter den Zeitschriften und Zeitungen gefunden habe. Einschlägiges Zielpublikum. Prominenz wie sie leibt und lebt, wer mit wem und mit wem nicht mehr und am liebsten: mit wem im Heimlichen und es ist ein Skandal, all der Klatsch und Tratsch, der mich eigentlich gar nicht interessiert. „Jana Yukanova bekommt ein Baby! Wer ist wohl der Vater? Ein (T)Pen(n)isprofi?...“ usw. Ich sitze im Freien, allein an einem Tisch, und gefalle mir in der Vorstellung, dass ich hier nur ein vorübergehender Tourist bin. Diese Vorstellung gewinnt an Realität dank der aussergewöhnlichen Tatsache, dass das „Edelweiss“, mein Stammlokal, ferienhalber geschlossen ist und ich die meisten Gäste, welche im „Parterre“ verkehren nur flüchtig kenne, was mich der Verpflichtung zum Small-Talk enthebt. Soeben ist Walter, der Archäologe, eingetroffen. Gottseidank widmet er mir nur einen kurzen Blick und setzt sich nach einem ebenso kurzen Wiedererkennungsgrunz an die illustre Runde der hiesigen Stammgäste, was viel mehr Unterhaltung verspricht. Ich nippe an meiner „Latte macchiato“, ergebe mich meiner jüngsten Vergangenheit und erlebe nochmals die Szene der Ankunft in Chur:
Ich habe gewartet, bis die Pressanten, welche sich schon vor dem Halt im Zugskorridor zum Ausgang hin angestaut haben, ausgestiegen sind (die Beschäftigung des Wartens finde ich eine ausgesprochen langweilige Tätigkeit). Einzig eine junge, adrett gekleidete Touristin steht noch im Korridor am Ende des Abteils und rückt ihr Gepäck zurecht, das aus einem riesigen Koffer und einer grossen Sporttasche besteht. Ich erkenne: sie zögert, wohl ist der Koffer sehr schwer und sie überlegt sich, was zuerst: der Koffer oder die Tasche? Jedenfalls erwacht sofort mein Helferinstinkt. Oder ist es der anerzogene Gentleman in mir? Die junge Frau ist sehr attraktiv: weisse, enganliegende Hosen, welche ihre schlanke Figur betonen, ebenso wie der knappe, grüne Top, der einen einladenden Blick auf den Ansatz ihrer kecken Brüste gewährt, ein sehr sympathisches Gesicht, blonde, wellenförmige Haare mit dunklen Strähnen (im Shetlandpony-Stil) und vor allem diese mandelförmigen Augen, leicht geschminkt – nur leicht! Ich verstehe nicht die Frauen welche ihre natürliche Schönheit mit dicken Schichten Kosmetik zu verbergen suchen! Natürlich hätte ich auch einer alten, gehbehinderten Frau auf den Gehsteig geholfen…

„Willst du noch etwas?“
Ich verstehe zuerst nicht und starre die Rothaarige an, als käme sie von einem anderen Planeten, bevor ich dann kapiere: die – durchaus hübsche – Serviertochter (aber nicht mein Fall), welche sich um das Wohlergehen der Gäste oder des Umsatzes sorgt (was genau sei dahingestellt). Richtig: der „Macchiato“ ist ausgetrunken bis auf ein kümmerliches, schäumendes Restchen, das sich höchstens noch für die Vorhersage der näheren Zukunft eignet.
„Eine Stange bitte!“ bestelle ich, wonach sie sich geschäftig wieder verzieht.

Da kommt also der unausweichliche Gedanke, der offenbar (so das Credo vieler Frauen) alle Männer – eine Horde schwanzgesteuerter Wesen – unausweichlich heimsucht: die wäre nun wirklich nicht zu verabscheuen! Dieser Gedanke – ich gebe es zu – kommt mir gelegentlich bei einer anmutigen Frau, aber ich verscheuche ihn dann jedes Mal, da ich die Frau ja nicht als Objekt meiner Begierde sehen möchte. Bin ich sexistisch? Ich denke es ist einfach das: ich bin Single und somit ein potentieller Anwärter für eine harmonische Beziehung zum anderen Geschlecht, mit Betonung auf harmonisch, was vor allem auch einen regen geistigen Austausch mit einschliesst. Eigentlich ist es nämlich gerade umgekehrt (weshalb ich die diesbezügliche Äusserung meiner Ex-Frau völlig daneben finde): fehlt nämlich diese geistige Komponente, so finde ich auch den Sex mit der betreffenden Person nicht reizvoll, auch wenn sie noch so erotische Kurven aufweist. Und auf keinen Fall bin ich jemand, der über jede dahergelaufene, anmutige und willige Frau herfällt.
Nehmen wir zum Beispiel die junge Frau, welche gerade am Platz vorbeiläuft, einen bulldoggenartigen, gedrungenen Hund im Schlepptau, dem seine Geschlechtsteile sichtlich am Hintern herunterhangen. Er ist in die Jahre gekommen und sie zieht ihn mehr hinter sich her als was ihm lieb ist, ein seltsames Gespann. Wie kommt diese schöne, junge Frau zu einem derart plumpen, ungelenken, ja hässlichen Hund? Ich kann mir nicht vorstellen, dass er ihr gehört. Viel wahrscheinlicher betreibt sie Dog-sitting, ein kleiner Nebenverdienst, womöglich ist sie noch in der Ausbildung und hat einen sehr erlesenen Geschmack. Dog-sitting stockt nur ihr Sackgeld auf. Diese hübsche Frau (die übrigens beim Vorbeigehen einen kurzen, scheuen Blick in die illustre Männerrunde nebenan geworfen hat) finde ich durchaus attraktiv, von etwas stämmiger Postur, aber immer noch schlank, dunkelhaarig, südländischer Akzent, und ich bin – im Unterschied zum Hund – an ihr prinzipiell interessiert, nicht nur, aber auch als Vertreter der männlichen Spezies homo sapiens: so, jetzt habe ich es wissenschaftlich ausgedrückt! (der Rest erübrigt sich: natürlich falle ich nicht bei der nächstbesten Gelegenheit über sie her…!).
Es wäre bestimmt interessant, mit dieser Frau ins Gespräch zu kommen, um mehr über ihren Hund herauszufinden. Mit dem Verschwinden des Hundehintern kehren jedoch meine Gedanken zurück zu der Mandeläugigen:

„Kann ich Ihnen helfen?“ (Ich wage nicht, das viel persönlichere „Du“ zu verwenden. Es handelt sich eindeutig um eine Dame der oberen Schicht, und Höflichkeit ist hier unumgänglich).
Sie blickt mich überrascht an, zuerst fast befremdet. Nach einem prüfenden Blick, in dessen Verlauf sie meine uneigennützige Hilfsbereitschaft feststellt, weicht ein dankbares Lächeln ihrem strengen Blick. Vielleicht, so denke ich, findet sie auch mich durchaus sympathisch – möglicherweise ist sie aber, obwohl alleinreisend, schon vergeben und wird bald – nachreisend – von ihrem Schatz in St. Moritz sehnlichst erwartet!

„Danke!“ sage ich, sowie die Rothaarige einen Bierteller vor mich auf dem Tisch platziert und eine Stange darauf stellt. Sie lächelt mich an, höflich, aber irgendwie distanziert: Höflichkeit ist das Gebot ihres Jobs. Ich bin nicht an ihr interessiert. Die Vorstellung eines gemeinsamen Tète-à-tète kommt mir bei dieser gewiss auch attraktiven Frau gar nicht auf. Nicht mein Typ. Die Art, wie sie sich gibt, das unpersönliche Lächeln, das nicht mir gilt, der unverbindliche Blick, der sogleich wieder wegschweift – wohl bin auch ich nicht ihr Typ! – , schon ist sie wieder weg, am Tisch nebenan, wo Stammgäste sie umschwärmen. Soviel noch zum verallgemeinernden Image des sexistischen Mannes. Zurück zur Mandeläugigen:

„Ja, gerne!“ sagt sie, und ihre Aussprache verrät die Norddeutsche, weit weg von hier.
Ich ergreife also sogleich den Koffer, den ich als schwer eingeschätzt habe. Mein Gefühl hat mich nicht getäuscht: der Koffer ist verdammt schwer, viel schwerer, als ich ihn mir vorgestellt habe. Diese Frauen! Die denken ja wirklich an alle Eventualitäten, welche unvorhergesehener weise eintreten könnten. Abgesehen von Bikini, Unterwäsche, Abendkleidern und den üblichen Schminkutensilien muss da auch unbedingt der Winterpulli und die Windjacke mit (niemand ist erhaben über die Launen der Natur), und ebenso dürfen die Ersatzwanderschuhe und der Lockenwickler nicht fehlen, ganz abgesehen von den Ballettschuhen und dem Kleinkram wie Ersatzschuhbändel, Haarbändel usw. was in seinem Unmaass erst ins Gewicht fällt.
Ich lasse mir natürlich nichts anmerken (und mir kommt plötzlich der Gedanke, dass ihr prüfender Blick weniger der Vergewisserung meiner rühmlichen Absichten galt als vielmehr dem Zustand meiner körperlichen Konstitution) und schleppe den Koffer, der mindestens seine 30 Kilos hergibt, wie leichthin (aber unter Aufwendung grösster Anstrengung) auf das Perron hinunter.
Beim Absetzen des Koffers passiert es dann, wahrscheinlich eine zu schnelle Bewegung, wohl der Ischias, der sich ob der abrupten Bewegung verstreckt hat, jedenfalls: ein stechender Schmerz auf der linken Seite, über dem Kreuz. Ein elektrisierender Schmerz, der mich zusammenzucken lässt. Ich unterdrücke einen Schrei, während die junge Frau, die offenbar beträchtlich weniger schwere Tasche locker um ihre Schulter gehängt, mich fragend anschaut. Ist was? Scheint ihr Blick zu sagen. Ich tue nicht dergleichen und frage sie leichthin nach dem weiteren Fortgang ihrer Reise.
St. Moritz (ich habe es doch geahnt!), Perron 12. Ich weiss natürlich den Weg. Gottseidank leben wir im 21. Jahrhundert: der Koffer hat Räder, und ich kann ihn einigermassen elegant an dem ausziehbaren Hebel hinter mir herziehen. So kämpfe ich mich mit dem unhandlichen Ding voran, Unbeschwertheit vortäuschend, zur Unterführung, während sie lockeren Schrittes mir folgt. Ich bemühe mich, mit ihr ins Gespräch zu kommen.
„Auf Urlaub hier?“ frage ich sie.
„Ja, Trekking-Urlaub!“ Trekking? Obwohl ich den Begriff auch schon gehört habe – nie aber im Zusammenhang mit Urlaub! – verstehe ich nicht sogleich seine Bedeutung. In der Illustrierten, in der ich gerade blättere, posiert Prinz Charles mit seiner Kamelien-Dame vor dem Strand von St. Tropez, in modischer Badehose, die Hand um ein aufgerichtetes Surfbrett gelegt. Dazu ein Interview, wie sich der Adel fit hält: Surfen, Tauchen, Segelyachttouren, das sind die bevorzugten Arten des Sich-Fit-Trimmens. Aber Trekking?
Ich nehme einen Schluck Bier und registriere den gedrungenen Köter, herrenlos, gemächlich trottend aber unbeirrt, auf dem Rückweg ins traute Heim: offenbar war ihm die Pflichttour zu strapaziös geworden und er hat sich in einem unbewachten Moment ausgeklinkt, die Leine hinter sich herziehend…
Trekking? Sie schaut mich befremdet an. Ich erröte. Endlich kommt es mir in den Sinn! Trekking: das sportliche Wandern mit Stöcken! Ich habe diese Sportart immer insgeheim belächelt, wenn ich im Freien zufällig trekkenden Personen begegnete, meistens Leuten in gesetzterem Alter. Es kam mir irgendwie fehl am Platz vor, irgendwo zwischen Möchtegern und Skifahren angesiedelt, die Sportart für rüstige Rentner, ein Hobby für die alte Generation, die immer noch einigermassen fit bleiben möchte…
Bevor die Deutsche jedoch ihrem ungläubigen Staunen Ausdruck verleihen kann, lenke ich beflissentlich ein:
„Ach so! Trekking! Das Wandern mit Stöcken!“
Jetzt lächelt die junge Frau verschmitzt. Für sie, meint sie belustigt, sei das nun durchaus nicht einfach nur wandern, sie mache das professionell (soeben erscheint nun die junge Frau auf der Bildfläche, ich meine: die Frau welche den Köter ausgeführt hat, mit suchendem Blick. Ich weise sie, als sie mich erblickt, in die Richtung, in welcher der Köter davongetrottet ist. Sie lächelt. Eine Mischung von Belustigung und Verlegenheit. Die Runde nebenan hat von alldem nichts mitbekommen).
Sie müsste schauen, so die junge Deutsche, dass sie ihre Kondition nicht vernachlässige – auch im Urlaub. Das sei halt – und dabei huscht ein ironisches Lächeln über ihr Gesicht – das Los jeder Sportlerin.
Damit hat sie wohl mehr gesagt, als sie ursprünglich über sich hat preisgeben wollen, denn es entsteht eine peinliche Pause. Ich denke natürlich sofort: also eine Berufssportlerin, womöglich eine bekannte. Ich betrachte sie verstohlen vom Profil her: sollte ich sie kennen? Ist sie am Ende eine Berühmtheit? Abfahrt? Slalom? Eine Ikone auf dem Schnee?
„Auch auf Edelweisentzug?!“ Walter, der Archäologe, reisst mich mit seiner Bemerkung wieder in die Gegenwart. Er hat sich zurückgelehnt und mich als alten Stammgast des „Edelweiss“ identifiziert. Ich lächle verschwörerisch, halte mich jedoch zurück.
„Na ja,“ meine ich nur, „die schlimmsten Entzugserscheinungen habe ich bereits hinter mir: grauenvoll!“ Ein gemeinsames Lachen (sein Lachen tönt wie immer gröhlend, fast brachial, mit einer dicken Schicht antiker Tonerde darüber), dann wendet er sich wieder seinen Kumpels zu und gibt dort einen urchigen Spruch zum Besten, der seinerseits für enormes Gelächter sorgt. Gottseidank! Ich bin wieder meinen Erinnerungen überlassen: der peinliche Moment, wo ich verzweifelt die spärlichen Erinnerungen an die Szenen der letzten Wintersaison an mir passieren lasse, um mir dann resigniert einzugestehen, dass ich nicht einmal weiss, welche Dame den Welt-Cup gewonnen hat, einmal davon abgesehen, dass es mit Sicherheit keine Schweizerin war: wenigstens das hätte ich gewusst!
So sind wir bei der Auffahrt zum Perron 12 angelangt, und der Transport des schweren Koffers erfordert nun wieder meine völlige Konzentration. Zudem meldet sich wieder der Schmerz im Ischias.
Die junge Frau hat sich jetzt für ein unverfänglicheres Thema entschieden – wohl möchte sie ihr Inkognito bewahren und ihre Anspielung auf ihre Sportstätigkeit überspielen. Sie schwärmt jetzt von den schönen Schweizer Bergen und der guten Alpenluft. Das Klischee von der Schweiz, das mich angesichts ihrer Gegenwart herzlich wenig interessiert. Ausser ein paar mir peinlichen Bestätigungen (soll ich mich als Schweizer – mit italienischer Seitenader mütterlicherseits! – stolz fühlen?) fällt mir zu diesem Thema herzlich wenig ein. Ich bin ausser Atem, als wir den Aufstieg geschafft haben und nun auf Perron 12 vor der schon wartenden roten Zugskombination stehen.
Wieder spüre ich das Kreuz, als ich das schwere Stück vor den Türen des nächstbesten Wagons abstelle. Ich registriere, dass sich der Ischias vor allem bei einseitigen Tätigkeiten meldet und ich überlege mir, wie dieses Gepäckstück nun gleichseitig in den Wagon zu hieven ist; wohl kaum zu bewerkstelligen, vielleicht probiere ich es diesmal links. Ich zögere. Die Deutsche macht jedoch nicht lange Federlesens, steigt beschwingt in den Zugskorridor, stellt ihre Tasche ab und trifft Anstalten, mir beim Koffertransport zur Hand zu gehen. Das lasse ich mir aber nicht nehmen und hieve, links, das schwere Stück mit einem Ruck – der Ischias! – in die Höhe. Mit den letzten Kräften schaffe ich es gerade noch, ihn auf die Zugsplattform zu befördern, wobei ich mich innerlich vor Schmerzen krümme. Die Deutsche verstaut ihre Tasche in ein eigens dafür vorgesehenes Gestell. Zusammen stossen wir dann den Koffer in den freien Platz darunter. Noch immer ausser Atem lasse ich ihre Dankesbezeugungen über mich ergehen. In höchsten Tönen rühmt sie die typisch schweizerische Hilfsbereitschaft. Moment mal! denke ich, da läuft so einiges schief! „Ich heisse Antonio!“ sage ich zu ihr. Ich bin erschöpft, der Ischias tut teuflisch weh, und was ich jetzt auf keinen Fall brauche sind leere Worthülsen und Höflichkeitsfloskeln. Und so entschliesse ich mich zur Attacke auf das unverbindliche schöne-Alpen-nette-Schweizer-Geplänkel.
„Habe ich,“ so beginne ich, ihr nun abrupt zugewandt – und mich reitet nun wirklich der verwegene Jäger, der sein Wild aus seinem Jagdrevier entschwinden sieht – „Habe ich eigentlich schon erwähnt“ (und spätestens hier erröte ich, weil sich die Frage offensichtlich erübrigt und in eine plumpe Anmache überzugleiten droht) „ dass ich eine eindeutige Schwäche für hübsche, deutsche Blondinen hege und mir gerade überlege (jetzt hilft nur noch eins: völlige Übertreibung, die ein Körnchen Wahrheit hinterlässt), Sie bis nach St. Moritz zu begleiten, um dort in Ihrer reizenden Gesellschaft meine Kondition mit Trekking aufzumöbeln!“ Das sitzt! Ihr Kinnladen klappt nach unten. Alle Konventionen sind weggewischt. In ihrem Blick spiegelt sich blankes Entsetzen und völlige Verunsicherung. Ich kann ihre sich überschlagenden Gedanken lesen (von „Um Himmels willen!“ bis zu „Hilfe, ein Wahnsinniger!“). Von dem Moment an, wo sie mein verschmitztes Lächeln registriert, vergeht noch eine halbe Ewigkeit im Wechselbad der Gefühle, bevor sie dann die Ironie dahinter versteht und in das herzhafte Lachen ausbricht, das mich immer noch verfolgt. Es ist ein befreiendes Lachen, glucksend zuerst und noch verhalten, bevor es dann hemmungslos aus ihr hervorbricht, sich zu Quinten und Terzen vermischt und schliesslich, ergänzt und beflügelt durch meinen Bariton zu wahren Lachsalven steigert. Ein Lachen – o offenes Geheimnis – das die Welt aus den Angeln hebt. Ich habe schon ernste Leute erlebt, welche nach einem befreienden Lachen den Ernst ihrer Lage nicht mehr verstanden! Das Lachen der Deutschen im Zug vor dem schweren Koffer verwischt auf dieselbe magische Weise die Distanziertheit, die sie um sich herum aufgebaut hat und gibt nun ihr wahres Wesen frei: eine von Grund auf herzliche Person! Diese unbeschreiblichen, verspielten Augen, in denen die Ewigkeit funkelt – ich bin fasziniert! Leider dauert dieser Moment nicht lange. Noch immer lachend gibt sie mir dann die Hand und sagte:
„Monika! Tausend Dank für deine Hilfe!“ und – immer noch berauscht vom Stimmungswechsel – gibt sie mir spontan einen Kuss! Ich bin völlig perplex: damit habe ich nun überhaupt nicht gerechnet!

Natürlich muss in diesem Augenblick ausgerechnet Claude auftauchen! Claude hat die erstaunliche Begabung, immer im blödesten Moment aufzutauchen. Und er lässt sich nicht so leicht abschütteln. Da sitzt er nun plötzlich mir gegenüber am Tisch, legt seinen CD-Man auf den Tisch, streift sich den Kopfhörer ab und fragt mich mit unschuldigen, glänzenden Augen:
„Was meinst du, wieviel hat mich dieser Kopfhörer gekostet?“
(Ich weiss es: 30 Franken. Er hat mich das schon bei der letzten Begegnung gefragt.)
Absichtlich sage ich:
„100 Franken?“ (wie beim letzten Mal)
„Nein: nur 30 Franken!“ (und in seinen Augen hat dieser Kopfhörer einen beträchtlich höheren Wert!)
Worauf ich meine: „Potz tausend!“
Wie schon beim letzten Mal folgt nun dieselbe Frage:
„Was meinst du, kannst du mir eine Stange bezahlen?“ Treuherziger Blick.
Claude ist immer pleite, und das ist immer seine zweite Frage (die erste variert je nach Jahreszeit und dient der Einleitung)
Ich bin versucht, ihm ein Bisschen auf den Zahn zu fühlen und ihm 5 Franken für den Kopfhörer anzubieten, lasse es dann aber bleiben, da ich heute nicht an einer weiteren Unterhaltung interessiert bin. Also offeriere ich ihm eine Stange, worauf ich in Gedanken wieder zu der Abschiedsszene zurückkehre:
Der Kuss ist feucht, frisch, spontan, herzlich. Einen endlosen Augenblick spüre ich ihre Lippen auf meinen und schmecke den Duft von Jasmin und Holunderblüten mit einer leichten Note Lavendel. Ihre mandelförmigen Augen funkeln. Ich geniesse diesen zeitlosen Augenblick und versinke in ihren Augen…
„Kennst du die Zampano&Müllhalde GmbH?“ Das ist Claude!
„Ich habe hier die neuste CD: affengeil!“ Nein, das interessiert mich jetzt überhaupt nicht, und ganz sicher möchte ich jetzt auch keine Kostprobe davon hören, was er mir jetzt sogleich anbieten wird (wie schon das letzte Mal …)!
Das gefällt mir: wenn jemand auf meine oft brüskierend unkonventionelle Art mit derselben Verwegenheit kontert. Ja, Die Lady gefällt mir, mir gefällt auch die Art, wie sie mich jetzt – nach dem Kuss – verschmitzt anlächelt. Ich spüre: das ist Monika, diese ungestüme Art, diese Heiterkeitsausbrüche, dieser tiefe Sinn für Situationskomik, der uns beide verbindet…
„Willst du einmal hören?“ wieder Claude, der mir nun den Kopfhörer entgegenstreckt. Nein, ich will nicht, denke ich. Merkst du denn nicht: ich bin verliebt, ich höre bereits Hochzeitsglockentöne und habe keinen Bock auf Rock!
Warum habe ich sie nicht nach der Adresse gefragt, oder wenigstens nach der Natel-Nummer? Das ist mir erst in den Sinn gekommen, als ich schon draussen auf dem Perron stehe und ihr zum Abschied winke. Sie sitzt am Fenster, immer noch dieses herzliche, einnehmende Lächeln, das ihre Lippen umspielt (mit einer Prise Ironie? Schwingt da nicht auch Belustigung mit? Diese Episode: ein amüsanter Zwischenfall, über den sie später lachend ihrem Schatz in St. Moritz berichtet? Ich würde sie gerne danach fragen, aber der Zug beginnt jetzt sich zu bewegen. Telepathie? Monika scheint meine Gedanken zu lesen! Plötzlich hat sie eine Illustrierte in der Hand, blättert darin und zeigt, die Illustrierte mir zuwendend, auf ein Bild, ein Bild von ihr! Darüber ein Titel, den ich nicht mehr entziffern kann und dazu ihr Blick, der zu sagen scheint: das bin ich! Ein Fingerzeig? Findet sie mich auch sympathisch? Würde sie mich gerne wieder treffen? Monika: mein Sportstar? Sie lacht jetzt, winkt, schickt mir eine Kusshand. So entschwindet sie aus meinem Blickfeld. Werde ich sie je wiedersehen?
Erst jetzt erkenne ich, dass Claude mir immer noch seinen Kopfhörer entgegenstreckt hält.
„Bist du verliebt?“
Ich winke ab: erstaunlich, wie Claude da aus dem Stehgreif voll ins Schwarze trifft, aber er wäre der letzte, dem ich jetzt mein Herz ausschütten würde.
Zur Ablenkung frage ich ihn, ob er noch ein Bier will und blättere in der illustrierten. Mein Pulsschlag stockt.
Da ist sie: Monika! im Bikini. Sie räkelt sich in einem Liegestuhl vor einem Swimming-Pool. Tolle Figur! Sie lächelt in die Kamera. Ein gestelltes Lächeln, nicht das Lächeln am Bahnhof zum Abschied, das betörende Lächeln, das nur mir galt. Dieses Lächeln hier ist strahlende Glamour, Hollywood, zur Schau gestellt einem Publikum, das sich brennend für die privaten Dinge ihrer Stars interessiert. Mit wem geht sie, mit wem treibt sie’s im Heimlichen?
Ich lese den Titel: Monika Lisa, eine Fata Morgana?
Und im Interview erfährt man dann den Namen ihres Lovers: Antonio. Aus einer Ferienbekanntschaft wurde die Liebe ihres Lebens, wie in einem Märchen…
Ich frage mich ernsthaft: träume ich?
Aber da ist Claude, und er lässt sich nicht abwimmeln:
„Das musst du dir einmal reinziehen. Diese Rhythmen hauen dich um!“
Ergeben stülpe ich mir den Hörer über den Kopf. Das fetzige Gedröhne entlockt mir jedoch keine Begeisterungsausdrücke und ich denke, das alles ist ja nur vorübergehend: das Gedröhne aus dem Kopfhörer, die Schmerzen im Kreuz, meine Halluzinationen ebenso wie Claude und die Betriebsferien des „Edelweiss“!
 

Rumpelsstilzchen

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Nitram Resuah, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq


Viele Grüße von Rumpelsstilzchen

Redakteur in diesem Forum
 
Ich spüre einen ziehenden Schmerz in der Kreuzgegend, noch bin ich mir unschlüssig, welcher Muskel es ist, – Ischias? DER berüchtigte Schmerzmuskel? - jedenfalls ein Muskel, den ich selten gebrauche und dessen Existenz mir nun erst seit seiner Überbeanspruchung bewusst wird. In der Anatomie des menschlichen Körpers, so ein kürzlich von mir konsumiertes Lehrbuch, existieren über tausend verschiedene Muskeln, welche wir tagtäglich für unsere Bewegungen gebrauchen – oder auch nicht: der moderne, im Allgemeinen sehr bewegungsarme Lebensstil lässt verschiedene Muskeln regelrecht verkümmern zugunsten einer umso ausgeprägteren Anhäufung von Fettgewebe. Der Schmerz ist eher auf der linken Seite, über dem Becken, und macht sich vor allem bei gewissen Bewegungen wie beim Sich-Setzen oder Aufstehen bemerkbar, und ich denke, das hat vor allem auch damit zu tun, dass ich Rechtshändler bin. Vorläufig sitze ich jedoch. Ich ignoriere den Schmerz und denke lieber an etwas Angenehmeres: das Lächeln der mandeläugigen Schönheit will mir nicht aus dem Kopf! Das war kurz zuvor am Bahnhof, als ich den Zug verliess. Chur. Endstation, wenigstens für mich. Für die Reisenden aus dem Unterland geht es nun weiter mit der schmalspurigen Rhätischen Bahn. „… meine Damen und Herren, wir treffen in Chur ein. Bitte alle aussteigen…“ und „Reisende nach Disentis oder St. Moritz bitte umsteigen!...“ St. Moritz, die berühmte Feriendestination, die immer Erwähnung in den Zugsdurchsagen findet, als ob die Reise ins Engadin dort unweigerlich enden müsste. St. Moritz: ein kleines Dorf mit unzähligen Erstklasse-Hotels, die tendenziell immer weniger ausgebucht sind – wegen dem starken Schweizerfranken.

Ich blättere in einer deutschen Illustrierten mit dem Titel „im Fokus“ oder ähnlich – eine Illustrierte, die ich im „Parterre“ unter den Zeitschriften und Zeitungen gefunden habe. Einschlägiges Zielpublikum. Prominenz wie sie leibt und lebt, wer mit wem und mit wem nicht mehr und am liebsten: mit wem im Heimlichen und es ist ein Skandal, all der Klatsch und Tratsch, der mich eigentlich gar nicht interessiert. „Jana Yukanova bekommt ein Baby! Wer ist wohl der Vater? Ein (T)Pen(n)isprofi?...“ usw. Ich sitze im Freien, allein an einem Tisch, und gefalle mir in der Vorstellung, dass ich hier nur ein vorübergehender Tourist bin. Diese Vorstellung gewinnt an Realität dank der aussergewöhnlichen Tatsache, dass das „Edelweiss“, mein Stammlokal, ferienhalber geschlossen ist und ich die meisten Gäste, welche im „Parterre“ verkehren nur flüchtig kenne, was mich der Verpflichtung zum Small-Talk enthebt. Soeben ist Walter, der Archäologe, eingetroffen. Gottseidank widmet er mir nur einen kurzen Blick und setzt sich nach einem ebenso kurzen Wiedererkennungsgrunz an die illustre Runde der hiesigen Stammgäste, was viel mehr Unterhaltung verspricht. Ich nippe an meiner „Latte macchiato“, ergebe mich meiner jüngsten Vergangenheit und erlebe nochmals die Szene der Ankunft in Chur:
Ich habe gewartet, bis die Pressanten, welche sich schon vor dem Halt im Zugskorridor zum Ausgang hin angestaut haben, ausgestiegen sind (die Beschäftigung des Wartens finde ich eine ausgesprochen langweilige Tätigkeit). Einzig eine junge, adrett gekleidete Touristin steht noch im Korridor am Ende des Abteils und rückt ihr Gepäck zurecht, das aus einem riesigen Koffer und einer grossen Sporttasche besteht. Ich erkenne: sie zögert, wohl ist der Koffer sehr schwer und sie überlegt sich, was zuerst: der Koffer oder die Tasche? Jedenfalls erwacht sofort mein Helferinstinkt. Oder ist es der anerzogene Gentleman in mir? Die junge Frau ist sehr attraktiv: weisse, enganliegende Hosen, welche ihre schlanke Figur betonen, ebenso wie der knappe, grüne Top, der einen einladenden Blick auf den Ansatz ihrer kecken Brüste gewährt, ein sehr sympathisches Gesicht, blonde, wellenförmige Haare mit dunklen Strähnen (im Shetlandpony-Stil) und vor allem diese mandelförmigen Augen, leicht geschminkt – nur leicht! Ich verstehe nicht die Frauen welche ihre natürliche Schönheit mit dicken Schichten Kosmetik zu verbergen suchen! Natürlich hätte ich auch einer alten, gehbehinderten Frau auf den Gehsteig geholfen…

„Willst du noch etwas?“
Ich verstehe zuerst nicht und starre die Rothaarige an, als käme sie von einem anderen Planeten, bevor ich dann kapiere: die – durchaus hübsche – Serviertochter (aber nicht mein Fall), welche sich um das Wohlergehen der Gäste oder des Umsatzes sorgt (was genau sei dahingestellt). Richtig: der „Macchiato“ ist ausgetrunken bis auf ein kümmerliches, schäumendes Restchen, das sich höchstens noch für die Vorhersage der näheren Zukunft eignet.
„Eine Stange bitte!“ bestelle ich, wonach sie sich geschäftig wieder verzieht.

Da kommt also der unausweichliche Gedanke, der offenbar (so das Credo vieler Frauen) alle Männer – eine Horde schwanzgesteuerter Wesen – unausweichlich heimsucht: die wäre nun wirklich nicht zu verabscheuen! Dieser Gedanke – ich gebe es zu – kommt mir gelegentlich bei einer anmutigen Frau, aber ich verscheuche ihn dann jedes Mal, da ich die Frau ja nicht als Objekt meiner Begierde sehen möchte. Bin ich sexistisch? Ich denke es ist einfach das: ich bin Single und somit ein potentieller Anwärter für eine harmonische Beziehung zum anderen Geschlecht, mit Betonung auf harmonisch, was vor allem auch einen regen geistigen Austausch mit einschliesst. Eigentlich ist es nämlich gerade umgekehrt (weshalb ich die diesbezügliche Äusserung meiner Ex-Frau völlig daneben finde): fehlt nämlich diese geistige Komponente, so finde ich auch den Sex mit der betreffenden Person nicht reizvoll, auch wenn sie noch so erotische Kurven aufweist. Und auf keinen Fall bin ich jemand, der über jede dahergelaufene, anmutige und willige Frau herfällt.
Nehmen wir zum Beispiel die junge Frau, welche gerade am Platz vorbeiläuft, einen bulldoggenartigen, gedrungenen Hund im Schlepptau, dem seine Geschlechtsteile sichtlich am Hintern herunterhangen. Er ist in die Jahre gekommen und sie zieht ihn mehr hinter sich her als was ihm lieb ist, ein seltsames Gespann. Wie kommt diese schöne, junge Frau zu einem derart plumpen, ungelenken, ja hässlichen Hund? Ich kann mir nicht vorstellen, dass er ihr gehört. Viel wahrscheinlicher betreibt sie Dog-sitting, ein kleiner Nebenverdienst, womöglich ist sie noch in der Ausbildung und hat einen sehr erlesenen Geschmack. Dog-sitting stockt nur ihr Sackgeld auf. Diese hübsche Frau (die übrigens beim Vorbeigehen einen kurzen, scheuen Blick in die illustre Männerrunde nebenan geworfen hat) finde ich durchaus attraktiv, von etwas stämmiger Postur, aber immer noch schlank, dunkelhaarig, südländischer Akzent, und ich bin – im Unterschied zum Hund – an ihr prinzipiell interessiert, nicht nur, aber auch als Vertreter der männlichen Spezies homo sapiens: so, jetzt habe ich es wissenschaftlich ausgedrückt! (der Rest erübrigt sich: natürlich falle ich nicht bei der nächstbesten Gelegenheit über sie her…!).
Es wäre bestimmt interessant, mit dieser Frau ins Gespräch zu kommen, um mehr über ihren Hund herauszufinden. Mit dem Verschwinden des Hundehintern kehren jedoch meine Gedanken zurück zu der Mandeläugigen:

„Kann ich Ihnen helfen?“ (Ich wage nicht, das viel persönlichere „Du“ zu verwenden. Es handelt sich eindeutig um eine Dame der oberen Schicht, und Höflichkeit ist hier unumgänglich).
Sie blickt mich überrascht an, zuerst fast befremdet. Nach einem prüfenden Blick, in dessen Verlauf sie meine uneigennützige Hilfsbereitschaft feststellt, weicht ein dankbares Lächeln ihrem strengen Blick. Vielleicht, so denke ich, findet sie auch mich durchaus sympathisch – möglicherweise ist sie aber, obwohl alleinreisend, schon vergeben und wird bald – nachreisend – von ihrem Schatz in St. Moritz sehnlichst erwartet!

„Danke!“ sage ich, sowie die Rothaarige einen Bierteller vor mich auf dem Tisch platziert und eine Stange darauf stellt. Sie lächelt mich an, höflich, aber irgendwie distanziert: Höflichkeit ist das Gebot ihres Jobs. Ich bin nicht an ihr interessiert. Die Vorstellung eines gemeinsamen Tète-à-tète kommt mir bei dieser gewiss auch attraktiven Frau gar nicht auf. Nicht mein Typ. Die Art, wie sie sich gibt, das unpersönliche Lächeln, das nicht mir gilt, der unverbindliche Blick, der sogleich wieder wegschweift – wohl bin auch ich nicht ihr Typ! – , schon ist sie wieder weg, am Tisch nebenan, wo Stammgäste sie umschwärmen. Soviel noch zum verallgemeinernden Image des sexistischen Mannes. Zurück zur Mandeläugigen:

„Ja, gerne!“ sagt sie, und ihre Aussprache verrät die Norddeutsche, weit weg von hier.
Ich ergreife also sogleich den Koffer, den ich als schwer eingeschätzt habe. Mein Gefühl hat mich nicht getäuscht: der Koffer ist verdammt schwer, viel schwerer, als ich ihn mir vorgestellt habe. Diese Frauen! Die denken ja wirklich an alle Eventualitäten, welche unvorhergesehener weise eintreten könnten. Abgesehen von Bikini, Unterwäsche, Abendkleidern und den üblichen Schminkutensilien muss da auch unbedingt der Winterpulli und die Windjacke mit (niemand ist erhaben über die Launen der Natur), und ebenso dürfen die Ersatzwanderschuhe und der Lockenwickler nicht fehlen, ganz abgesehen von den Ballettschuhen und dem Kleinkram wie Ersatzschuhbändel, Haarbändel usw. was in seinem Unmaass erst ins Gewicht fällt.
Ich lasse mir natürlich nichts anmerken (und mir kommt plötzlich der Gedanke, dass ihr prüfender Blick weniger der Vergewisserung meiner rühmlichen Absichten galt als vielmehr dem Zustand meiner körperlichen Konstitution) und schleppe den Koffer, der mindestens seine 30 Kilos hergibt, wie leichthin (aber unter Aufwendung grösster Anstrengung) auf das Perron hinunter.
Beim Absetzen des Koffers passiert es dann, wahrscheinlich eine zu schnelle Bewegung, wohl der Ischias, der sich ob der abrupten Bewegung verstreckt hat, jedenfalls: ein stechender Schmerz auf der linken Seite, über dem Kreuz. Ein elektrisierender Schmerz, der mich zusammenzucken lässt. Ich unterdrücke einen Schrei, während die junge Frau, die offenbar beträchtlich weniger schwere Tasche locker um ihre Schulter gehängt, mich fragend anschaut. Ist was? Scheint ihr Blick zu sagen. Ich tue nicht dergleichen und frage sie leichthin nach dem weiteren Fortgang ihrer Reise.
St. Moritz (ich habe es doch geahnt!), Perron 12. Ich weiss natürlich den Weg. Gottseidank leben wir im 21. Jahrhundert: der Koffer hat Räder, und ich kann ihn einigermassen elegant an dem ausziehbaren Hebel hinter mir herziehen. So kämpfe ich mich mit dem unhandlichen Ding voran, Unbeschwertheit vortäuschend, zur Unterführung, während sie lockeren Schrittes mir folgt. Ich bemühe mich, mit ihr ins Gespräch zu kommen.
„Auf Urlaub hier?“ frage ich sie.
„Ja, Trekking-Urlaub!“ Trekking? Obwohl ich den Begriff auch schon gehört habe – nie aber im Zusammenhang mit Urlaub! – verstehe ich nicht sogleich seine Bedeutung. In der Illustrierten, in der ich gerade blättere, posiert Prinz Charles mit seiner Kamelien-Dame vor dem Strand von St. Tropez, in modischer Badehose, die Hand um ein aufgerichtetes Surfbrett gelegt. Dazu ein Interview, wie sich der Adel fit hält: Surfen, Tauchen, Segelyachttouren, das sind die bevorzugten Arten des Sich-Fit-Trimmens. Aber Trekking?
Ich nehme einen Schluck Bier und registriere den gedrungenen Köter, herrenlos, gemächlich trottend aber unbeirrt, auf dem Rückweg ins traute Heim: offenbar war ihm die Pflichttour zu strapaziös geworden und er hat sich in einem unbewachten Moment ausgeklinkt, die Leine hinter sich herziehend…
Trekking? Sie schaut mich befremdet an. Ich erröte. Endlich kommt es mir in den Sinn! Trekking: das sportliche Wandern mit Stöcken! Ich habe diese Sportart immer insgeheim belächelt, wenn ich im Freien zufällig trekkenden Personen begegnete, meistens Leuten in gesetzterem Alter. Es kam mir irgendwie fehl am Platz vor, irgendwo zwischen Möchtegern und Skifahren angesiedelt, die Sportart für rüstige Rentner, ein Hobby für die alte Generation, die immer noch einigermassen fit bleiben möchte…
Bevor die Deutsche jedoch ihrem ungläubigen Staunen Ausdruck verleihen kann, lenke ich beflissentlich ein:
„Ach so! Trekking! Das Wandern mit Stöcken!“
Jetzt lächelt die junge Frau verschmitzt. Für sie, meint sie belustigt, sei das nun durchaus nicht einfach nur wandern, sie mache das professionell (soeben erscheint nun die junge Frau auf der Bildfläche, ich meine: die Frau welche den Köter ausgeführt hat, mit suchendem Blick. Ich weise sie, als sie mich erblickt, in die Richtung, in welcher der Köter davongetrottet ist. Sie lächelt. Eine Mischung von Belustigung und Verlegenheit. Die Runde nebenan hat von alldem nichts mitbekommen).
Sie müsste schauen, so die junge Deutsche, dass sie ihre Kondition nicht vernachlässige – auch im Urlaub. Das sei halt – und dabei huscht ein ironisches Lächeln über ihr Gesicht – das Los jeder Sportlerin.
Damit hat sie wohl mehr gesagt, als sie ursprünglich über sich hat preisgeben wollen, denn es entsteht eine peinliche Pause. Ich denke natürlich sofort: also eine Berufssportlerin, womöglich eine bekannte. Ich betrachte sie verstohlen vom Profil her: sollte ich sie kennen? Ist sie am Ende eine Berühmtheit? Abfahrt? Slalom? Eine Ikone auf dem Schnee?
„Auch auf Edelweisentzug?!“ Walter, der Archäologe, reisst mich mit seiner Bemerkung wieder in die Gegenwart. Er hat sich zurückgelehnt und mich als alten Stammgast des „Edelweiss“ identifiziert. Ich lächle verschwörerisch, halte mich jedoch zurück.
„Na ja,“ meine ich nur, „die schlimmsten Entzugserscheinungen habe ich bereits hinter mir: grauenvoll!“ Ein gemeinsames Lachen (sein Lachen tönt wie immer gröhlend, fast brachial, mit einer dicken Schicht antiker Tonerde darüber), dann wendet er sich wieder seinen Kumpels zu und gibt dort einen urchigen Spruch zum Besten, der seinerseits für enormes Gelächter sorgt. Gottseidank! Ich bin wieder meinen Erinnerungen überlassen: der peinliche Moment, wo ich verzweifelt die spärlichen Erinnerungen an die Szenen der letzten Wintersaison an mir passieren lasse, um mir dann resigniert einzugestehen, dass ich nicht einmal weiss, welche Dame den Welt-Cup gewonnen hat, einmal davon abgesehen, dass es mit Sicherheit keine Schweizerin war: wenigstens das hätte ich gewusst!
So sind wir bei der Auffahrt zum Perron 12 angelangt, und der Transport des schweren Koffers erfordert nun wieder meine völlige Konzentration. Zudem meldet sich wieder der Schmerz im Ischias.
Die junge Frau hat sich jetzt für ein unverfänglicheres Thema entschieden – wohl möchte sie ihr Inkognito bewahren und ihre Anspielung auf ihre Sportstätigkeit überspielen. Sie schwärmt jetzt von den schönen Schweizer Bergen und der guten Alpenluft. Das Klischee von der Schweiz, das mich angesichts ihrer Gegenwart herzlich wenig interessiert. Ausser ein paar mir peinlichen Bestätigungen (soll ich mich als Schweizer – mit italienischer Seitenader mütterlicherseits! – stolz fühlen?) fällt mir zu diesem Thema herzlich wenig ein. Ich bin ausser Atem, als wir den Aufstieg geschafft haben und nun auf Perron 12 vor der schon wartenden roten Zugskombination stehen.
Wieder spüre ich das Kreuz, als ich das schwere Stück vor den Türen des nächstbesten Wagons abstelle. Ich registriere, dass sich der Ischias vor allem bei einseitigen Tätigkeiten meldet und ich überlege mir, wie dieses Gepäckstück nun gleichseitig in den Wagon zu hieven ist; wohl kaum zu bewerkstelligen, vielleicht probiere ich es diesmal links. Ich zögere. Die Deutsche macht jedoch nicht lange Federlesens, steigt beschwingt in den Zugskorridor, stellt ihre Tasche ab und trifft Anstalten, mir beim Koffertransport zur Hand zu gehen. Das lasse ich mir aber nicht nehmen und hieve, links, das schwere Stück mit einem Ruck – der Ischias! – in die Höhe. Mit den letzten Kräften schaffe ich es gerade noch, ihn auf die Zugsplattform zu befördern, wobei ich mich innerlich vor Schmerzen krümme. Die Deutsche verstaut ihre Tasche in ein eigens dafür vorgesehenes Gestell. Zusammen stossen wir dann den Koffer in den freien Platz darunter. Noch immer ausser Atem lasse ich ihre Dankesbezeugungen über mich ergehen. In höchsten Tönen rühmt sie die typisch schweizerische Hilfsbereitschaft. Moment mal! denke ich, da läuft so einiges schief! „Ich heisse Antonio!“ sage ich zu ihr. Ich bin erschöpft, der Ischias tut teuflisch weh, und was ich jetzt auf keinen Fall brauche sind leere Worthülsen und Höflichkeitsfloskeln. Und so entschliesse ich mich zur Attacke auf das unverbindliche schöne-Alpen-nette-Schweizer-Geplänkel.
„Habe ich,“ so beginne ich, ihr nun abrupt zugewandt – und mich reitet nun wirklich der verwegene Jäger, der sein Wild aus seinem Jagdrevier entschwinden sieht – „Habe ich eigentlich schon erwähnt“ (und spätestens hier erröte ich, weil sich die Frage offensichtlich erübrigt und in eine plumpe Anmache überzugleiten droht) „ dass ich eine eindeutige Schwäche für hübsche, deutsche Blondinen hege und mir gerade überlege (jetzt hilft nur noch eins: völlige Übertreibung, die ein Körnchen Wahrheit hinterlässt), Sie bis nach St. Moritz zu begleiten, um dort in Ihrer reizenden Gesellschaft meine Kondition mit Trekking aufzumöbeln!“ Das sitzt! Ihr Kinnladen klappt nach unten. Alle Konventionen sind weggewischt. In ihrem Blick spiegelt sich blankes Entsetzen und völlige Verunsicherung. Ich kann ihre sich überschlagenden Gedanken lesen (von „Um Himmels willen!“ bis zu „Hilfe, ein Wahnsinniger!“). Von dem Moment an, wo sie mein verschmitztes Lächeln registriert, vergeht noch eine halbe Ewigkeit im Wechselbad der Gefühle, bevor sie dann die Ironie dahinter versteht und in das herzhafte Lachen ausbricht, das mich immer noch verfolgt. Es ist ein befreiendes Lachen, glucksend zuerst und noch verhalten, bevor es dann hemmungslos aus ihr hervorbricht, sich zu Quinten und Terzen vermischt und schliesslich, ergänzt und beflügelt durch meinen Bariton zu wahren Lachsalven steigert. Ein Lachen – o offenes Geheimnis – das die Welt aus den Angeln hebt. Ich habe schon ernste Leute erlebt, welche nach einem befreienden Lachen den Ernst ihrer Lage nicht mehr verstanden! Das Lachen der Deutschen im Zug vor dem schweren Koffer verwischt auf dieselbe magische Weise die Distanziertheit, die sie um sich herum aufgebaut hat und gibt nun ihr wahres Wesen frei: eine von Grund auf herzliche Person! Diese unbeschreiblichen, verspielten Augen, in denen die Ewigkeit funkelt – ich bin fasziniert! Leider dauert dieser Moment nicht lange. Noch immer lachend gibt sie mir dann die Hand und sagte:
„Monika! Tausend Dank für deine Hilfe!“ und – immer noch berauscht vom Stimmungswechsel – gibt sie mir spontan einen Kuss! Ich bin völlig perplex: damit habe ich nun überhaupt nicht gerechnet!

Natürlich muss in diesem Augenblick ausgerechnet Claude auftauchen! Claude hat die erstaunliche Begabung, immer im blödesten Moment aufzutauchen. Und er lässt sich nicht so leicht abschütteln. Da sitzt er nun plötzlich mir gegenüber am Tisch, legt seinen CD-Man auf den Tisch, streift sich den Kopfhörer ab und fragt mich mit unschuldigen, glänzenden Augen:
„Was meinst du, wieviel hat mich dieser Kopfhörer gekostet?“
(Ich weiss es: 30 Franken. Er hat mich das schon bei der letzten Begegnung gefragt.)
Absichtlich sage ich:
„100 Franken?“ (wie beim letzten Mal)
„Nein: nur 30 Franken!“ (und in seinen Augen hat dieser Kopfhörer einen beträchtlich höheren Wert!)
Worauf ich meine: „Potz tausend!“
Wie schon beim letzten Mal folgt nun dieselbe Frage:
„Was meinst du, kannst du mir eine Stange bezahlen?“ Treuherziger Blick.
Claude ist immer pleite, und das ist immer seine zweite Frage (die erste variert je nach Jahreszeit und dient der Einleitung)
Ich bin versucht, ihm ein Bisschen auf den Zahn zu fühlen und ihm 5 Franken für den Kopfhörer anzubieten, lasse es dann aber bleiben, da ich heute nicht an einer weiteren Unterhaltung interessiert bin. Also offeriere ich ihm eine Stange, worauf ich in Gedanken wieder zu der Abschiedsszene zurückkehre:
Der Kuss ist feucht, frisch, spontan, herzlich. Einen endlosen Augenblick spüre ich ihre Lippen auf meinen und schmecke den Duft von Jasmin und Holunderblüten mit einer leichten Note Lavendel. Ihre mandelförmigen Augen funkeln. Ich geniesse diesen zeitlosen Augenblick und versinke in ihren Augen…
„Kennst du die Zampano&Müllhalde GmbH?“ Das ist Claude!
„Ich habe hier die neuste CD: affengeil!“ Nein, das interessiert mich jetzt überhaupt nicht, und ganz sicher möchte ich jetzt auch keine Kostprobe davon hören, was er mir jetzt sogleich anbieten wird (wie schon das letzte Mal …)!
Das gefällt mir: wenn jemand auf meine oft brüskierend unkonventionelle Art mit derselben Verwegenheit kontert. Ja, Die Lady gefällt mir, mir gefällt auch die Art, wie sie mich jetzt – nach dem Kuss – verschmitzt anlächelt. Ich spüre: das ist Monika, diese ungestüme Art, diese Heiterkeitsausbrüche, dieser tiefe Sinn für Situationskomik, der uns beide verbindet…
„Willst du einmal hören?“ wieder Claude, der mir nun den Kopfhörer entgegenstreckt. Nein, ich will nicht, denke ich. Merkst du denn nicht: ich bin verliebt, ich höre bereits Hochzeitsglockentöne und habe keinen Bock auf Rock!
Warum habe ich sie nicht nach der Adresse gefragt, oder wenigstens nach der Natel-Nummer? Das ist mir erst in den Sinn gekommen, als ich schon draussen auf dem Perron stehe und ihr zum Abschied winke. Sie sitzt am Fenster, immer noch dieses herzliche, einnehmende Lächeln, das ihre Lippen umspielt (mit einer Prise Ironie? Schwingt da nicht auch Belustigung mit? Diese Episode: ein amüsanter Zwischenfall, über den sie später lachend ihrem Schatz in St. Moritz berichtet? Ich würde sie gerne danach fragen, aber der Zug beginnt jetzt sich zu bewegen. Telepathie? Monika scheint meine Gedanken zu lesen! Plötzlich hat sie eine Illustrierte in der Hand, blättert darin und zeigt, die Illustrierte mir zuwendend, auf ein Bild, ein Bild von ihr! Darüber ein Titel, den ich nicht mehr entziffern kann und dazu ihr Blick, der zu sagen scheint: das bin ich! Ein Fingerzeig? Findet sie mich auch sympathisch? Würde sie mich gerne wieder treffen? Monika: mein Sportstar? Sie lacht jetzt, winkt, schickt mir eine Kusshand. So entschwindet sie aus meinem Blickfeld. Werde ich sie je wiedersehen?
Erst jetzt erkenne ich, dass Claude mir immer noch seinen Kopfhörer entgegenstreckt hält.
„Bist du verliebt?“
Ich winke ab: erstaunlich, wie Claude da aus dem Stehgreif voll ins Schwarze trifft, aber er wäre der letzte, dem ich jetzt mein Herz ausschütten würde.
Zur Ablenkung frage ich ihn, ob er noch ein Bier will und blättere in der illustrierten. Mein Pulsschlag stockt.
Da ist sie: Monika! im Bikini. Sie räkelt sich in einem Liegestuhl vor einem Swimming-Pool. Tolle Figur! Sie lächelt in die Kamera. Ein gestelltes Lächeln, nicht das Lächeln am Bahnhof zum Abschied, das betörende Lächeln, das nur mir galt. Dieses Lächeln hier ist strahlende Glamour, Hollywood, zur Schau gestellt einem Publikum, das sich brennend für die privaten Dinge ihrer Stars interessiert. Mit wem geht sie, mit wem treibt sie’s im Heimlichen?
Ich lese den Titel: Monika Lisa, eine Fata Morgana?
Und im Interview erfährt man dann den Namen ihres Lovers: Antonio. Aus einer Ferienbekanntschaft wurde die Liebe ihres Lebens, wie in einem Märchen…
Ich frage mich ernsthaft: träume ich?
Aber da ist Claude, und er lässt sich nicht abwimmeln:
„Das musst du dir einmal reinziehen. Diese Rhythmen hauen dich um!“
Ergeben stülpe ich mir den Hörer über den Kopf. Das fetzige Gedröhne entlockt mir jedoch keine Begeisterungsausdrücke und ich denke, das alles ist ja nur vorübergehend: das Gedröhne aus dem Kopfhörer, die Schmerzen im Kreuz, meine Halluzinationen ebenso wie Claude und die Betriebsferien des „Edelweiss“!
 
Ich spüre einen ziehenden Schmerz in der Kreuzgegend, noch bin ich mir unschlüssig, welcher Muskel es ist, – Ischias? DER berüchtigte Schmerzmuskel? - jedenfalls ein Muskel, den ich selten gebrauche und dessen Existenz mir nun erst seit seiner Überbeanspruchung bewusst wird. In der Anatomie des menschlichen Körpers, so ein kürzlich von mir konsumiertes Lehrbuch, existieren über tausend verschiedene Muskeln, welche wir tagtäglich für unsere Bewegungen gebrauchen – oder auch nicht: der moderne, im Allgemeinen sehr bewegungsarme Lebensstil lässt verschiedene Muskeln regelrecht verkümmern zugunsten einer umso ausgeprägteren Anhäufung von Fettgewebe. Der Schmerz ist eher auf der linken Seite, über dem Becken, und macht sich vor allem bei gewissen Bewegungen wie beim Sich-Setzen oder Aufstehen bemerkbar, und ich denke, das hat vor allem auch damit zu tun, dass ich Rechtshändler bin. Vorläufig sitze ich jedoch. Ich ignoriere den Schmerz und denke lieber an etwas Angenehmeres: das Lächeln der mandeläugigen Schönheit will mir nicht aus dem Kopf! Das war kurz zuvor am Bahnhof, als ich den Zug verliess. Chur. Endstation, wenigstens für mich. Für die Reisenden aus dem Unterland geht es nun weiter mit der schmalspurigen Rhätischen Bahn. „… meine Damen und Herren, wir treffen in Chur ein. Bitte alle aussteigen…“ und „Reisende nach Disentis oder St. Moritz bitte umsteigen!...“ St. Moritz, die berühmte Feriendestination, die immer Erwähnung in den Zugsdurchsagen findet, als ob die Reise ins Engadin dort unweigerlich enden müsste. St. Moritz: ein kleines Dorf mit unzähligen Erstklasse-Hotels, die tendenziell immer weniger ausgebucht sind – wegen dem starken Schweizerfranken.

Ich blättere in einer deutschen Illustrierten mit dem Titel „im Fokus“ oder ähnlich – eine Illustrierte, die ich im „Parterre“ unter den Zeitschriften und Zeitungen gefunden habe. Einschlägiges Zielpublikum. Prominenz wie sie leibt und lebt, wer mit wem und mit wem nicht mehr und am liebsten: mit wem im Heimlichen und es ist ein Skandal, all der Klatsch und Tratsch, der mich eigentlich gar nicht interessiert. „Jana Yukanova bekommt ein Baby! Wer ist wohl der Vater? Ein (T)Pen(n)isprofi?...“ usw. Ich sitze im Freien, allein an einem Tisch, und gefalle mir in der Vorstellung, dass ich hier nur ein vorübergehender Tourist bin. Diese Vorstellung gewinnt an Realität dank der aussergewöhnlichen Tatsache, dass das „Edelweiss“, mein Stammlokal, ferienhalber geschlossen ist und ich die meisten Gäste, welche im „Parterre“ verkehren nur flüchtig kenne, was mich der Verpflichtung zum Small-Talk enthebt. Soeben ist Walter, der Archäologe, eingetroffen. Gottseidank widmet er mir nur einen kurzen Blick und setzt sich nach einem ebenso kurzen Wiedererkennungsgrunz an die illustre Runde der hiesigen Stammgäste, was viel mehr Unterhaltung verspricht. Ich nippe an meiner „Latte macchiato“, ergebe mich meiner jüngsten Vergangenheit und erlebe nochmals die Szene der Ankunft in Chur:
Ich habe gewartet, bis die Pressanten, welche sich schon vor dem Halt im Zugskorridor zum Ausgang hin angestaut haben, ausgestiegen sind (die Beschäftigung des Wartens finde ich eine ausgesprochen langweilige Tätigkeit). Einzig eine junge, adrett gekleidete Touristin steht noch im Korridor am Ende des Abteils und rückt ihr Gepäck zurecht, das aus einem riesigen Koffer und einer grossen Sporttasche besteht. Ich erkenne: sie zögert, wohl ist der Koffer sehr schwer und sie überlegt sich, was zuerst: der Koffer oder die Tasche? Jedenfalls erwacht sofort mein Helferinstinkt. Oder ist es der anerzogene Gentleman in mir? Die junge Frau ist sehr attraktiv: weisse, enganliegende Hosen, welche ihre schlanke Figur betonen, ebenso wie der knappe, grüne Top, der einen einladenden Blick auf den Ansatz ihrer kecken Brüste gewährt, ein sehr sympathisches Gesicht, blonde, wellenförmige Haare mit dunklen Strähnen (im Shetlandpony-Stil) und vor allem diese mandelförmigen Augen, leicht geschminkt – nur leicht! Ich verstehe nicht die Frauen welche ihre natürliche Schönheit mit dicken Schichten Kosmetik zu verbergen suchen! Natürlich hätte ich auch einer alten, gehbehinderten Frau auf den Gehsteig geholfen…

„Willst du noch etwas?“
Ich verstehe zuerst nicht und starre die Rothaarige an, als käme sie von einem anderen Planeten, bevor ich dann kapiere: die – durchaus hübsche – Serviertochter (aber nicht mein Fall), welche sich um das Wohlergehen der Gäste oder des Umsatzes sorgt (was genau sei dahingestellt). Richtig: der „Macchiato“ ist ausgetrunken bis auf ein kümmerliches, schäumendes Restchen, das sich höchstens noch für die Vorhersage der näheren Zukunft eignet.
„Eine Stange bitte!“ bestelle ich, wonach sie sich geschäftig wieder verzieht.

Da kommt also der unausweichliche Gedanke, der offenbar (so das Credo vieler Frauen) alle Männer – eine Horde schwanzgesteuerter Wesen – unausweichlich heimsucht: die wäre nun wirklich nicht zu verabscheuen! Dieser Gedanke – ich gebe es zu – kommt mir gelegentlich bei einer anmutigen Frau, aber ich verscheuche ihn dann jedes Mal, da ich die Frau ja nicht als Objekt meiner Begierde sehen möchte. Bin ich sexistisch? Ich denke es ist einfach das: ich bin Single und somit ein potentieller Anwärter für eine harmonische Beziehung zum anderen Geschlecht, mit Betonung auf harmonisch, was vor allem auch einen regen geistigen Austausch mit einschliesst. Eigentlich ist es nämlich gerade umgekehrt (weshalb ich die diesbezügliche Äusserung meiner Ex-Frau völlig daneben finde): fehlt nämlich diese geistige Komponente, so finde ich auch den Sex mit der betreffenden Person nicht reizvoll, auch wenn sie noch so erotische Kurven aufweist. Und auf keinen Fall bin ich jemand, der über jede dahergelaufene, anmutige und willige Frau herfällt.
Nehmen wir zum Beispiel die junge Frau, welche gerade am Platz vorbeiläuft, einen bulldoggenartigen, gedrungenen Hund im Schlepptau, dem seine Geschlechtsteile sichtlich am Hintern herunterhangen. Er ist in die Jahre gekommen und sie zieht ihn mehr hinter sich her als was ihm lieb ist, ein seltsames Gespann. Wie kommt diese schöne, junge Frau zu einem derart plumpen, ungelenken, ja hässlichen Hund? Ich kann mir nicht vorstellen, dass er ihr gehört. Viel wahrscheinlicher betreibt sie Dog-sitting, ein kleiner Nebenverdienst, womöglich ist sie noch in der Ausbildung und hat einen sehr erlesenen Geschmack. Dog-sitting stockt nur ihr Sackgeld auf. Diese hübsche Frau (die übrigens beim Vorbeigehen einen kurzen, scheuen Blick in die illustre Männerrunde nebenan geworfen hat) finde ich durchaus attraktiv, von etwas stämmiger Postur, aber immer noch schlank, dunkelhaarig, südländischer Akzent, und ich bin – im Unterschied zum Hund – an ihr prinzipiell interessiert, nicht nur, aber auch als Vertreter der männlichen Spezies homo sapiens: so, jetzt habe ich es wissenschaftlich ausgedrückt! (der Rest erübrigt sich: natürlich falle ich nicht bei der nächstbesten Gelegenheit über sie her…!).
Es wäre bestimmt interessant, mit dieser Frau ins Gespräch zu kommen, um mehr über ihren Hund herauszufinden. Mit dem Verschwinden des Hundehintern kehren jedoch meine Gedanken zurück zu der Mandeläugigen:

„Kann ich Ihnen helfen?“ (Ich wage nicht, das viel persönlichere „Du“ zu verwenden. Es handelt sich eindeutig um eine Dame der oberen Schicht, und Höflichkeit ist hier unumgänglich).
Sie blickt mich überrascht an, zuerst fast befremdet. Nach einem prüfenden Blick, in dessen Verlauf sie meine uneigennützige Hilfsbereitschaft feststellt, weicht ein dankbares Lächeln ihrem strengen Blick. Vielleicht, so denke ich, findet sie auch mich durchaus sympathisch – möglicherweise ist sie aber, obwohl alleinreisend, schon vergeben und wird bald – nachreisend – von ihrem Schatz in St. Moritz sehnlichst erwartet!

„Danke!“ sage ich, sowie die Rothaarige einen Bierteller vor mich auf dem Tisch platziert und eine Stange darauf stellt. Sie lächelt mich an, höflich, aber irgendwie distanziert: Höflichkeit ist das Gebot ihres Jobs. Ich bin nicht an ihr interessiert. Die Vorstellung eines gemeinsamen Tète-à-tète kommt mir bei dieser gewiss auch attraktiven Frau gar nicht auf. Nicht mein Typ. Die Art, wie sie sich gibt, das unpersönliche Lächeln, das nicht mir gilt, der unverbindliche Blick, der sogleich wieder wegschweift – wohl bin auch ich nicht ihr Typ! – , schon ist sie wieder weg, am Tisch nebenan, wo Stammgäste sie umschwärmen. Soviel noch zum verallgemeinernden Image des sexistischen Mannes. Zurück zur Mandeläugigen:

„Ja, gerne!“ sagt sie, und ihre Aussprache verrät die Norddeutsche, weit weg von hier.
Ich ergreife also sogleich den Koffer, den ich als schwer eingeschätzt habe. Mein Gefühl hat mich nicht getäuscht: der Koffer ist verdammt schwer, viel schwerer, als ich ihn mir vorgestellt habe. Diese Frauen! Die denken ja wirklich an alle Eventualitäten, welche unvorhergesehener weise eintreten könnten. Abgesehen von Bikini, Unterwäsche, Abendkleidern und den üblichen Schminkutensilien muss da auch unbedingt der Winterpulli und die Windjacke mit (niemand ist erhaben über die Launen der Natur), und ebenso dürfen die Ersatzwanderschuhe und der Lockenwickler nicht fehlen, ganz abgesehen von den Ballettschuhen und dem Kleinkram wie Ersatzschuhbändel, Haarbändel usw. was in seinem Unmaass erst ins Gewicht fällt.
Ich lasse mir natürlich nichts anmerken (und mir kommt plötzlich der Gedanke, dass ihr prüfender Blick weniger der Vergewisserung meiner rühmlichen Absichten galt als vielmehr dem Zustand meiner körperlichen Konstitution) und schleppe den Koffer, der mindestens seine 30 Kilos hergibt, wie leichthin (aber unter Aufwendung grösster Anstrengung) auf das Perron hinunter.
Beim Absetzen des Koffers passiert es dann, wahrscheinlich eine zu schnelle Bewegung, wohl der Ischias, der sich ob der abrupten Bewegung verstreckt hat, jedenfalls: ein stechender Schmerz auf der linken Seite, über dem Kreuz. Ein elektrisierender Schmerz, der mich zusammenzucken lässt. Ich unterdrücke einen Schrei, während die junge Frau, die offenbar beträchtlich weniger schwere Tasche locker um ihre Schulter gehängt, mich fragend anschaut. Ist was? Scheint ihr Blick zu sagen. Ich tue nicht dergleichen und frage sie leichthin nach dem weiteren Fortgang ihrer Reise.
St. Moritz (ich habe es doch geahnt!), Perron 12. Ich weiss natürlich den Weg. Gottseidank leben wir im 21. Jahrhundert: der Koffer hat Räder, und ich kann ihn einigermassen elegant an dem ausziehbaren Hebel hinter mir herziehen. So kämpfe ich mich mit dem unhandlichen Ding voran, Unbeschwertheit vortäuschend, zur Unterführung, während sie lockeren Schrittes mir folgt. Ich bemühe mich, mit ihr ins Gespräch zu kommen.
„Auf Urlaub hier?“ frage ich sie.
„Ja, Trekking-Urlaub!“ Trekking? Obwohl ich den Begriff auch schon gehört habe – nie aber im Zusammenhang mit Urlaub! – verstehe ich nicht sogleich seine Bedeutung. In der Illustrierten, in der ich gerade blättere, posiert Prinz Charles mit seiner Kamelien-Dame vor dem Strand von St. Tropez, in modischer Badehose, die Hand um ein aufgerichtetes Surfbrett gelegt. Dazu ein Interview, wie sich der Adel fit hält: Surfen, Tauchen, Segelyachttouren, das sind die bevorzugten Arten des Sich-Fit-Trimmens. Aber Trekking?
Ich nehme einen Schluck Bier und registriere den gedrungenen Köter, herrenlos, gemächlich trottend aber unbeirrt, auf dem Rückweg ins traute Heim: offenbar war ihm die Pflichttour zu strapaziös geworden und er hat sich in einem unbewachten Moment ausgeklinkt, die Leine hinter sich herziehend…
Trekking? Sie schaut mich befremdet an. Ich erröte. Endlich kommt es mir in den Sinn! Trekking: das sportliche Wandern mit Stöcken! Ich habe diese Sportart immer insgeheim belächelt, wenn ich im Freien zufällig trekkenden Personen begegnete, meistens Leuten in gesetzterem Alter. Es kam mir irgendwie fehl am Platz vor, irgendwo zwischen Möchtegern und Skifahren angesiedelt, die Sportart für rüstige Rentner, ein Hobby für die alte Generation, die immer noch einigermassen fit bleiben möchte…
Bevor die Deutsche jedoch ihrem ungläubigen Staunen Ausdruck verleihen kann, lenke ich beflissentlich ein:
„Ach so! Trekking! Das Wandern mit Stöcken!“
Jetzt lächelt die junge Frau verschmitzt. Für sie, meint sie belustigt, sei das nun durchaus nicht einfach nur wandern, sie mache das professionell (soeben erscheint nun die junge Frau auf der Bildfläche, ich meine: die Frau welche den Köter ausgeführt hat, mit suchendem Blick. Ich weise sie, als sie mich erblickt, in die Richtung, in welcher der Köter davongetrottet ist. Sie lächelt. Eine Mischung von Belustigung und Verlegenheit. Die Runde nebenan hat von alldem nichts mitbekommen).
Sie müsste schauen, so die junge Deutsche, dass sie ihre Kondition nicht vernachlässige – auch im Urlaub. Das sei halt – und dabei huscht ein ironisches Lächeln über ihr Gesicht – das Los jeder Sportlerin.
Damit hat sie wohl mehr gesagt, als sie ursprünglich über sich hat preisgeben wollen, denn es entsteht eine peinliche Pause. Ich denke natürlich sofort: also eine Berufssportlerin, womöglich eine bekannte. Ich betrachte sie verstohlen vom Profil her: sollte ich sie kennen? Ist sie am Ende eine Berühmtheit? Abfahrt? Slalom? Eine Ikone auf dem Schnee?
„Auch auf Edelweisentzug?!“ Walter, der Archäologe, reisst mich mit seiner Bemerkung wieder in die Gegenwart. Er hat sich zurückgelehnt und mich als alten Stammgast des „Edelweiss“ identifiziert. Ich lächle verschwörerisch, halte mich jedoch zurück.
„Na ja,“ meine ich nur, „die schlimmsten Entzugserscheinungen habe ich bereits hinter mir: grauenvoll!“ Ein gemeinsames Lachen (sein Lachen tönt wie immer gröhlend, fast brachial, mit einer dicken Schicht antiker Tonerde darüber), dann wendet er sich wieder seinen Kumpels zu und gibt dort einen urchigen Spruch zum Besten, der seinerseits für enormes Gelächter sorgt. Gottseidank! Ich bin wieder meinen Erinnerungen überlassen: der peinliche Moment, wo ich verzweifelt die spärlichen Erinnerungen an die Szenen der letzten Wintersaison an mir passieren lasse, um mir dann resigniert einzugestehen, dass ich nicht einmal weiss, welche Dame den Welt-Cup gewonnen hat, einmal davon abgesehen, dass es mit Sicherheit keine Schweizerin war: wenigstens das hätte ich gewusst!
So sind wir bei der Auffahrt zum Perron 12 angelangt, und der Transport des schweren Koffers erfordert nun wieder meine völlige Konzentration. Zudem meldet sich wieder der Schmerz im Ischias.
Die junge Frau hat sich jetzt für ein unverfänglicheres Thema entschieden – wohl möchte sie ihr Inkognito bewahren und ihre Anspielung auf ihre Sportstätigkeit überspielen. Sie schwärmt jetzt von den schönen Schweizer Bergen und der guten Alpenluft. Das Klischee von der Schweiz, das mich angesichts ihrer Gegenwart herzlich wenig interessiert. Ausser ein paar mir peinlichen Bestätigungen (soll ich mich als Schweizer – mit italienischer Seitenader mütterlicherseits! – stolz fühlen?) fällt mir zu diesem Thema herzlich wenig ein. Ich bin ausser Atem, als wir den Aufstieg geschafft haben und nun auf Perron 12 vor der schon wartenden roten Zugskombination stehen.
Wieder spüre ich das Kreuz, als ich das schwere Stück vor den Türen des nächstbesten Wagons abstelle. Ich registriere, dass sich der Ischias vor allem bei einseitigen Tätigkeiten meldet und ich überlege mir, wie dieses Gepäckstück nun gleichseitig in den Wagon zu hieven ist; wohl kaum zu bewerkstelligen, vielleicht probiere ich es diesmal links. Ich zögere. Die Deutsche macht jedoch nicht lange Federlesens, steigt beschwingt in den Zugskorridor, stellt ihre Tasche ab und trifft Anstalten, mir beim Koffertransport zur Hand zu gehen. Das lasse ich mir aber nicht nehmen und hieve, links, das schwere Stück mit einem Ruck – der Ischias! – in die Höhe. Mit den letzten Kräften schaffe ich es gerade noch, ihn auf die Zugsplattform zu befördern, wobei ich mich innerlich vor Schmerzen krümme. Die Deutsche verstaut ihre Tasche in ein eigens dafür vorgesehenes Gestell. Zusammen stossen wir dann den Koffer in den freien Platz darunter. Noch immer ausser Atem lasse ich ihre Dankesbezeugungen über mich ergehen. In höchsten Tönen rühmt sie die typisch schweizerische Hilfsbereitschaft. Moment mal! denke ich, da läuft so einiges schief! „Ich heisse Antonio!“ sage ich zu ihr. Ich bin erschöpft, der Ischias tut teuflisch weh, und was ich jetzt auf keinen Fall brauche sind leere Worthülsen und Höflichkeitsfloskeln. Und so entschliesse ich mich zur Attacke auf das unverbindliche schöne-Alpen-nette-Schweizer-Geplänkel.
„Habe ich,“ so beginne ich, ihr nun abrupt zugewandt – und mich reitet nun wirklich der verwegene Jäger, der sein Wild aus seinem Jagdrevier entschwinden sieht – „Habe ich eigentlich schon erwähnt“ (und spätestens hier erröte ich, weil sich die Frage offensichtlich erübrigt und in eine plumpe Anmache überzugleiten droht) „ dass ich eine eindeutige Schwäche für hübsche, deutsche Blondinen hege und mir gerade überlege (jetzt hilft nur noch eins: völlige Übertreibung, die ein Körnchen Wahrheit hinterlässt), Sie bis nach St. Moritz zu begleiten, um dort in Ihrer reizenden Gesellschaft meine Kondition mit Trekking aufzumöbeln!“ Das sitzt! Ihr Kinnladen klappt nach unten. Alle Konventionen sind weggewischt. In ihrem Blick spiegelt sich blankes Entsetzen und völlige Verunsicherung. Ich kann ihre sich überschlagenden Gedanken lesen (von „Um Himmels willen!“ bis zu „Hilfe, ein Wahnsinniger!“). Von dem Moment an, wo sie mein verschmitztes Lächeln registriert, vergeht noch eine halbe Ewigkeit im Wechselbad der Gefühle, bevor sie dann die Ironie dahinter versteht und in das herzhafte Lachen ausbricht, das mich immer noch verfolgt. Es ist ein befreiendes Lachen, glucksend zuerst und noch verhalten, bevor es dann hemmungslos aus ihr hervorbricht, sich zu Quinten und Terzen vermischt und schliesslich, ergänzt und beflügelt durch meinen Bariton zu wahren Lachsalven steigert. Ein Lachen – o offenes Geheimnis – das die Welt aus den Angeln hebt. Ich habe schon ernste Leute erlebt, welche nach einem befreienden Lachen den Ernst ihrer Lage nicht mehr verstanden! Das Lachen der Deutschen im Zug vor dem schweren Koffer verwischt auf dieselbe magische Weise die Distanziertheit, die sie um sich herum aufgebaut hat und gibt nun ihr wahres Wesen frei: eine von Grund auf herzliche Person! Diese unbeschreiblichen, verspielten Augen, in denen die Ewigkeit funkelt – ich bin fasziniert! Leider dauert dieser Moment nicht lange. Noch immer lachend gibt sie mir dann die Hand und sagte:
„Monika! Tausend Dank für deine Hilfe!“ und – immer noch berauscht vom Stimmungswechsel – gibt sie mir spontan einen Kuss! Ich bin völlig perplex: damit habe ich nun überhaupt nicht gerechnet!

Natürlich muss in diesem Augenblick ausgerechnet Claude auftauchen! Claude hat die erstaunliche Begabung, immer im blödesten Moment aufzutauchen. Und er lässt sich nicht so leicht abschütteln. Da sitzt er nun plötzlich mir gegenüber am Tisch, legt seinen CD-Man auf den Tisch, streift sich den Kopfhörer ab und fragt mich mit unschuldigen, glänzenden Augen:
„Was meinst du, wieviel hat mich dieser Kopfhörer gekostet?“
(Ich weiss es: 30 Franken. Er hat mich das schon bei der letzten Begegnung gefragt.)
Absichtlich sage ich:
„100 Franken?“ (wie beim letzten Mal)
„Nein: nur 30 Franken!“ (und in seinen Augen hat dieser Kopfhörer einen beträchtlich höheren Wert!)
Worauf ich meine: „Potz tausend!“
Wie schon beim letzten Mal folgt nun dieselbe Frage:
„Was meinst du, kannst du mir eine Stange bezahlen?“ Treuherziger Blick.
Claude ist immer pleite, und das ist immer seine zweite Frage (die erste variert je nach Jahreszeit und dient der Einleitung)
Ich bin versucht, ihm ein Bisschen auf den Zahn zu fühlen und ihm 5 Franken für den Kopfhörer anzubieten, lasse es dann aber bleiben, da ich heute nicht an einer weiteren Unterhaltung interessiert bin. Also offeriere ich ihm eine Stange, worauf ich in Gedanken wieder zu der Abschiedsszene zurückkehre:
Der Kuss ist feucht, frisch, spontan, herzlich. Einen endlosen Augenblick spüre ich ihre Lippen auf meinen und schmecke den Duft von Jasmin und Holunderblüten mit einer leichten Note Lavendel. Ihre mandelförmigen Augen funkeln. Ich geniesse diesen zeitlosen Augenblick und versinke in ihren Augen…
„Kennst du die Zampano&Müllhalde GmbH?“ Das ist Claude!
„Ich habe hier die neuste CD: affengeil!“ Nein, das interessiert mich jetzt überhaupt nicht, und ganz sicher möchte ich jetzt auch keine Kostprobe davon hören, was er mir jetzt sogleich anbieten wird (wie schon das letzte Mal …)!
Das gefällt mir: wenn jemand auf meine oft brüskierend unkonventionelle Art mit derselben Verwegenheit kontert. Ja, Die Lady gefällt mir, mir gefällt auch die Art, wie sie mich jetzt – nach dem Kuss – verschmitzt anlächelt. Ich spüre: das ist Monika, diese ungestüme Art, diese Heiterkeitsausbrüche, dieser tiefe Sinn für Situationskomik, der uns beide verbindet…
„Willst du einmal hören?“ wieder Claude, der mir nun den Kopfhörer entgegenstreckt. Nein, ich will nicht, denke ich. Merkst du denn nicht: ich bin verliebt, ich höre bereits Hochzeitsglockentöne und habe keinen Bock auf Rock!
Warum habe ich sie nicht nach der Adresse gefragt, oder wenigstens nach der Natel-Nummer? Das ist mir erst in den Sinn gekommen, als ich schon draussen auf dem Perron stehe und ihr zum Abschied winke. Sie sitzt am Fenster, immer noch dieses herzliche, einnehmende Lächeln, das ihre Lippen umspielt (mit einer Prise Ironie? Schwingt da nicht auch Belustigung mit? Diese Episode: ein amüsanter Zwischenfall, über den sie später lachend ihrem Schatz in St. Moritz berichtet? Ich würde sie gerne danach fragen, aber der Zug beginnt jetzt sich zu bewegen. Telepathie? Monika scheint meine Gedanken zu lesen! Plötzlich hat sie eine Illustrierte in der Hand, blättert darin und zeigt, die Illustrierte mir zuwendend, auf ein Bild, ein Bild von ihr! Darüber ein Titel, den ich nicht mehr entziffern kann und dazu ihr Blick, der zu sagen scheint: das bin ich! Ein Fingerzeig? Findet sie mich auch sympathisch? Würde sie mich gerne wieder treffen? Monika: mein Sportstar? Sie lacht jetzt, winkt, schickt mir eine Kusshand. So entschwindet sie aus meinem Blickfeld. Werde ich sie je wiedersehen?
Erst jetzt erkenne ich, dass Claude mir immer noch seinen Kopfhörer entgegenstreckt hält.
„Bist du verliebt?“
Ich winke ab: erstaunlich, wie Claude da aus dem Stehgreif voll ins Schwarze trifft, aber er wäre der letzte, dem ich jetzt mein Herz ausschütten würde.
Zur Ablenkung frage ich ihn, ob er noch ein Bier will und blättere in der illustrierten. Mein Pulsschlag stockt.
Da ist sie: Monika! im Bikini. Sie räkelt sich in einem Liegestuhl vor einem Swimming-Pool. Tolle Figur! Sie lächelt in die Kamera. Ein gestelltes Lächeln, nicht das Lächeln am Bahnhof zum Abschied, das betörende Lächeln, das nur mir galt. Dieses Lächeln hier ist strahlende Glamour, Hollywood, zur Schau gestellt einem Publikum, das sich brennend für die privaten Dinge ihrer Stars interessiert. Mit wem geht sie, mit wem treibt sie’s im Heimlichen?
Ich lese den Titel: Monika Lisa, eine Fata Morgana?
Und im Interview erfährt man dann den Namen ihres Lovers: Antonio. Aus einer Ferienbekanntschaft wurde die Liebe ihres Lebens, wie in einem Märchen…
Ich frage mich ernsthaft: träume ich?
Aber da ist Claude, und er lässt sich nicht abwimmeln:
„Das musst du dir einmal reinziehen. Diese Rhythmen hauen dich um!“
Ergeben stülpe ich mir den Hörer über den Kopf. Das fetzige Gedröhne entlockt mir jedoch keine Begeisterungsausdrücke und ich denke, das alles ist ja nur vorübergehend: das Gedröhne aus dem Kopfhörer, die Schmerzen im Kreuz, meine Halluzinationen ebenso wie Claude und die Betriebsferien des „Edelweiss“!
 

Mistralgitter

Mitglied
Hallo Martin,

jetzt habe ich die Geschichte drei Mal gelesen und finde die Idee, eine solche Begebenheit auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig zu erzählen, richtig gut. Du erzählst flüssig und drückst dich gekonnt aus, das Ganze ist spannend. Und am Ende wartest du mit einer gelungenen Überraschung auf, die aber den Leser trotz der "Auflösung" doch in der Spannung belässt, ob nicht alles eine Halluzination war, was der Prot. erlebte.

Einzig die Sache mit dem Ischias: Der ist kein Muskel, sondern ein (u.U. nerviger) Nerv. Zum Teil habe ich mich gefragt, ob dieser Ischias nicht überflüssig ist, also eigentlich keinen Beitrag zum Fortgang der Geschichte liefert. Oder könntest du außer der Beschreibung der Schmerzen noch etwas erfinden, was dem Ischias eine "tragende" Rolle in der Geschichte zuweist?

Ein paar kleine RS - Ungenauigkeiten (z.B. gegen Ende gibt es ein "Edelweis" mit fehlendem zweiten "s"... u.a.) findest du sicher beim erneuten Durchsehen. Da es schon spät ist, bin ich zu träge, sie dir herauszusuchen - sie sind aber für den positiven Gesamteindruck unerheblich.

Und wie wäre es mit einer schnittigen Überschrift? "Satire" finde ich zu allgemein.

Aber insgesamt: Deine Geschichte macht Lust auf mehr.

Viele Grüße
Mistralgitter
 

Mistralgitter

Mitglied
So, nun habe ich mich mal an die Arbeit gemacht - und das ist das Ergebnis. Vielleicht magst du das eine oder andere übernehmen.
Viele Grüße
Mistralgitter


Ich spüre einen ziehenden Schmerz in der Kreuzgegend, noch bin ich mir unschlüssig,
entweder: noch bin ich unschlüssig
oder: noch bin ich mir unsicher


welcher Muskel es ist, – Ischias? DER berüchtigte Schmerzmuskel? - jedenfalls ein Muskel, den ich selten gebrauche und dessen Existenz mir nun erst seit seiner Überbeanspruchung bewusst wird.
Der Ischias ist ein Nerv – daher: das Folgende überarbeiten oder streichen

In der Anatomie des menschlichen Körpers, so ein kürzlich von mir konsumiertes Lehrbuch, existieren über tausend verschiedene Muskeln, welche wir tagtäglich für unsere Bewegungen gebrauchen – oder auch nicht: der moderne, im Allgemeinen sehr bewegungsarme Lebensstil lässt verschiedene Muskeln regelrecht verkümmern zugunsten einer umso ausgeprägteren Anhäufung von Fettgewebe.
Der Schmerz ist eher auf der linken Seite, über dem Becken, und macht sich vor allem bei gewissen Bewegungen wie beim Sich-Setzen oder Aufstehen bemerkbar, und ich denke, das hat vor allem auch damit zu tun, dass ich Rechtshändler bin.
Rechtshänder

Vorläufig sitze ich jedoch. Ich ignoriere den Schmerz und denke lieber an etwas Angenehmeres: das Lächeln der mandeläugigen Schönheit will mir nicht aus dem Kopf! Das war kurz zuvor am Bahnhof, als ich den Zug verliess.
verließ (nach dt. Rechtschreibung)
Das Ganze ist unglücklich formuliert. Vorschlag: Den Satz streichen und einen Absatz machen.


Chur. Endstation, wenigstens für mich. Für die Reisenden aus dem Unterland geht es nun weiter mit der schmalspurigen Rhätischen Bahn. „… meine Damen und Herren, wir treffen in Chur ein. Bitte alle aussteigen…“ und „Reisende nach Disentis oder St. Moritz bitte umsteigen!...“

„Meine Damen und Herren, wir treffen in Chur ein. Bitte alle aussteigen. Reisende nach Disentis oder St. Moritz bitte umsteigen!“

St. Moritz, die berühmte Feriendestination, die immer Erwähnung in den Zugsdurchsagen
Zugdurchsagen

findet, als ob die Reise ins Engadin dort unweigerlich enden müsste. St. Moritz: ein kleines Dorf mit unzähligen Erstklasse-Hotels, die tendenziell immer weniger ausgebucht sind – wegen dem starken Schweizerfranken.
wegen des starken Schweizer Franken (oder noch besser: umformulieren)

Ich blättere in einer deutschen Illustrierten mit dem Titel „im Fokus
„Im Fokus“

oder ähnlich – eine Illustrierte, die ich im „Parterre“ unter den Zeitschriften und Zeitungen gefunden habe. Einschlägiges Zielpublikum. Prominenz wie sie leibt und lebt, wer mit wem und mit wem nicht mehr und am liebsten: mit wem im Heimlichen und es ist ein Skandal, all der Klatsch und Tratsch, der mich eigentlich gar nicht interessiert. „Jana Yukanova bekommt ein Baby! Wer ist wohl der Vater? Ein (T)Pen(n)isprofi?...“ usw.

Ich sitze im Freien, allein an einem Tisch, und gefalle mir in der Vorstellung, dass ich hier nur ein vorübergehender Tourist bin. Diese Vorstellung gewinnt an Realität dank der aussergewöhnlichen Tatsache, dass das „Edelweiss“,
außergewöhnlichen, Edelweiß (dt. Rechtschreibung)
Alle weiteren „ss“ Worte im Text habe ich nicht mehr verbessert.


mein Stammlokal, ferienhalber geschlossen ist und ich die meisten Gäste, welche im „Parterre“ verkehren nur flüchtig kenne, was mich der Verpflichtung zum Small-Talk enthebt. Soeben ist Walter, der Archäologe, eingetroffen. Gottseidank widmet er mir nur einen kurzen Blick und setzt sich nach einem ebenso kurzen Wiedererkennungsgrunz an die illustre Runde der hiesigen Stammgäste, was viel mehr Unterhaltung verspricht.
Der Übergang von dem Gedanken, dass der Prot die Gäste nur flüchtig kennt und dann plötzlich wird ein eintretender Gast mit Name und Beruf vorgestellt, ist unlogisch.

Ich nippe an meiner „Latte macchiato“, ergebe mich meiner jüngsten Vergangenheit und erlebe nochmals die Szene der Ankunft in Chur:
kein Doppelpunkt, nur Punkt. Auch später im Text - die Doppelpunkte häufen sich zu arg.

Ich habe gewartet, bis die Pressanten, welche sich schon vor dem Halt im Zugskorridor zum Ausgang hin angestaut haben, ausgestiegen sind (die Beschäftigung des Wartens finde ich eine ausgesprochen langweilige Tätigkeit).
empfinde ich als eine ausgesprochen langweilige Tätigkeit

Einzig eine junge, adrett gekleidete Touristin steht noch im Korridor am Ende des Abteils und rückt ihr Gepäck zurecht, das aus einem riesigen Koffer und einer grossen Sporttasche besteht. Ich erkenne: sie zögert, wohl ist der Koffer sehr schwer und sie überlegt sich, was zuerst: der Koffer oder die Tasche? Jedenfalls erwacht sofort mein Helferinstinkt. Oder ist es der anerzogene Gentleman in mir? Die junge Frau ist sehr attraktiv:
Die junge Frau wirkt sehr attraktiv:

weisse, enganliegende Hosen, welche ihre schlanke Figur betonen, ebenso wie der knappe, grüne Top, der einen einladenden Blick auf den Ansatz ihrer kecken Brüste gewährt, ein sehr sympathisches Gesicht, blonde, wellenförmige Haare mit dunklen Strähnen (im Shetlandpony-Stil) und vor allem diese mandelförmigen Augen, leicht geschminkt – nur leicht! Ich verstehe nicht die Frauen welche ihre natürliche Schönheit mit dicken Schichten Kosmetik zu verbergen suchen! Natürlich hätte ich auch einer alten, gehbehinderten Frau auf den Gehsteig geholfen…

„Willst du noch etwas?“
Ich verstehe zuerst nicht und starre die Rothaarige an, als käme sie von einem anderen Planeten, bevor ich dann kapiere: die – durchaus hübsche – Serviertochter (aber nicht mein Fall), welche sich um das Wohlergehen der Gäste oder des Umsatzes sorgt (was genau sei dahingestellt). Richtig: der „Macchiato“ ist ausgetrunken bis auf ein kümmerliches, schäumendes Restchen, das sich höchstens noch für die Vorhersage der näheren Zukunft eignet.
„Eine Stange bitte!“ bestelle ich, wonach sie sich geschäftig wieder verzieht.

Da kommt also der unausweichliche Gedanke, der offenbar (so das Credo vieler Frauen) alle Männer – eine Horde schwanzgesteuerter Wesen – unausweichlich heimsucht: die wäre nun wirklich nicht zu verabscheuen! Dieser Gedanke – ich gebe es zu – kommt mir gelegentlich bei einer anmutigen Frau, aber ich verscheuche ihn dann jedes Mal, da ich die Frau ja nicht als Objekt meiner Begierde sehen möchte. Bin ich sexistisch? Ich denke es ist einfach das: ich bin Single und somit ein potentieller Anwärter für eine harmonische Beziehung zum anderen Geschlecht, mit Betonung auf harmonisch, was vor allem auch einen regen geistigen Austausch mit einschliesst. Eigentlich ist es nämlich gerade umgekehrt (weshalb ich die diesbezügliche Äusserung meiner Ex-Frau völlig daneben finde): fehlt nämlich diese geistige Komponente, so finde ich auch den Sex mit der betreffenden Person nicht reizvoll, auch wenn sie noch so erotische Kurven aufweist. Und auf keinen Fall bin ich jemand, der über jede dahergelaufene, anmutige und willige Frau herfällt.
Nehmen wir zum Beispiel die junge Frau, welche gerade am Platz vorbeiläuft, einen bulldoggenartigen, gedrungenen Hund im Schlepptau, dem seine Geschlechtsteile sichtlich am Hintern herunterhangen. Er ist in die Jahre gekommen und sie zieht ihn mehr hinter sich her als was ihm lieb ist, ein seltsames Gespann.
her, als ihm lieb ist

Wie kommt diese schöne, junge Frau zu einem derart plumpen, ungelenken, ja hässlichen Hund? Ich kann mir nicht vorstellen, dass er ihr gehört. Viel wahrscheinlicher betreibt sie Dog-sitting, ein kleiner Nebenverdienst, womöglich ist sie noch in der Ausbildung und hat einen sehr erlesenen Geschmack. Dog-sitting stockt nur ihr Sackgeld auf. Diese hübsche Frau (die übrigens beim Vorbeigehen einen kurzen, scheuen Blick in die illustre Männerrunde nebenan geworfen hat) finde ich durchaus attraktiv, von etwas stämmiger Postur, aber immer noch schlank, dunkelhaarig, südländischer Akzent, und ich bin – im Unterschied zum Hund – an ihr prinzipiell interessiert, nicht nur, aber auch als Vertreter der männlichen Spezies homo sapiens: so, jetzt habe ich es wissenschaftlich ausgedrückt! (der Rest erübrigt sich: natürlich falle ich nicht bei der nächstbesten Gelegenheit über sie her…!).
Es wäre bestimmt interessant, mit dieser Frau ins Gespräch zu kommen, um mehr über ihren Hund herauszufinden. Mit dem Verschwinden des Hundehintern kehren jedoch meine Gedanken zurück zu der Mandeläugigen:

„Kann ich Ihnen helfen?“ (Ich wage nicht, das viel persönlichere „Du“ zu verwenden. Es handelt sich eindeutig um eine Dame der oberen Schicht, und Höflichkeit ist hier unumgänglich).
Sie blickt mich überrascht an, zuerst fast befremdet. Nach einem prüfenden Blick, in dessen Verlauf sie meine uneigennützige Hilfsbereitschaft feststellt, weicht ein dankbares Lächeln ihrem strengen Blick. Vielleicht, so denke ich, findet sie auch mich durchaus sympathisch – möglicherweise ist sie aber, obwohl alleinreisend, schon vergeben und wird bald – nachreisend – von ihrem Schatz in St. Moritz sehnlichst erwartet!

„Danke!“ sage ich, sowie die Rothaarige einen Bierteller vor mich auf dem Tisch platziert und eine Stange darauf stellt. Sie lächelt mich an, höflich, aber irgendwie distanziert: Höflichkeit ist das Gebot ihres Jobs. Ich bin nicht an ihr interessiert. Die Vorstellung eines gemeinsamen Tète-à-tète kommt mir bei dieser gewiss auch attraktiven Frau gar nicht auf. Nicht mein Typ. Die Art, wie sie sich gibt, das unpersönliche Lächeln, das nicht mir gilt, der unverbindliche Blick, der sogleich wieder wegschweift – wohl bin auch ich nicht ihr Typ! – , schon ist sie wieder weg, am Tisch nebenan, wo Stammgäste sie umschwärmen. Soviel noch zum verallgemeinernden Image des sexistischen Mannes. Zurück zur Mandeläugigen:

„Ja, gerne!“ sagt sie, und ihre Aussprache verrät die Norddeutsche, weit weg von hier.
Ich ergreife also sogleich den Koffer, den ich als schwer eingeschätzt habe. Mein Gefühl hat mich nicht getäuscht: der Koffer ist verdammt schwer, viel schwerer, als ich ihn mir vorgestellt habe. Diese Frauen! Die denken ja wirklich an alle Eventualitäten, welche unvorhergesehener weise eintreten könnten. Abgesehen von Bikini, Unterwäsche, Abendkleidern und den üblichen Schminkutensilien muss da auch unbedingt der Winterpulli und die Windjacke mit (niemand ist erhaben über die Launen der Natur), und ebenso dürfen die Ersatzwanderschuhe und der Lockenwickler nicht fehlen, ganz abgesehen von den Ballettschuhen und dem Kleinkram wie Ersatzschuhbändel, Haarbändel usw. was in seinem Unmaass erst ins Gewicht fällt.
Unmaß

Ich lasse mir natürlich nichts anmerken (und mir kommt plötzlich der Gedanke, dass ihr prüfender Blick weniger der Vergewisserung meiner rühmlichen Absichten galt als vielmehr dem Zustand meiner körperlichen Konstitution) und schleppe den Koffer, der mindestens seine 30 Kilos hergibt, wie leichthin (aber unter Aufwendung grösster Anstrengung) auf das Perron hinunter.
[strike]Beim Absetzen des Koffers passiert es dann, wahrscheinlich eine zu schnelle Bewegung, wohl der Ischias, der sich ob der abrupten Bewegung verstreckt hat, jedenfalls:[/strike]
streichen

ein stechender Schmerz auf der linken Seite, über dem Kreuz. Ein elektrisierender Schmerz, der mich zusammenzucken lässt. Ich unterdrücke einen Schrei, während die junge Frau, die offenbar beträchtlich weniger schwere Tasche locker um ihre Schulter gehängt, mich fragend anschaut. Ist was? Scheint ihr Blick zu sagen.
„Ist was?“, scheint ihr Blick zu sagen.

Ich tue nicht dergleichen
was ist gemeint?

und frage sie leichthin nach dem weiteren Fortgang ihrer Reise.
St. Moritz (ich habe es doch geahnt!), Perron 12. Ich weiss natürlich den Weg. Gottseidank leben wir im 21. Jahrhundert: der Koffer hat Räder, und ich kann ihn einigermassen elegant an dem ausziehbaren Hebel hinter mir herziehen. So kämpfe ich mich mit dem unhandlichen Ding voran, Unbeschwertheit vortäuschend, zur Unterführung, während sie lockeren Schrittes mir folgt. Ich bemühe mich, mit ihr ins Gespräch zu kommen.
„Auf Urlaub hier?“ frage ich sie.
„Ja, Trekking-Urlaub!“ Trekking? Obwohl ich den Begriff auch schon gehört habe – nie aber im Zusammenhang mit Urlaub! – verstehe ich nicht sogleich seine Bedeutung.
Absatz

In der Illustrierten, in der ich gerade blättere, posiert Prinz Charles mit seiner Kamelien-Dame vor dem Strand von St. Tropez, in modischer Badehose, die Hand um ein aufgerichtetes Surfbrett gelegt. Dazu ein Interview, wie sich der Adel fit hält: Surfen, Tauchen, Segelyachttouren, das sind die bevorzugten Arten des Sich-Fit-Trimmens. Aber Trekking?
Ich nehme einen Schluck Bier und registriere den gedrungenen Köter, herrenlos, gemächlich trottend aber unbeirrt, auf dem Rückweg ins traute Heim: offenbar war ihm die Pflichttour zu strapaziös geworden und er hat sich in einem unbewachten Moment ausgeklinkt, die Leine hinter sich herziehend…
Absatz

Trekking? Sie schaut mich befremdet an. Ich erröte. Endlich kommt es mir in den Sinn! Trekking: das sportliche Wandern mit Stöcken! Ich habe diese Sportart immer insgeheim belächelt, wenn ich im Freien zufällig trekkenden Personen begegnete, meistens Leuten in gesetzterem Alter. Es kam mir irgendwie fehl am Platz vor, irgendwo zwischen Möchtegern und Skifahren angesiedelt, die Sportart für rüstige Rentner, ein Hobby für die alte Generation, die immer noch einigermassen fit bleiben möchte…
Bevor die Deutsche jedoch ihrem ungläubigen Staunen Ausdruck verleihen kann, lenke ich beflissentlich ein:
„Ach so! Trekking! Das Wandern mit Stöcken!“
Jetzt lächelt die junge Frau verschmitzt. Für sie, meint sie belustigt, sei das nun durchaus nicht einfach nur wandern, sie mache das professionell (soeben erscheint nun die junge Frau auf der Bildfläche, ich meine: die Frau welche den Köter ausgeführt hat, mit suchendem Blick. Ich weise sie, als sie mich erblickt, in die Richtung, in welcher der Köter davongetrottet ist. Sie lächelt. Eine Mischung von Belustigung und Verlegenheit. Die Runde nebenan hat von alldem nichts mitbekommen).
Die Klammer weg – stattdessen: Absatz

Sie müsste schauen, so die junge Deutsche, dass sie ihre Kondition nicht vernachlässige – auch im Urlaub. Das sei halt – und dabei huscht ein ironisches Lächeln über ihr Gesicht – das Los jeder Sportlerin.
Damit hat sie wohl mehr gesagt, als sie ursprünglich über sich hat preisgeben wollen, denn es entsteht eine peinliche Pause. Ich denke natürlich sofort: also eine Berufssportlerin, womöglich eine bekannte. Ich betrachte sie verstohlen vom Profil her: sollte ich sie kennen? Ist sie am Ende eine Berühmtheit? Abfahrt? Slalom? Eine Ikone auf dem Schnee?
Absatz

„Auch auf Edelweisentzug?!“
Edelweißentzug

Walter, der Archäologe, reisst mich mit seiner Bemerkung wieder in die Gegenwart. Er hat sich zurückgelehnt und mich als alten Stammgast des „Edelweiss“ identifiziert. Ich lächle verschwörerisch, halte mich jedoch zurück.
„Na ja,“ meine ich nur, „die schlimmsten Entzugserscheinungen habe ich bereits hinter mir: grauenvoll!“ Ein gemeinsames Lachen (sein Lachen tönt wie immer gröhlend,
grölend

fast brachial, mit einer dicken Schicht antiker Tonerde darüber), dann wendet er sich wieder seinen Kumpels zu und gibt dort einen urchigen Spruch
seinen Kumpeln – urigen ?

zum Besten, der seinerseits für enormes Gelächter sorgt. Gottseidank! Ich bin wieder meinen Erinnerungen überlassen: der peinliche Moment, wo ich verzweifelt die spärlichen Erinnerungen an die Szenen der letzten Wintersaison an mir passieren lasse, um mir dann resigniert einzugestehen, dass ich nicht einmal weiss, welche Dame den Welt-Cup gewonnen hat, einmal davon abgesehen, dass es mit Sicherheit keine Schweizerin war: wenigstens das hätte ich gewusst
!

Absatz

So sind wir bei der Auffahrt zum Perron 12 angelangt, und der Transport des schweren Koffers erfordert nun wieder meine völlige Konzentration. Zudem meldet sich wieder der Schmerz im Ischias.
Die junge Frau hat sich jetzt für ein unverfänglicheres Thema entschieden – wohl möchte sie ihr Inkognito bewahren und ihre Anspielung auf ihre Sportstätigkeit überspielen.
Sporttätigkeit (es folgen weitere zusammengesetzte Substantive, die ich nicht mehr korrigiert habe, aber alle das im Deutschen überflüssige „s“ enthalten)

Sie schwärmt jetzt von den schönen Schweizer Bergen und der guten Alpenluft. Das Klischee von der Schweiz, das mich angesichts ihrer Gegenwart herzlich wenig interessiert. Ausser ein paar mir peinlichen Bestätigungen (soll ich mich als Schweizer – mit italienischer Seitenader mütterlicherseits! – stolz fühlen?) fällt mir zu diesem Thema herzlich wenig ein. Ich bin ausser Atem, als wir den Aufstieg geschafft haben und nun auf Perron 12 vor der schon wartenden roten Zugskombination stehen.
Wieder spüre ich das Kreuz, als ich das schwere Stück vor den Türen des nächstbesten Wagons abstelle. Ich registriere, dass sich der Ischias vor allem bei einseitigen Tätigkeiten meldet und ich überlege mir, wie dieses Gepäckstück nun gleichseitig in den Wagon zu hieven ist; wohl kaum zu bewerkstelligen, vielleicht probiere ich es diesmal links. Ich zögere. Die Deutsche macht jedoch nicht lange Federlesens, steigt beschwingt in den Zugskorridor, stellt ihre Tasche ab und trifft Anstalten, mir beim Koffertransport zur Hand zu gehen. Das lasse ich mir aber nicht nehmen und hieve, links, das schwere Stück mit einem Ruck – der Ischias! – in die Höhe. Mit den letzten Kräften schaffe ich es gerade noch, ihn auf die Zugsplattform zu befördern, wobei ich mich innerlich vor Schmerzen krümme. Die Deutsche verstaut ihre Tasche in ein eigens dafür vorgesehenes Gestell. Zusammen stossen wir dann den Koffer in den freien Platz darunter. Noch immer ausser Atem lasse ich ihre Dankesbezeugungen über mich ergehen. In höchsten Tönen rühmt sie die typisch schweizerische Hilfsbereitschaft. Moment mal! denke ich, da läuft so einiges schief! „Ich heisse Antonio!“ sage ich zu ihr.
„Ich heiße Antonio!“, sage ich zu ihr. (Komma)

Ich bin erschöpft, der Ischias tut teuflisch weh, und was ich jetzt auf keinen Fall brauche sind
brauche, sind

leere Worthülsen und Höflichkeitsfloskeln. Und so entschliesse ich mich zur Attacke auf das unverbindliche schöne-Alpen-nette-Schweizer-Geplänkel.
„Habe ich,“ so beginne ich,
„Habe ich…“, so beginne ich,

ihr nun abrupt zugewandt – und mich reitet nun wirklich der verwegene Jäger, der sein Wild aus seinem Jagdrevier entschwinden sieht – „Habe ich eigentlich schon erwähnt“ (und spätestens hier erröte ich, weil sich die Frage offensichtlich erübrigt und in eine plumpe Anmache überzugleiten droht) „ dass ich eine eindeutige Schwäche für hübsche, deutsche Blondinen hege und mir gerade überlege (jetzt hilft nur noch eins: völlige Übertreibung, die ein Körnchen Wahrheit hinterlässt), Sie bis nach St. Moritz zu begleiten, um dort in Ihrer reizenden Gesellschaft meine Kondition mit Trekking aufzumöbeln!“
aufzumöbeln?“ (Anm. Fragezeichen - Es war doch eine Frage)

Das sitzt! Ihr Kinnladen
Ihre Kinnlade

klappt nach unten. Alle Konventionen sind weggewischt. In ihrem Blick spiegelt sich blankes Entsetzen und völlige Verunsicherung. Ich kann ihre sich überschlagenden Gedanken lesen (von „Um Himmels willen!“ bis zu „Hilfe, ein Wahnsinniger!“). Von dem Moment an, wo sie mein verschmitztes Lächeln registriert, vergeht noch eine halbe Ewigkeit im Wechselbad der Gefühle, bevor sie dann die Ironie dahinter versteht und in das herzhafte Lachen ausbricht, das mich immer noch verfolgt. Es ist ein befreiendes Lachen, glucksend zuerst und noch verhalten, bevor es dann hemmungslos aus ihr hervorbricht, sich zu Quinten und Terzen vermischt und schliesslich, ergänzt und beflügelt durch meinen Bariton zu wahren Lachsalven steigert. Ein Lachen – o offenes Geheimnis – das die Welt aus den Angeln hebt. Ich habe schon ernste Leute erlebt, welche nach einem befreienden Lachen den Ernst ihrer Lage nicht mehr verstanden! Das Lachen der Deutschen im Zug vor dem schweren Koffer verwischt auf dieselbe magische Weise die Distanziertheit, die sie um sich herum aufgebaut hat und gibt nun ihr wahres Wesen frei: eine von Grund auf herzliche Person! Diese unbeschreiblichen, verspielten Augen, in denen die Ewigkeit funkelt – ich bin fasziniert! Leider dauert dieser Moment nicht lange. Noch immer lachend gibt sie mir dann die Hand und sagte:
sagt

„Monika! Tausend Dank für deine Hilfe!“ und – immer noch berauscht vom Stimmungswechsel – gibt sie mir spontan einen Kuss! Ich bin völlig perplex: damit habe ich nun überhaupt nicht gerechnet!

Natürlich muss in diesem Augenblick ausgerechnet Claude auftauchen! Claude hat die erstaunliche Begabung, immer im blödesten Moment aufzutauchen.
zu erscheinen (Wortwiederholung vermeiden)

Und er lässt sich nicht so leicht abschütteln. Da sitzt er nun plötzlich mir gegenüber am Tisch, legt seinen CD-Man auf den Tisch, streift sich den Kopfhörer ab und fragt mich mit unschuldigen, glänzenden Augen:
„Was meinst du, wieviel hat mich dieser Kopfhörer gekostet?“
(Ich weiss es: 30 Franken. Er hat mich das schon bei der letzten Begegnung gefragt.)
Absichtlich sage ich:
„100 Franken?“ (wie beim letzten Mal)
„Nein: nur 30 Franken!“ (und in seinen Augen hat dieser Kopfhörer einen beträchtlich höheren Wert!)
Worauf ich meine: „Potz tausend!“
Wie schon beim letzten Mal folgt nun dieselbe Frage:
„Was meinst du, kannst du mir eine Stange bezahlen?“ Treuherziger Blick.
Claude ist immer pleite, und das ist immer seine zweite Frage (die erste variert
variiert

je nach Jahreszeit und dient der Einleitung)
Ich bin versucht, ihm ein Bisschen auf den Zahn zu fühlen und ihm 5 Franken für den Kopfhörer anzubieten, lasse es dann aber bleiben, da ich heute nicht an einer weiteren Unterhaltung interessiert bin. Also offeriere ich ihm eine Stange, worauf ich in Gedanken wieder zu der Abschiedsszene zurückkehre:
Doppelpunkt weg. Ist der Satz wirklich notwendig?

Der Kuss ist feucht, frisch, spontan, herzlich. Einen endlosen Augenblick spüre ich ihre Lippen auf meinen und schmecke den Duft von Jasmin und Holunderblüten mit einer leichten Note Lavendel. Ihre mandelförmigen Augen funkeln. Ich geniesse diesen zeitlosen Augenblick und versinke in ihren Augen…
Absatz

„Kennst du die Zampano&Müllhalde GmbH?“ Das ist Claude!
„Ich habe hier die neuste CD: affengeil!“ Nein, das interessiert mich jetzt überhaupt nicht, und ganz sicher möchte ich jetzt auch keine Kostprobe davon hören, was er mir jetzt sogleich anbieten wird (wie schon das letzte Mal …)!
Absatz

Das gefällt mir: wenn jemand auf meine oft brüskierend unkonventionelle Art mit derselben Verwegenheit kontert. Ja, Die Lady gefällt mir, mir gefällt auch die Art, wie sie mich jetzt – nach dem Kuss – verschmitzt anlächelt. Ich spüre: das ist Monika, diese ungestüme Art, diese Heiterkeitsausbrüche, dieser tiefe Sinn für Situationskomik, der uns beide verbindet…
Absatz

„Willst du einmal hören?“ wieder Claude, der mir nun den Kopfhörer entgegenstreckt. Nein, ich will nicht, denke ich. Merkst du denn nicht: ich bin verliebt, ich höre bereits Hochzeitsglockentöne und habe keinen Bock auf Rock!
Warum habe ich sie nicht nach der Adresse gefragt, oder wenigstens nach der Natel-Nummer? Das ist mir erst in den Sinn gekommen, als ich schon draussen auf dem Perron stehe und ihr zum Abschied winke.
Absatz

Sie sitzt am Fenster, immer noch dieses herzliche, einnehmende Lächeln, das ihre Lippen umspielt (mit einer Prise Ironie? Schwingt da nicht auch Belustigung mit? Diese Episode: ein amüsanter Zwischenfall, über den sie später lachend ihrem Schatz in St. Moritz berichtet? Ich würde sie gerne danach fragen, aber der Zug beginnt jetzt sich zu bewegen. Telepathie? Monika scheint meine Gedanken zu lesen! Plötzlich hat sie eine Illustrierte in der Hand, blättert darin und zeigt, die Illustrierte mir zuwendend, auf ein Bild, ein Bild von ihr! Darüber ein Titel, den ich nicht mehr entziffern kann und dazu ihr Blick, der zu sagen scheint: das bin ich! Ein Fingerzeig? Findet sie mich auch sympathisch? Würde sie mich gerne wieder treffen? Monika: mein Sportstar? Sie lacht jetzt, winkt, schickt mir eine Kusshand. So entschwindet sie aus meinem Blickfeld. Werde ich sie je wiedersehen?
Absatz

Erst jetzt erkenne ich, dass Claude mir immer noch seinen Kopfhörer entgegenstreckt hält.
„Bist du verliebt?“
Ich winke ab: erstaunlich, wie Claude da aus dem Stehgreif voll ins Schwarze trifft, aber er wäre der letzte, dem ich jetzt mein Herz ausschütten würde.
Zur Ablenkung frage ich ihn, ob er noch ein Bier will und blättere in der illustrierten. Mein Pulsschlag stockt.
Da ist sie: Monika! im Bikini.
Monika! Im Bikini.

Sie räkelt sich in einem Liegestuhl vor einem Swimming-Pool. Tolle Figur! Sie lächelt in die Kamera. Ein gestelltes Lächeln, nicht das Lächeln am Bahnhof zum Abschied, das betörende Lächeln, das nur mir galt. Dieses Lächeln hier ist strahlende Glamour, Hollywood, zur Schau gestellt einem Publikum, das sich brennend für die privaten Dinge ihrer Stars interessiert. Mit wem geht sie, mit wem treibt sie’s im Heimlichen?
Ich lese den Titel: Monika Lisa, eine Fata Morgana?
Und im Interview erfährt man dann den Namen ihres Lovers: Antonio. Aus einer Ferienbekanntschaft wurde die Liebe ihres Lebens, wie in einem Märchen…
Ich frage mich ernsthaft: träume ich?
Aber da ist Claude, und er lässt sich nicht abwimmeln:
„Das musst du dir einmal reinziehen. Diese Rhythmen hauen dich um!“
Ergeben stülpe ich mir den Hörer über den Kopf. Das fetzige Gedröhne entlockt mir jedoch keine Begeisterungsausdrücke und ich denke, das alles ist ja nur vorübergehend: das Gedröhne aus dem Kopfhörer, die Schmerzen im Kreuz, meine Halluzinationen ebenso wie Claude und die Betriebsferien des „Edelweiss“!
 
Ich spüre einen ziehenden Schmerz in der Kreuzgegend. Der Schmerz ist eher auf der linken Seite, über dem Becken, und macht sich vor allem bei gewissen Bewegungen wie beim Sich-Setzen oder Aufstehen bemerkbar, und ich denke, das hat vor allem auch damit zu tun, dass ich Rechtshänder bin. Vorläufig sitze ich jedoch. Ich ignoriere den Schmerz und denke lieber an etwas Angenehmeres: das Lächeln der mandeläugigen Schönheit will mir nicht aus dem Kopf!
Endstation, wenigstens für mich. Für die Reisenden aus dem Unterland geht es nun weiter mit der schmalspurigen Rhätischen Bahn. „… meine Damen und Herren, wir treffen in Chur ein. Bitte alle aussteigen…“ und „Reisende nach Disentis oder St. Moritz bitte umsteigen!...“ St. Moritz, die berühmte Feriendestination, die immer Erwähnung in den Zugdurchsagen findet, als ob die Reise ins Engadin dort unweigerlich enden müsste. St. Moritz: ein kleines Dorf mit unzähligen Erstklasse-Hotels, die tendenziell immer weniger ausgebucht sind.

Ich blättere in einer deutschen Illustrierten mit dem Titel „Im Fokus“ oder ähnlich – eine Illustrierte, die ich im „Parterre“ unter den Zeitschriften und Zeitungen gefunden habe. Einschlägiges Zielpublikum. Prominenz wie sie leibt und lebt, wer mit wem und mit wem nicht mehr und am liebsten: mit wem im Heimlichen und es ist ein Skandal, all der Klatsch und Tratsch, der mich eigentlich gar nicht interessiert. „Jana Yukanova bekommt ein Baby! Wer ist wohl der Vater? Ein (T)Pen(n)isprofi?...“ usw. Ich sitze im Freien, allein an einem Tisch, und gefalle mir in der Vorstellung, dass ich hier nur ein vorübergehender Tourist bin. Diese Vorstellung gewinnt an Realität dank der aussergewöhnlichen Tatsache, dass das „Edelweiss“, mein Stammlokal, ferienhalber geschlossen ist und ich die meisten Gäste, welche im „Parterre“ verkehren nur flüchtig kenne, was mich der Verpflichtung zum Small-Talk enthebt. Soeben ist Walter, auch ein Stammgast des "Edelweiss", eingetroffen. Gottseidank widmet er mir nur einen kurzen Blick und setzt sich nach einem ebenso kurzen Wiedererkennungsgrunz an die illustre Runde der hiesigen Stammgäste, was viel mehr Unterhaltung verspricht. Ich nippe an meiner „Latte macchiato“, ergebe mich meiner jüngsten Vergangenheit und erlebe nochmals die Szene der Ankunft in Chur.

Ich habe gewartet, bis die Pressanten, welche sich schon vor dem Halt im Zugskorridor zum Ausgang hin angestaut haben, ausgestiegen sind (die Beschäftigung des Wartens empfinde ich als ausgesprochen langweilige Tätigkeit). Einzig eine junge, adrett gekleidete Touristin steht noch im Korridor am Ende des Abteils und rückt ihr Gepäck zurecht, das aus einem riesigen Koffer und einer grossen Sporttasche besteht. Ich erkenne: sie zögert, wohl ist der Koffer sehr schwer und sie überlegt sich, was zuerst: der Koffer oder die Tasche? Jedenfalls erwacht sofort mein Helferinstinkt. Oder ist es der anerzogene Gentleman in mir? Die junge Frau wirkt sehr attraktiv: weisse, enganliegende Hosen, welche ihre schlanke Figur betonen, ebenso wie der knappe, grüne Top, der einen einladenden Blick auf den Ansatz ihrer kecken Brüste gewährt, ein sehr sympathisches Gesicht, blonde, wellenförmige Haare mit dunklen Strähnen (im Shetlandpony-Stil) und vor allem diese mandelförmigen Augen, leicht geschminkt – nur leicht! Ich verstehe nicht die Frauen welche ihre natürliche Schönheit mit dicken Schichten Kosmetik zu verbergen suchen! Natürlich hätte ich auch einer alten, gehbehinderten Frau auf den Gehsteig geholfen…

„Willst du noch etwas?“
Ich verstehe zuerst nicht und starre die Rothaarige an, als käme sie von einem anderen Planeten, bevor ich dann kapiere: die – durchaus hübsche – Serviertochter (aber nicht mein Fall), welche sich um das Wohlergehen der Gäste oder des Umsatzes sorgt (was genau sei dahingestellt). Richtig: der „Macchiato“ ist ausgetrunken bis auf ein kümmerliches, schäumendes Restchen, das sich höchstens noch für die Vorhersage der näheren Zukunft eignet.
„Eine Stange bitte!“ bestelle ich, wonach sie sich geschäftig wieder verzieht.

Da kommt also der unausweichliche Gedanke, der offenbar (so das Credo vieler Frauen) alle Männer – eine Horde schwanzgesteuerter Wesen – unausweichlich heimsucht: die wäre nun wirklich nicht zu verabscheuen! Dieser Gedanke – ich gebe es zu – kommt mir gelegentlich bei einer anmutigen Frau, aber ich verscheuche ihn dann jedes Mal, da ich die Frau ja nicht als Objekt meiner Begierde sehen möchte. Bin ich sexistisch? Ich denke es ist einfach das: ich bin Single und somit ein potentieller Anwärter für eine harmonische Beziehung zum anderen Geschlecht, mit Betonung auf harmonisch, was vor allem auch einen regen geistigen Austausch mit einschliesst. Eigentlich ist es nämlich gerade umgekehrt (weshalb ich die diesbezügliche Äusserung meiner Ex-Frau völlig daneben finde): fehlt nämlich diese geistige Komponente, so finde ich auch den Sex mit der betreffenden Person nicht reizvoll, auch wenn sie noch so erotische Kurven aufweist. Und auf keinen Fall bin ich jemand, der über jede dahergelaufene, anmutige und willige Frau herfällt.
Nehmen wir zum Beispiel die junge Frau, welche gerade am Platz vorbeiläuft, einen bulldoggenartigen, gedrungenen Hund im Schlepptau, dem seine Geschlechtsteile sichtlich am Hintern herunterhangen. Er ist in die Jahre gekommen und sie zieht ihn mehr hinter sich her, als ihm lieb ist, ein seltsames Gespann. Wie kommt diese schöne, junge Frau zu einem derart plumpen, ungelenken, ja hässlichen Hund? Ich kann mir nicht vorstellen, dass er ihr gehört. Viel wahrscheinlicher betreibt sie Dog-sitting, ein kleiner Nebenverdienst, womöglich ist sie noch in der Ausbildung und hat einen sehr erlesenen Geschmack. Dog-sitting stockt nur ihr Sackgeld auf. Diese hübsche Frau (die übrigens beim Vorbeigehen einen kurzen, scheuen Blick in die illustre Männerrunde nebenan geworfen hat) finde ich durchaus attraktiv, von etwas stämmiger Postur, aber immer noch schlank, dunkelhaarig, südländischer Akzent, und ich bin – im Unterschied zum Hund – an ihr prinzipiell interessiert, nicht nur, aber auch als Vertreter der männlichen Spezies homo sapiens: so, jetzt habe ich es wissenschaftlich ausgedrückt! (der Rest erübrigt sich: natürlich falle ich nicht bei der nächstbesten Gelegenheit über sie her…!).
Es wäre bestimmt interessant, mit dieser Frau ins Gespräch zu kommen, um mehr über ihren Hund herauszufinden. Mit dem Verschwinden des Hundehintern kehren jedoch meine Gedanken zurück zu der Mandeläugigen:

„Kann ich Ihnen helfen?“ (Ich wage nicht, das viel persönlichere „Du“ zu verwenden. Es handelt sich eindeutig um eine Dame der oberen Schicht, und Höflichkeit ist hier unumgänglich).
Sie blickt mich überrascht an, zuerst fast befremdet. Nach einem prüfenden Blick, in dessen Verlauf sie meine uneigennützige Hilfsbereitschaft feststellt, weicht ein dankbares Lächeln ihrem strengen Blick. Vielleicht, so denke ich, findet sie auch mich durchaus sympathisch – möglicherweise ist sie aber, obwohl alleinreisend, schon vergeben und wird bald – nachreisend – von ihrem Schatz in St. Moritz sehnlichst erwartet!

„Danke!“ sage ich, sowie die Rothaarige einen Bierteller vor mich auf dem Tisch platziert und eine Stange darauf stellt. Sie lächelt mich an, höflich, aber irgendwie distanziert: Höflichkeit ist das Gebot ihres Jobs. Ich bin nicht an ihr interessiert. Die Vorstellung eines gemeinsamen Tète-à-tète kommt mir bei dieser gewiss auch attraktiven Frau gar nicht auf. Nicht mein Typ. Die Art, wie sie sich gibt, das unpersönliche Lächeln, das nicht mir gilt, der unverbindliche Blick, der sogleich wieder wegschweift – wohl bin auch ich nicht ihr Typ! – , schon ist sie wieder weg, am Tisch nebenan, wo Stammgäste sie umschwärmen. Soviel noch zum verallgemeinernden Image des sexistischen Mannes. Zurück zur Mandeläugigen:

„Ja, gerne!“ sagt sie, und ihre Aussprache verrät die Norddeutsche, weit weg von hier.
Ich ergreife also sogleich den Koffer, den ich als schwer eingeschätzt habe. Mein Gefühl hat mich nicht getäuscht: der Koffer ist verdammt schwer, viel schwerer, als ich ihn mir vorgestellt habe. Diese Frauen! Die denken ja wirklich an alle Eventualitäten, welche unvorhergesehener weise eintreten könnten. Abgesehen von Bikini, Unterwäsche, Abendkleidern und den üblichen Schminkutensilien muss da auch unbedingt der Winterpulli und die Windjacke mit (niemand ist erhaben über die Launen der Natur), und ebenso dürfen die Ersatzwanderschuhe und der Lockenwickler nicht fehlen, ganz abgesehen von den Ballettschuhen und dem Kleinkram wie Ersatzschuhbändel, Haarbändel usw. was in seinem Unmass erst ins Gewicht fällt.
Ich lasse mir natürlich nichts anmerken (und mir kommt plötzlich der Gedanke, dass ihr prüfender Blick weniger der Vergewisserung meiner rühmlichen Absichten galt als vielmehr dem Zustand meiner körperlichen Konstitution) und schleppe den Koffer, der mindestens seine 30 Kilos hergibt, wie leichthin (aber unter Aufwendung grösster Anstrengung) auf das Perron hinunter.
Beim Absetzen des Koffers passiert es dann. Ein elektrisierender Schmerz, der mich zusammenzucken lässt. Ich unterdrücke einen Schrei, während die junge Frau, die offenbar beträchtlich weniger schwere Tasche locker um ihre Schulter gehängt, mich fragend anschaut. "Ist was?" Scheint ihr Blick zu sagen. Ich frage sie leichthin nach dem weiteren Fortgang ihrer Reise.
St. Moritz (ich habe es doch geahnt!), Perron 12. Ich weiss natürlich den Weg. Gottseidank leben wir im 21. Jahrhundert: der Koffer hat Räder, und ich kann ihn einigermassen elegant an dem ausziehbaren Hebel hinter mir herziehen. So kämpfe ich mich mit dem unhandlichen Ding voran, Unbeschwertheit vortäuschend, zur Unterführung, während sie lockeren Schrittes mir folgt. Ich bemühe mich, mit ihr ins Gespräch zu kommen.
„Auf Urlaub hier?“ frage ich sie.
„Ja, Trekking-Urlaub!“ Trekking? Obwohl ich den Begriff auch schon gehört habe – nie aber im Zusammenhang mit Urlaub! – verstehe ich nicht sogleich seine Bedeutung.
In der Illustrierten, in der ich gerade blättere, posiert Prinz Charles mit seiner Kamelien-Dame vor dem Strand von St. Tropez, in modischer Badehose, die Hand um ein aufgerichtetes Surfbrett gelegt. Dazu ein Interview, wie sich der Adel fit hält: Surfen, Tauchen, Segelyachttouren, das sind die bevorzugten Arten des Sich-Fit-Trimmens. Aber Trekking?
Ich nehme einen Schluck Bier und registriere den gedrungenen Köter, herrenlos, gemächlich trottend aber unbeirrt, auf dem Rückweg ins traute Heim: offenbar war ihm die Pflichttour zu strapaziös geworden und er hat sich in einem unbewachten Moment ausgeklinkt, die Leine hinter sich herziehend…

Trekking? Sie schaut mich befremdet an. Ich erröte. Endlich kommt es mir in den Sinn! Trekking: das sportliche Wandern mit Stöcken! Ich habe diese Sportart immer insgeheim belächelt, wenn ich im Freien zufällig trekkenden Personen begegnete, meistens Leuten in gesetzterem Alter. Es kam mir irgendwie fehl am Platz vor, irgendwo zwischen Möchtegern und Skifahren angesiedelt, die Sportart für rüstige Rentner, ein Hobby für die alte Generation, die immer noch einigermassen fit bleiben möchte…
Bevor die Deutsche jedoch ihrem ungläubigen Staunen Ausdruck verleihen kann, lenke ich beflissentlich ein:
„Ach so! Trekking! Das Wandern mit Stöcken!“
Jetzt lächelt die junge Frau verschmitzt. Für sie, meint sie belustigt, sei das nun durchaus nicht einfach nur wandern, sie mache das professionell.
Soeben erscheint nun die junge Frau auf der Bildfläche, ich meine: die Frau welche den Köter ausgeführt hat, mit suchendem Blick. Ich weise sie, als sie mich erblickt, in die Richtung, in welcher der Köter davongetrottet ist. Sie lächelt. Eine Mischung von Belustigung und Verlegenheit. Die Runde nebenan hat von alldem nichts mitbekommen.

Sie müsste schauen, so die junge Deutsche, dass sie ihre Kondition nicht vernachlässige – auch im Urlaub. Das sei halt – und dabei huscht ein ironisches Lächeln über ihr Gesicht – das Los jeder Sportlerin.
Damit hat sie wohl mehr gesagt, als sie ursprünglich über sich hat preisgeben wollen, denn es entsteht eine peinliche Pause. Ich denke natürlich sofort: also eine Berufssportlerin, womöglich eine bekannte. Ich betrachte sie verstohlen vom Profil her: sollte ich sie kennen? Ist sie am Ende eine Berühmtheit? Abfahrt? Slalom? Eine Ikone auf dem Schnee?

„Auch auf Edelweissentzug?!“ Walter, der Archäologe, reisst mich mit seiner Bemerkung wieder in die Gegenwart. Er hat sich zurückgelehnt und mich als alten Stammgast des „Edelweiss“ identifiziert. Ich lächle verschwörerisch, halte mich jedoch zurück.
„Na ja,“ meine ich nur, „die schlimmsten Entzugserscheinungen habe ich bereits hinter mir: grauenvoll!“ Ein gemeinsames Lachen (sein Lachen tönt wie immer grölend, fast brachial, mit einer dicken Schicht antiker Tonerde darüber), dann wendet er sich wieder seinen Kumpels zu und gibt dort einen lustigen Spruch zum Besten, der seinerseits für enormes Gelächter sorgt. Gottseidank! Ich bin wieder meinen Erinnerungen überlassen.

Der peinliche Moment, wo ich verzweifelt die spärlichen Erinnerungen an die Szenen der letzten Wintersaison an mir passieren lasse, um mir dann resigniert einzugestehen, dass ich nicht einmal weiss, welche Dame den Welt-Cup gewonnen hat, einmal davon abgesehen, dass es mit Sicherheit keine Schweizerin war: wenigstens das hätte ich gewusst!

So sind wir bei der Auffahrt zum Perron 12 angelangt, und der Transport des schweren Koffers erfordert nun wieder meine völlige Konzentration. Zudem meldet sich wieder der Schmerz im Ischias.
Die junge Frau hat sich jetzt für ein unverfänglicheres Thema entschieden – wohl möchte sie ihr Inkognito bewahren und ihre Anspielung auf ihre Sporttätigkeit überspielen. Sie schwärmt jetzt von den schönen Schweizer Bergen und der guten Alpenluft. Das Klischee von der Schweiz, das mich angesichts ihrer Gegenwart herzlich wenig interessiert. Ausser ein paar mir peinlichen Bestätigungen (soll ich mich als Schweizer – mit italienischer Seitenader mütterlicherseits! – stolz fühlen?) fällt mir zu diesem Thema herzlich wenig ein. Ich bin ausser Atem, als wir den Aufstieg geschafft haben und nun auf Perron 12 vor der schon wartenden roten Zugskombination stehen.
Wieder spüre ich das Kreuz, als ich das schwere Stück vor den Türen des nächstbesten Wagon abstelle. Ich registriere, dass sich der Ischias vor allem bei einseitigen Tätigkeiten meldet und ich überlege mir, wie dieses Gepäckstück nun gleichseitig in den Wagon zu hieven ist; wohl kaum zu bewerkstelligen, vielleicht probiere ich es diesmal links. Ich zögere. Die Deutsche macht jedoch nicht lange Federlesens, steigt beschwingt in den Zugskorridor, stellt ihre Tasche ab und trifft Anstalten, mir beim Koffertransport zur Hand zu gehen. Das lasse ich mir aber nicht nehmen und hieve, links, das schwere Stück mit einem Ruck – der Ischias! – in die Höhe. Mit den letzten Kräften schaffe ich es gerade noch, ihn auf die Zugsplattform zu befördern, wobei ich mich innerlich vor Schmerzen krümme. Die Deutsche verstaut ihre Tasche in ein eigens dafür vorgesehenes Gestell. Zusammen stossen wir dann den Koffer in den freien Platz darunter. Noch immer ausser Atem lasse ich ihre Dankesbezeugungen über mich ergehen. In höchsten Tönen rühmt sie die typisch schweizerische Hilfsbereitschaft. Moment mal! denke ich, da läuft so einiges schief! „Ich heisse Antonio!“, sage ich zu ihr. Ich bin erschöpft, der Ischias tut teuflisch weh, und was ich jetzt auf keinen Fall brauche sind leere Worthülsen und Höflichkeitsfloskeln. Und so entschliesse ich mich zur Attacke auf das unverbindliche schöne-Alpen-nette-Schweizer-Geplänkel.
„Habe ich...“, so beginne ich, ihr nun abrupt zugewandt – und mich reitet nun wirklich der verwegene Jäger, der sein Wild aus seinem Jagdrevier entschwinden sieht – „Habe ich eigentlich schon erwähnt“ (und spätestens hier erröte ich, weil sich die Frage offensichtlich erübrigt und in eine plumpe Anmache überzugleiten droht) „ dass ich eine eindeutige Schwäche für hübsche, deutsche Blondinen hege und mir gerade überlege (jetzt hilft nur noch eins: völlige Übertreibung, die ein Körnchen Wahrheit hinterlässt), Sie bis nach St. Moritz zu begleiten, um dort in Ihrer reizenden Gesellschaft meine Kondition mit Trekking aufzumöbeln?“ Das sitzt! Ihre Kinnlade klappt nach unten. Alle Konventionen sind weggewischt. In ihrem Blick spiegelt sich blankes Entsetzen und völlige Verunsicherung. Ich kann ihre sich überschlagenden Gedanken lesen (von „Um Himmels willen!“ bis zu „Hilfe, ein Wahnsinniger!“). Von dem Moment an, wo sie mein verschmitztes Lächeln registriert, vergeht noch eine halbe Ewigkeit im Wechselbad der Gefühle, bevor sie dann die Ironie dahinter versteht und in das herzhafte Lachen ausbricht, das mich immer noch verfolgt. Es ist ein befreiendes Lachen, glucksend zuerst und noch verhalten, bevor es dann hemmungslos aus ihr hervorbricht, sich zu Quinten und Terzen vermischt und schliesslich, ergänzt und beflügelt durch meinen Bariton, zu wahren Lachsalven steigert. Ein Lachen – o offenes Geheimnis – das die Welt aus den Angeln hebt. Ich habe schon ernste Leute erlebt, welche nach einem befreienden Lachen den Ernst ihrer Lage nicht mehr verstanden! Das Lachen der Deutschen im Zug vor dem schweren Koffer verwischt auf dieselbe magische Weise die Distanziertheit, die sie um sich herum aufgebaut hat und gibt nun ihr wahres Wesen frei: eine von Grund auf herzliche Person! Diese unbeschreiblichen, verspielten Augen, in denen die Ewigkeit funkelt – ich bin fasziniert! Leider dauert dieser Moment nicht lange. Noch immer lachend gibt sie mir dann die Hand und sagt:
„Monika! Tausend Dank für deine Hilfe!“ und – immer noch berauscht vom Stimmungswechsel – gibt sie mir spontan einen Kuss! Ich bin völlig perplex: damit habe ich nun überhaupt nicht gerechnet!

Natürlich muss in diesem Augenblick ausgerechnet Claude auftauchen! Claude hat die erstaunliche Begabung, immer im blödesten Moment zu erscheinen. Und er lässt sich nicht so leicht abschütteln. Da sitzt er nun plötzlich mir gegenüber am Tisch, legt seinen CD-Man auf den Tisch, streift sich den Kopfhörer ab und fragt mich mit unschuldigen, glänzenden Augen:
„Was meinst du, wieviel hat mich dieser Kopfhörer gekostet?“
(Ich weiss es: 30 Franken. Er hat mich das schon bei der letzten Begegnung gefragt.)
Absichtlich sage ich:
„100 Franken?“ (wie beim letzten Mal)
„Nein: nur 30 Franken!“ (und in seinen Augen hat dieser Kopfhörer einen beträchtlich höheren Wert!)
Worauf ich meine: „Potz tausend!“
Wie schon beim letzten Mal folgt nun dieselbe Frage:
„Was meinst du, kannst du mir eine Stange bezahlen?“ Treuherziger Blick.
Claude ist immer pleite, und das ist immer seine zweite Frage (die erste variiert je nach Jahreszeit und dient der Einleitung)
Ich bin versucht, ihm ein Bisschen auf den Zahn zu fühlen und ihm 5 Franken für den Kopfhörer anzubieten, lasse es dann aber bleiben, da ich heute nicht an einer weiteren Unterhaltung interessiert bin. Also offeriere ich ihm eine Stange.

Der Kuss ist feucht, frisch, spontan, herzlich. Einen endlosen Augenblick spüre ich ihre Lippen auf meinen und schmecke den Duft von Jasmin und Holunderblüten mit einer leichten Note Lavendel. Ihre mandelförmigen Augen funkeln. Ich geniesse diesen zeitlosen Augenblick und versinke in ihren Augen…

„Kennst du die Zampano&Müllhalde GmbH?“ Das ist Claude!
„Ich habe hier die neuste CD: affengeil!“ Nein, das interessiert mich jetzt überhaupt nicht, und ganz sicher möchte ich jetzt auch keine Kostprobe davon hören, was er mir jetzt sogleich anbieten wird (wie schon das letzte Mal …)!

Das gefällt mir: wenn jemand auf meine oft brüskierend unkonventionelle Art mit derselben Verwegenheit kontert. Ja, Die Lady gefällt mir, mir gefällt auch die Art, wie sie mich jetzt – nach dem Kuss – verschmitzt anlächelt. Ich spüre: das ist Monika, diese ungestüme Art, diese Heiterkeitsausbrüche, dieser tiefe Sinn für Situationskomik, der uns beide verbindet…

„Willst du einmal hören?“ wieder Claude, der mir nun den Kopfhörer entgegenstreckt. Nein, ich will nicht, denke ich. Merkst du denn nicht: ich bin verliebt, ich höre bereits Hochzeitsglockentöne und habe keinen Bock auf Rock!

Warum habe ich sie nicht nach der Adresse gefragt, oder wenigstens nach der Natel-Nummer? Das ist mir erst in den Sinn gekommen, als ich schon draussen auf dem Perron stehe und ihr zum Abschied winke. Sie sitzt am Fenster, immer noch dieses herzliche, einnehmende Lächeln, das ihre Lippen umspielt (mit einer Prise Ironie? Schwingt da nicht auch Belustigung mit? Diese Episode: ein amüsanter Zwischenfall, über den sie später lachend ihrem Schatz in St. Moritz berichtet? Ich würde sie gerne danach fragen, aber der Zug beginnt jetzt sich zu bewegen. Telepathie? Monika scheint meine Gedanken zu lesen! Plötzlich hat sie eine Illustrierte in der Hand, blättert darin und zeigt, die Illustrierte mir zuwendend, auf ein Bild, ein Bild von ihr! Darüber ein Titel, den ich nicht mehr entziffern kann und dazu ihr Blick, der zu sagen scheint: das bin ich! Ein Fingerzeig? Findet sie mich auch sympathisch? Würde sie mich gerne wieder treffen? Monika: mein Sportstar? Sie lacht jetzt, winkt, schickt mir eine Kusshand. So entschwindet sie aus meinem Blickfeld. Werde ich sie je wiedersehen?

Erst jetzt erkenne ich, dass Claude mir immer noch seinen Kopfhörer entgegenstreckt hält.
„Bist du verliebt?“
Ich winke ab: erstaunlich, wie Claude da aus dem Stehgreif voll ins Schwarze trifft, aber er wäre der letzte, dem ich jetzt mein Herz ausschütten würde.
Zur Ablenkung frage ich ihn, ob er noch ein Bier will und blättere in der illustrierten. Mein Pulsschlag stockt.
Da ist sie: Monika! Im Bikini. Sie räkelt sich in einem Liegestuhl vor einem Swimming-Pool. Tolle Figur! Sie lächelt in die Kamera. Ein gestelltes Lächeln, nicht das Lächeln am Bahnhof zum Abschied, das betörende Lächeln, das nur mir galt. Dieses Lächeln hier ist strahlende Glamour, Hollywood, zur Schau gestellt einem Publikum, das sich brennend für die privaten Dinge ihrer Stars interessiert. Mit wem geht sie, mit wem treibt sie’s im Heimlichen?
Ich lese den Titel: Monika Lisa, eine Fata Morgana?
Und im Interview erfährt man dann den Namen ihres Lovers: Antonio. Aus einer Ferienbekanntschaft wurde die Liebe ihres Lebens, wie in einem Märchen…
Ich frage mich ernsthaft: träume ich?
Aber da ist Claude, und er lässt sich nicht abwimmeln:
„Das musst du dir einmal reinziehen. Diese Rhythmen hauen dich um!“
Ergeben stülpe ich mir den Hörer über den Kopf. Das fetzige Gedröhne entlockt mir jedoch keine Begeisterungsausdrücke und ich denke, das alles ist ja nur vorübergehend: das Gedröhne aus dem Kopfhörer, die Schmerzen im Kreuz, meine Halluzinationen ebenso wie Claude und die Betriebsferien des „Edelweiss“!
 

Mistralgitter

Mitglied
schade

Ich hätte mich über ein Echo von deiner Seite sehr gefreut. Immerhin hab ich einen halben Tag mit deinem Text zugebracht, um mir Gedanken zu machen und sie zu formulieren.
 



 
Oben Unten