Schatten (Anfang)

4,00 Stern(e) 1 Stimme

Kyra

Mitglied
Schatten

1.Tag
Der Schatten scheint meine Hand zu fliehen, während ich diese Worte schreibe. Oder vielleicht verfolgen die Worte auch den Schatten, versuchen ihn zu erreichen um ihn endgültig zu bedecken.
Ich habe aufgehört zu essen. Wie werde ich mich in den nächsten Wochen wohl verändern? Die feste Nahrung werde ich wohl weniger vermissen, als den täglichen Wein. Aber mein Entschluß steht fest

1.
Thomas saß auf einem Lammfell und starrte fasziniert auf die weiße Wand. Im Lichtkegel der Schreibtischlampe ließ sein Vater die wunderbarsten Gestalten auf der Tapete erscheinen. Einen Wolf, den Thomas erst erkannte, als er sein Maul weit aufriss, dann einen Papagei und einen Elefanten. Zuerst achtete er nur auf die schwarzen Figuren, die wie durch ein Wunder aus dem Nichts erschienen. Dann wurde der Wunsch sie zu berühren übermächtig. Vorsichtig stand er auf und ging unbeholfen auf die Erscheinungen zu. Aber als er sie fast erreicht hatte, waren sie in einem großen Dunkel verschwunden. Verdutzt sah er zu seinem Vater auf, der neben der Lampe stand und herzlich lachte. Dann sagte der Vater etwas. Thomas verstand die meisten Worte nicht genau. Aber er begriff, er musste sich wieder auf seinen Platz setzten, sonst blieben die Tiere und Figuren verschwunden. Als Thomas wenig später einen Augenblick im Zimmer alleine war, bewegte er sich wieder vorsichtig in das Licht. Je näher er der Wand kam, umso dichter wurde der Schatten. Vorsichtig streckte er seine kleine Hand aus. Nichts veränderte sich. Aber wenn er mit dem Kopf wackelte, schien die dunkle Stelle ihn nachzuäffen. Schließlich strecke er beide Hände über seinen Lockenkopf, spreizte die Finger und bewegte sie. Jetzt konnte er sich deutlich erkennen. Das war er selber, Thomas der da als schwarzes Wesen vor ihm stand. Langsam näherte er seine Babyhand dem Schatten, wollte ihn fangen, wollte dieses Schemen an sich nehmen. Es war doch ein Teil von ihm. Sein Vater betrat den Raum gerade, als er versuchte die Tapete abzukratzen. Ein wenig ärgerlich gab er ihm einen Schlag auf die Hände. Ratlos und beleidigt rollte sich Thomas auf seinem Schaffell zusammen und schmollte. Nicht einmal die Tiere die wieder auf der Wand erschienen, konnten ihn trösten. Immer wieder suchte er die Schwärze die doch in seinen Handflächen sein müsste.

2. Tag
Obwohl ich schon seit Jahren das Haus nur selten verlasse, komme ich mir eingesperrt vor. Es war mir sinnvoll erschienen, mich während der nächsten Wochen durch nichts ablenken zu lassen – keine Lektüre der Tageszeitung, das Fernsehgerät bleibt ausgeschaltet. Nur den Zugriff auf Bücher, die ich bereits gelesen habe, wollte ich mir gestatten. So meinte ich – und glaube das noch immer – wäre es mir möglich nah genug an die Person heranzurücken, die man so leichtfertig als „ich“ bezeichnet. Heute bereits, am zweiten Tag, fühle ich mich von der Welt abgeschnitten. Anstatt mich mit mir selber zu befassen überlege ich, wie sich wohl die politische Debatte um die Einwanderung entwickelt. Ein Thema, welches mein Leben sicher nicht mehr berühren wird. Wie alte Kutschpferde bleiben meine Gedanken auf ihrem gewohnten Weg. Und ich, der greise Kutscher, lasse sie gewähren.

2.
Thomas saß hinten im Sanitätswagen bei den drei Verletzten. Er war erst heute Nacht an die Front gekommen, dies sein erster Einsatz. Bisher hatte er in einem Lazarett gearbeitet, das ein ganzes Stück hinter der Front lag.
Seine Mutter hatte geweint, als er sich freiwillig meldete. Der Vater war mit seiner Entscheidung einverstanden gewesen.
Während der holprigen Fahrt versorgte er die Kameraden, so gut es ging. Zwei der beiden Soldaten hatten schwere Beinverletzungen, bei einem hing der Fuß nur noch am Wadenmuskel, das Schienbein war völlig zersplittert, der andere hatte einen Granatsplitter im Oberschenkel, der wohl die Schlagader verletzt hatte. Thomas versuchte die Blutung zu stillen, aber der blutige Riss reichte bis in die Leiste. Selbst wenn er die Kompresse mit seinem ganzen Gewicht auf die Wunde drückte, quoll das Blut in warmen Stößen zwischen seinen Fingern hindurch. Dieser Mann würde die Fahrt wohl kaum überstehen, er hätte ihn nicht mitnehmen sollen. Aber als er ihn zwischen den anderen Verwundeten liegen sah, waren Thomas seine kleinen Hände aufgefallen. Er lag auf dem Rücken und hielt eine leere Feldflasche umklammert als hinge sein Leben daran. Es sah so aus als würden Kinderhände die Flasche umfangen. Thomas versorgte ihn mit einem Druckverband. Mehr konnte er nicht tun. All diese Verletzungen hatte er schon im Lazarett kennen gelernt, neu war für Thomas der zähe Schlamm in dem die Getroffenen lagen. Es regnete schon seit Tagen.

3. Tag
Ich ertappe mich dabei fast gedankenlos aus dem Fenster zu starren. Es können die nachlassenden Kräfte sein. Aber ich fühle mich nicht schwach – jedenfalls nicht schwächer als sonst. Nur die Gedanken scheinen zu verblassen, ihre Schärfe zu verlieren. Sie enden im tausendfach gedachten, was wäre wenn….
Hätte sich die Menschheit so entwickeln können, ohne ein Bewusstsein ihrer Sterblichkeit? Ist der Grund jeder Kultur das Wissen um den persönlichen Tod? Hätte der Mensch sonst Schriften, Bilder, Wissenschaft gebraucht? Ist dies der Schlüssel aller Dinge? Dieses Hirngespinst hat zeitlebens zwischen mir und dem Augenblick gestanden.
Wäre ich ein Mensch, ohne dies Wissen? Oder macht es mich nur zu seiner Geisel?
Wie geling es Anderen dies scheinbar zu vergessen? Und warum war mir das nie möglich? Sinnlose Fragen.

3.
Thomas musste als Sanitäter schnelle Entscheidungen treffen, wen nahm er mit – wer würde es sowieso nicht überleben und wer konnte auf den nächsten Sanitätswagen warten. Bei dieser ersten Fahrt hatte er vier Soldaten zurückgelassen.
Als er vor einer halben Stunde aus dem Wagen sprang, war er über die Erbärmlichkeit der ganzen Situation schockiert. Die Verwundeten waren von ihren Kameraden an die Landstraße geschleppt worden. Es wurde dämmrig und das Blut war kaum vom Matsch der schwarzen Erde zu unterscheiden gewesen. Die erschöpften Soldaten, die sich im Straßengraben ausruhten, sahen auf den ersten Blick genauso wie die Verletzten aus. Erst jetzt, während der Rückfahrt, wurde ihm bewusst, wie er ohne zu zögern drei der Männer Auswählte. Hatte er sie wirklich nur nach rein medizinischen Richtlinien ausgesucht? Oder hatte er sich einen kleinen Teil der Macht des Schattens angeeignet? Geglaubt bestimmen zu können? Wurde seine Hand geführt?
Aber er glaubte nicht an so etwas wie Schicksal. Alles Leben schien ihm wie eine unendliche Folge von Zufällen.

Er warf einen Blick auf den dritten Soldaten, der zwischen den beiden eingebauten Tragen in eine Decke gehüllt auf dem Boden lag. Thomes wollte sich nicht die Frage beantworten, warum er diesen Mann mitgenommen hatte. Er lag still auf der Seite. So sah man in der gelblichen Innenbeleuchtung des Ambulanzwagens nur das Profil seines Gesichtes. Er war jung, wahrscheinlich kaum achtzehn. Sein Antlitz war so fein gezeichnet, wie das eines Mädchens, nur die scharf gebogene Nase und das kräftige Kinn gaben ihm ein männliches Aussehen. Sein Haar war blond und hing ihm in schmutzigen Strähnen über die Wange. So hatte Thomas ihn auch am Straßenrand liegen sehen. Der Junge sah völlig unverletzt aus, er wollte sich schon abwenden, als dieser die Hand leicht hob und den Kopf drehte, um ihn etwas zu sagen.
Noch nie hatte Thomas so etwas Erschreckendes gesehen. Die gesamte rechte Gesichtshälfte war abgerissen. Die Wange fehlte, man sah direkt auf seinen Kiefer mit den zwei weißen Zahnreihen. Das Auge war eine leere Höhle, das Ohr, selbst die Kopfhaut war nicht mehr da. Er lud ihn zu den anderen beiden Verletzten in den Wage. Der Fahrer hatte ihm noch zugeflüstert, ihn doch liegen zu lassen – nicht weil er sterben könnte, sondern weil er die Verletzung wahrscheinlich überleben würde. Jetzt lag er ihm auf einer provisorischen Trage zu Füßen. Ohne sich zu rühren, zeigte er Thomas die schöne Hälfte seines Gesichtes.

4. Tag
Heute ist der vierte Tag, an dem ich nichts mehr gegessen habe. Ich habe in meinem Studium gelernt, in der ersten Woche sei das Hungergefühl sehr quälend – dies kann ich bisher nicht bestätigen. Die Schreibtischlampe ist tief hinuntergedrückt, meine Augen folgen wie immer der Dunkelheit, die meiner Schreibhand vorauseilt.
Noch zwanzig Tage liegen noch vor mir, vielleicht auch weniger - ich bin schließlich schon ein alter Mann.
So werde ich ihn am Ende doch überlisten, werde mich nicht seinem Zeitplan beugen.

4.
Thomas stand hinter seinem großen Bruder, nur sein Kopf lugte immer wieder über dessen Schulter um nichts vom Schlachtfest zu verpassen. Wie immer verbrachten sie die Ferien beim Onkel auf dessen Bauernhof.
Thomas war jetzt zehn und durfte das erste mal beim Schlachten zusehen.
Die Tante meinte, Kinder die aus der Stadt kämen, würden so etwas nicht vertragen können. Ihre eigenen drei Söhne durften von klein an dabei sein. Als Thomas den Onkel einmal gefragt hatte, warum seine Jungen immer zusehen durften, meinte der nur:
„Sie sehen die Tiere nicht nur sterben, sie sind da wenn sie geboren werden und sehen sie aufwachsen. Nur den Tod zu sehen ist nicht gut für Kinder.“
Das war vor drei Jahren gewesen, aber jetzt war er endlich alt genug das zu erleben, wovon ihm sein Bruder manchmal abends im Bett erzählte. Von den Schreien der Tiere, vom Blut, davon wie merkwürdig es roch, wenn der Bauch aufschnitten wurde und die warmen Gedärme heraus quollen.
Der Knecht zerrte eine angstvoll quiekende Sau aus dem Stall. Der Strick in seinen Fäusten spannte sich. Fluchend trat der Mann dem Tier in die Flanke. Der Onkel, der bisher in ein Gespräch mit dem Schlachter vertieft war, brüllte wütend,
„Willst du Idiot die Sau erwürgen? Wenn du sie weiter so würgst, hätten wir nicht den Metzger holen brauchen. Herrgott! Da könnten wir ja gleich das Fleisch vom Schlachthof kaufen.“
Langsam, um das Tier nicht noch mehr aufzuregen, ging er dem Knecht entgegen, nahm ihm ärgerlich das Seil aus der Hand. Aus den tiefen Taschen seiner Arbeitshosen holte er einige Brocken hartes Schwarzbrot heraus und warf sie dem Schwein vor die Füße. Das Tier beruhigte sich schnell und folgte dann, bereitwillig der fütternden Hand bis zum Pferch, der am Rande des Hofes stand – nah bei der Küchentür.
„Nach all den Jahren bei mir, solltest du es besser wissen, Karl,“
meinte er ärgerlich zu seinem Knecht,
„das Fleisch schmeckt nicht, wenn sich das Schwein vor dem Schlachten aufregt. Jetzt müssen wir noch eine halbe Stunde warten. Die kannst du dann dem Herrn Pfleger zahlen. Hol noch was Futter.“
Nachdem die Sau in den engen Käfig gelockt worden war, bekam sie noch etwas Fressen vorgeworfen. Der Onkel begann mit dem Metzgermeister ein leises Gespräch und beide verschwanden im Haus.
Die Tante, hielt schon eine große Schüssel für das Blut in den Händen und warf dem Knecht einen wütenden Blick zu.
„Jetzt gehen sie natürlich noch einen heben. Alles deine Schuld. Du hast wirklich keinen Verstand.“
Der Mann senkte den Blick, die feuchte Unterlippe schien noch tiefer herabzuhängen als sonst. Als die Tante ihm einen Wink gab, verschwand er erleichtert in den Stallungen.
Thomas löste sich von seinem Bruder und trat näher an den Pferch heran. Das Schwein suchte mit seinem Rüssel nach den letzten Futterresten. Er hob ein Stück Kartoffelschale auf, das heraus gefallen war, hielt es der Sau hin. Nachdem sie es gefressen hatte, sah sie ihn einen Augenblick mit ihren kleinen Augen an. Vorsichtig berührte er ihr Ohr, zog die Hand aber erschrocken wieder zurück, als das Tier heftig zusammenzuckte.


5. Tag
Ich habe noch immer kein Hungergefühl. Sollte er meinen Plan durchschaut haben? Werde ich selbst in diesem letzten Schritt nicht Herr über ihn werden können? Hat er das so geplant?
Obwohl er immer an meiner Seite war, habe ich nicht das Gefühl, er würde mich kenne. Warum sollt er sich auf für mich interessieren? Aber ich habe ihn seit jenem Tag nie mehr aus den Augen gelassen. Ließ mich auch an trüben Tagen nicht täuschen, wusste ihn unter meinen Füßen versteckt.
Ich trinke viel Wasser. Wenn ich vom Tisch aufstehe, höre ich es in meinem Inneren rollen wie eine Welle. Ein wenig dünner bin ich in den letzten Tagen geworden. Nur müde fühle ich mich, aber das ist noch zu früh, muss ich doch noch einige Dinge niederschreiben. Alle sollen wissen, wie ich ihn überlistet habe.


6.
Lachend kamen Onkel und Metzger wieder zurück auf den Hof. Die Gesichter leicht gerötet - mit dem erdverbundenen Übermut gestandener Männer. Thomas lief zu seinem Bruder zurück. Der Schlachter holte die Keule und einen Satz Messer von seinem Wagen. Noch immer scherzte er mit dem Onkel, als sie zu dem Schwein gingen und es aus seinem Pferch holten. Es war jetzt ganz ruhig, beschnüffelte die Gummistiefel der Männer.
Thomas versuchte alles genau zu beobachten. Aber als er sah, wie der Metzger mit der Keule weit ausholte – schloss er einen Augenblick die Augen. Der Schlag war kaum zu hören, nur ein erstauntes Quieken. Er sah wieder hin. Die Sau fiel zur Seite und blieb nach einem kurzen Zucken still liegen. Dann wurde sie abgestochen.
Thomas beachtete das Blut nicht, das seine Tande in der Schüssel auffing. Die beiden Männer waren zurückgetreten. Der Schlachter putzte mit einem Lappen das Messer ab. Thomas sah nur das Schwein an. Wie still es war. Die Morgensonne warf lange Schatten. Jeder dieser Schemen schien seinen Ursprung zu parodieren, verzerrte die Menschen und Dinge. Nur der Schatten den der lange Schweinerücken warf, war ehrfürchtig ruhig. Sie hatten sich vereint. Thomas verstand plötzlich die Ewigkeit, oder den Tod. Er hatte kein Mitleid mit dem Schwein. Es hatte nicht gelitten. Nur eben hatte es noch Kartoffelschalen gefressen. Er verstand jetzt den Sinn der lichtlosen Stellen, die jedes Wesen mit sich herumtrug. Jeden Augenblick war die Dunkelheit bereit, sich endgültig mit dem Leben zu vereinen.

6.Tag
Die Asketen, auch die so genannten Heiligen, wussten was sie taten wenn sie fasteten. Nach den ersten Tagen, wenn sich die Gedanken an das Essen verflüchtigen – bei mir war es nicht der Hunger, der mich daran denken ließ, sondern die Gewohnheit, die Zeit durch Malzeiten eingeteilt zu finden – stellt sich die Klarheit des Geistes ein. Zumindest habe ich den Eindruck, ich sei plötzlich in der Lage in die Tiefe der Welt zu blicken. Aber das dachte sicher auch mancher Narr. Die Besessenheit, die mich vor einigen Tagen noch trieb, meinen Schatten zu ergreifen, ihn zu mir zu ziehen, auf mich zu drücken, habe ich verloren.

Viele die zu sehr am Leben hingen, haben sich nie daran gewöhnen können, vom Ende überrascht zu werden. Vielleicht waren es die Lebenshungrigsten, die den Hohn des Schattens nicht mehr ertragen konnten. Solche die ihm entgegen sprangen, ihn im Schoß des Wassers fingen oder ihn mit ihrem Blut ins Unrecht setzten wollten.
Ich aber will ihm langsam begegnen, er soll nicht glauben, ich hätte Angst vor der Begegnung.

7.
Thomas stand auf dem Balkon. Er betrachtete die Parade der Schwarzhemden. Stolze, aufrechte Gestalten, die mit ihren glänzenden Stiefeln ihre Schatten zu zertreten schienen. Er war jetzt fünfzehn, gerne wäre er bei ihnen gewesen. Diese ganze lange Reihe junger Männer waren wie ein Geschöpf. Darum konnten sie auch so selbstbewusst der Dunkelheit zu ihren Füßen trotzen. Sollte auch ein Schatten sich einen aus der Reihe greifen, die Lücke würde sofort geschlossen. Sie kannten keine Angst. Wirkten sie doch selber in ihren schwarzen Uniformen, wie die Herren ihrer Schatten.
Thomas wäre gerne einer von ihnen gewesen. Aber sein Vater meinte, es sei besser für ihn nicht aufzufallen, sich nicht voreilig irgendwo registrieren zu lassen. Sein Abstammungsnachweis mütterlicherseits sein nicht so gut. Thomas war wütend auf seine Mutter.

So stand er hier auf dem Balkon, beugte sich weit hinaus und schwenkte die Fahne. Sein Vater hatte den Arm zum deutschen Gruß erhoben.

7. Tag

Langsam beginne ich abzunehmen. Mein Gesicht scheint mir ein wenig eingefallen zu sein. Ab heute werde ich jeden Tag ein Foto von mir machen, nackt vor dem Spiegel im Schlafzimmer. Schade, ich hätte es schon früher beginnen sollen. Vom ersten Tag an. Schon immer habe ich alles gerne belegt, bewiesen. So habe ich schon früh begonnen, alles was mir wichtig erschien aufzuschreiben. An jenem Tag, als das Schwein geschlachtet wurde, habe ich begonnen ein Tagebuch zu führen. Jahrelang bin ich lieber bei schlechtem Wetter aus dem Hause gegangen, um meinen Verfolger nicht zu sehen. Es gab Zeiten, da saß ich nächtelang in meinem dunklen Zimmer und genoss das Empfinden, ihm nicht mehr ausgeliefert zu sein. Mein Vater meinte damals, ich sollte mehr Sport treiben, meine Mutter schickte mich zum Arzt. Der verschrieb mir Urlaub an der See. Erst mit sechzehn Jahren wagte ich mich meinen beiden besten Freunden anzuvertrauen. Sie verstanden mich sofort. In der Jugend wagt man noch an das Ende zu denken.

8.
Es war ein warmer Herbstnachmittag. Thomas ging zwischen Wilhelm und Franz von der Schule Nahhause. Er schob sein Rad, ein nagelneues Rennrad, lässig am Sattel vor sich her. Obwohl er in das Gespräch mit seinen Freunden versunken war, bemerkte er die dünnen Schatten der Speichen die über das Pflaster flirrten.
Wilhelm blickte auf den Boden, als er seine Begleiter fragte,
„Hat es euch gar nicht leid getan, die vielen schönen Bücher so verbrennen zu sehen?“
Franz zeigte grinsend auf den gelben Stern, der auf seine Jacke genäht war,
„besser die als ich….“
Thomas wandte sich ihm zu,
„ihr wollt weg von hier, stimmt’s? Eigentlich schade. Aber es trifft halt auch solche die es nicht verdient haben.“
Mit ernster Stimme setzt er hinzu,
„das sind dann bedauerliche Einzelschicksale.“
Wilhelm brach in schallendes Gelächter aus,
„woher hast du denn den Satz her? Das klingt ja wie bei meinem Vater…..ich kann den ganzen Mist nicht mehr hören. Führer, Reich – ich würde gerne mit dir mitgehen, nach Amerika, Franz.“
Franz fuhr sich nervös durch das Haar,
„bitte sprich nicht dauernd darüber. Es steht ja auch noch nicht ganz fest. Ich würde lieber hier bleiben. Vielleicht lassen mich die Eltern ja da, zumindest bis nach dem Abitur. Ich könnte mir ja ein Zimmer nehmen.“
Wilhelm sah den Freund begeistert an,
„genau, ein Zimmer bei uns. Letzten Monat ist die Familie Weiss ausgezogen. Das wäre ein Spaß.“
Thomas sah die beiden Jungen nachdenklich an,
„glaubt ihr denn nicht, dass wir in einer wichtigen Zeit leben?“
Innerlich hoffte er inständig, es möge so sein. Damit sein Leben mit dem Schatten ebenfalls einen Sinn hätte. Er wünschte sich tapfer zu sein, ein Held. Nicht nur für sich, für sein Vaterland. Dann würde sein Schatten weiter leben. Trotzig schwang er sich auf das Rad,
„ich muß jetzt los. Bis morgen ihr beiden Philosophen.“

8. Tag
Wie merkwürdig, nie mehr habe ich mich nach dieser schrecklichen Sache für Politik interessiert. Natürlich bin ich auf dem Laufenden, aber die Politik hat mich nicht mehr berührt, nie mehr diese Faszination, diese Begeisterung ausgelöst. Vielleicht war ich später zu alt. Oder ich hatte gelernt. Natürlich wussten auch wir Soldaten von diesen hässlichen Dingen mit den Juden. Nichts genaues – aber es wurde von Lagern erzählt und einer meinte, sie würden dort vielleicht verbrannt. Aber was kümmert es einen jungen Mann, der selber um sein Leben kämpft, der das tägliche Sterben sieht? Wenn jemand mich heute fragen würde, warum hast du nichts getan? Wäre die einzige ehrliche Antwort – weil es mich nicht interessiert hat. Es erscheint mir heute noch als ein Wunder, nicht verletzt oder getötet worden zu sein. Ich war nicht einmal in Gefangenschaft. Bald werde ich so aussehen wie einer dieser ausgezehrten Juden. Aber wird mich das ihnen näher bringen? Wenn ich über ihr Schicksal weinen würde, wäre es im Grunde genommen nur Selbstmitleid.
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
nu,

da bin ich aber gespannt, wie es weitergeht. spannend erzählt, wie nicht anders von dir zu erwarten. das thema interessiert mich auch. ich kenne jene zeit nur aus dem schulunterricht.
es sind einige tippfehler im text und über die interpunktion rede ich gar nicht erst. der schlimmste fehler ist "Malzeiten". du meinst essenszeit, das von dir gewählte wort aber bezeichnet einen zeitraum, in welchem man malt oder zeichnet.
ganz lieb grüßt
 

Zefira

Mitglied
Schön, Dich hier zu treffen, Kyra...

... als neugebackener Mod muß ich Dich darauf hinweisen, daß dieser Text ins Forum "Erzählungen" gehört hätte, aber solange die Kriterien noch nicht veröffentlicht sind, nehmen wir es nicht so genau.
Der Text liest sich flüssig und interessant. Ich bin schon sehr gespannt, wie Du die beiden Fäden miteinander verknüpfen wirst (das wirst Du uns doch hoffentlich nicht vorenthalten?)
Kritik zu üben, ist zum jetzigen Zeitpunkt schwierig, wo noch nicht recht klar ist, worauf das Ganze hinauswill. Sprachlich ist der Text in Ordnung, wenn ich auch den Teil 1.lieber ein wenig sinnlicher hätte. Es hat eine Weile gedauert, bis mir richtig klar war, daß es da um ein ganz kleines Kind geht.
Ein wenig befremdet es mich, daß Du innerhalb Thomas' Geschichte so im Zeitablauf hin- und herspringst. Die unvermeidbaren Sprünge zwischen den Handlungssträngen splittern den Text genug, finde ich.
Un dnoch etwas, womit ich nicht klar kam beim Lesen: die Beziehung zwischen schreibender Hand und Schatten, die ein Leitmotiv zu sein scheint. Ich habe es sogar eben mit meiner eigenen Schreibtischlampe ausprobiert. Ich kann nachvollziehen, daß der Schatten vor der schreibenden Hand "hereilt", sie sogar "flieht", wenn es auch eine ungewöhnliche Sichtweise ist, aber ich kann mir nicht vorstellen, wie jemand beim Schreiben diesen Schatten mit den Augen verfolgen soll. Das dürfte ein hübsches Gekrakel werden...

Die Szene mit dem halben Gesicht ist sehr bewegend. Ich staune immer wieder über Deine Härte, Dich solchen Bildern zu nähern und sie zu beschreiben; ich mache darum immer einen Bogen...

Wenn sich Dein Ich-Erzähler (ich nehme mal an, es ist Thomas) wirklich verhungern lassen will, braucht es dazu aber mehr als ein paarundzwanzig Tage. Ich habe neulich eineinhalb Wochen gefastet, da passiert fast nichts, auch mit der geistigen Klarheit nicht, ich war genauso wirr wie immer :cool:.
Liebe Grüße,
Zefira
 

Kyra

Mitglied
Danke Oldicke, danke Zefira,

Mit der Zeit des verhungerns hast Du Recht:
Wie lange übersteht ein Mensch das totale Fasten - vollständige Hungern, die "Nulldiät", bzw seinen Hungerstreik ?
Ohne Wasser werden bei normalen Umgebungstemperaturen einem gesunden Menschen etwa 10 - 12 Tage zugestanden.
Zum Vollfasten/Hungern findet man in der Literatur unterschiedliche Angaben. Es muß hier genau unterschieden werden, ob es sich um das Weglassen von Energieträgern alleine handelt, oder ob Vitamine oder Mineralien zur Verfügung stehen. Bei der Nulldiät fehlen beispielsweise nur die chemischen Emergieträger in der Nahrung. Irgendwie scheinen wir als gesunde Menschen zwischen 30 und 200 Tagen ohne Nahrung überleben zu können, wenn wir genug Wasser zur Verfügung haben, auch wenn es sich hier bei der Dauer von 200 Tagen um einen Extremwert handelt. JM Olefsky (Endokrinologe an der UC San Diego) gibt einem normalgewichtigen Menschen eine Chance von 60 Tagen (in Harrisons - principles of internal medicine 12 th edition 1991 Seite 411). Übergewichtige Menschen haben hier einen Vorteil vor den Untergewichtigen. Walter Siegenthaler gibt einem "normal ernährten" Menschen etwa 50 - 80 Tage

Das muss ich noch ändern. Auch die anderen Anmerkungen muss ich überarbeiten. Danke

Kyra
 



 
Oben Unten