Schattentanz

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Cirias

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SCHATTENTANZ



Die Reise war mir wie ein langer Spaziergang erschienen. Geräumig wie Zimmer, dunkel und voller Verstecke mit Korridoren, die sich unter ganz verschiedenen Winkeln brachen, hatten die Gänge und Abteile des Zuges etwas seltsam Verlassenes an sich gehabt. Die Passagiere hockten in der Nacht, wo die Finsternis seit langem stillstand und die Deckenleuchten vergeblich ein schwaches Licht verströmten, Welle um Welle, in einem für ewige Zeiten vom dumpfen Stampfen der Räder festgelegten Rhythmus. Was noch dort saß, waren nur ihre Hüllen, täuschende Phantome, die mit matten Augen in die Leere der Lichter starrten, sinnlos mit den Wimpern zuckten, um den goldenen Staub der Schläfrigkeit abzuschütteln, der unablässig von den Leuchten rieselte. Der Zug fuhr in das Innere einer riesigen schwarzen Rose. Der Nachtwind blätterte ihre samtene Fülle auf. Sterne schwammen darin. In langsamen Pulsschlägen atmete die Nacht. Kurz bevor ich einschlief, sah ich einen Schatten, der sich langsam auf mich zu bewegte. Der Zug war stehen geblieben. Bestürzt, mit dem Gefühl etwas versäumt zu haben, stieg ich aus.

Im Hotel erfuhr ich, dass die Konferenz, zu der ich angereist war, um einen Tag verschoben worden war. Ich war seit zwanzig Jahren nicht mehr in der Stadt gewesen. Als mein Zimmer bezogen war, entschloss ich mich zu einem Spaziergang.

Es war ein stiller Nachmittag, an dem ich ziellos durch die Straßen der Stadt lief. Die Hausfassaden zeichneten sich blass gegen den Novemberhimmel ab. Alle Straßen erschienen mir gleich, alles fremd, obwohl ich den Weg nie verlor. Es war später Nachmittag, als ich vor einem langgestreckten Gebäude stehen blieb.
Die schlanken Säulen trugen ein halbzerfallenes Kuppeldach. Dürre Gräser reckten sich an den Mauern empor. Der Himmel war sehr grau. Ein fast zerwittertes Plakat wies auf eine Tanzveranstaltung hin. Offensichtlich war dies der ehemalige Kulturpalast, der noch vor dem Zweiten Weltkrieg während eines großen Balls ausgebrannt war. Damals waren viele Menschen in den Flammen ums Leben gekommen. Man hatte das Gebäude zwar wieder aufgebaut, aber nun stand es schon seit über einem Jahrzehnt leer. Ich lief durch eine Gruppe kahler Sträucher auf das Gebäude zu. Auf den Bäumen funkelten die schillernden Schuppen des Lichts. Der Himmel stand regungslos in graue Wege verzweigt über den Dachpfannen des Gebäudes. Die Geräusche der Stadt verebbten, nur manchmal noch klang es aus der Ferne wie das Pochen eines metallenen Herzens. Ich lief um das Gebäude. Durch halbblinde Scheiben sah man in einen Saal. Eine Treppe führte zu einer offenstehenden Tür. Die dürren Äste eines Baumes klopften gegen das Fensterglas. Ich betrat den Saal. Ein betäubender, noch minutenlang nachwirkender Druck blieb in meinen Ohren zurück, so als hätte ich auf einmal eine Tür hinter mir geschlossen und alle lauten Stunden hinter mir gelassen. Ein rauchiger Geruch von Kälte empfing mich. Vierecke aus Licht bewegten sich in einem zitternden Zickzack dicht über den Boden. Die farblose und wasserklare Luft stieg in geblähten Segelbahnen die hohen Wände empor. Meine Schritte hallten auf dem von Herbstlaub bedeckten Parkett. Die hohen Wandspiegel, die zerborstenen Kronleuchter, die Holzstühle unter den Fenstern, all das verglich ich mit erinnerten Bildern, für die es vielleicht nicht einmal mehr Entsprechungen gab, die ich aber in verborgenen Zeichen wiederzufinden glaubte. Ich wusste nicht, woran mich all das hier erinnerte. Kein Ort ist von Dauer. Ich erinnerte mich, wie ich am Meer manchmal schon am nächsten Tag die eine oder andere kleine Bucht vermisst hatte, das Muster im Sand, das Licht über den Muschelablagerungen, das plötzlich ein anderes war, die Bewegung der Wellen zwischen den Steinen. Dauer, hatte ich damals verstanden, ist nur im Augenblick, da wo noch nichts über sich selbst hinausweist.
Als ich den Saal durchquert hatte, stieß ich auf einen Korridor, der in einen anderen Gebäudeteil führte. An den Türen las ich die dort angebrachten Zimmernummern. Der Korridor wurde immer dunkler. Am Ende des Gangs begegnete ich einem Zimmermädchen. Sie schien erregt. Ihr Blick wanderte zur Seite, als sie mich sah.
"Sie haben reserviert?" fragte sie mich. Ratlos sah ich sie an.
"Sie haben ein Zimmer reserviert?" wiederholte sie. "Jetzt schlafen alle", sagte sie. "Wenn sie aufgestanden sind, werde ich Sie anmelden".
"Schlafen? Aber es ist doch Tag..."
"Bei uns schläft man immer. Wussten Sie das nicht? Es gibt hier keine Nacht." Neugierig leuchteten ihre Augen aus der Dämmerung. Hinter den Türen ahnte ich die Stille in der Dunkelheit der Zimmer. Auf dem hellen Pergament ihrer Haut schimmerte die himmelblaue Landkarte der Adern. "Kommen Sie." Sie ging vor mir. Der Korridor wurde immer dunkler. In völliger Dunkelheit lehnte sie sich flüchtig an mich. "Da ist es", flüsterte sie. "Sie können eintreten."
Das Zimmer, das ich betrat, war völlig leer. Durch das helle Lazur ihrer Augen flüsterte sie mir etwas zu, das ich nicht verstand. Rasch öffnete sie eine Zimmertür. Wir standen im sternenlosen Nichts. Es gab kein Zimmer. "Verstehen Sie jetzt?"
Als ich mich nach ihr umdrehte, war sie verschwunden.

Plötzlich hörte ich die Musik. Ein klarer Rhythmus beherrschte die Melodie, eine weiche und melodiöse Stimme fügte sich wie ein Instrument in die Musik ein. Ich lief zurück in den Saal. Gebannt lauschte ich den akzentuierten Schlägen, den winzigen Stopps, den lebhaften Einwürfen, den sparsam eingesetzten Drehungen. Windschatten krochen über die Wände. In der Ecke stand ein verstaubtes Grammophon, das ich beim Eintreten gar nicht bemerkt hatte. Am anderen Ende des Saals wartete jemand. Die Gestalt löste sich aus den Schatten. Es war eine junge Frau. Sie trug ein Kleid, das sich aus roten und schwarzen Farben zusammensetzte. Ich sah, wie sie auf mich zuging, nur einen Fuß leicht vorgestreckt, den anderen dann erst im letzten Augenblick nachziehend, von einem Punkt zum anderen. Sie geriet nie aus dem Gleichgewicht, als besäße ihr Körper gar keine Schwere. Ihre Arme waren leicht vom Körper weggebeugt, über ihre offenen Haare fielen dunkle Schatten. Ich wollte etwas sagen, aber ich brachte kein Wort heraus. Ich fühlte mich wie in einem Fiebertraum. In kreisenden Bewegungen taumelte mein Körper zurück an die Oberfläche. Zwischen leuchtenden Spitzen und sich flimmernd dehnenden Körpern sah ich auf ihr Gesicht. Wie im Schlaf fühlte ich zwischen meinen Lidern den Schatten ihres Körpers tanzen. Ihr Mund schien wie in Trauer versteint.
"Tanzen wir?" hörte ich sie fragen. Ihre Lippen hatten sich nicht bewegt. Sie beugte sich über das Grammophon. Ich sah auf ihren weißen Nacken, auf den die dunklen Linien winziger Härchen ein verblassendes Geflecht bildeten. Ein Lufthauch trug mir den Duft ihrer Haare zu, die sich über dem schmalen Ausschnitt eines Ohrs leicht kräuselten. Sie drehte sich um. Von irgendwoher zauberte sie ein Lächeln in ihre Augen. Schweigend nahmen wir die Tanzhaltung ein. Ihr Gesicht war mir ganz nah, ich spürte ihren Atem auf meiner Wange. Sie schien zu träumen, während sie tanzte. Manchmal fuhr ihr ein Hauch durchs Haar, für einen Moment schien es dann, sie würde wie aus ihren Träumen erwachen. In ihren graublauen Augen trat der schwarze Mond deutlich aus der Iris hervor, was die Traurigkeit in ihren Zügen betonte. Das war alles, was ich von ihr sah und spürte.
Das Bandoneon setzte den Rhythmus, wie ein Herzschlag. Ihre Fußspitze zeichnete kleine Kreise auf den Boden. Langsame, dynamische Schritte voller Energie führten sie nach rechts, nach links, in Schritte, Figuren, Pausen. Da war nichts was es festzuhalten gab, kein Wunsch, kein Ziel, nur vage Erinnerung und Dunkelheit. Menschen saßen auf den Stühlen. Wenn wir uns ihnen näherten, schlugen sie mit den Armen wie mit Flügeln und eine hektische Röte überflog ihre dürren Wangen. Andere verharrten in einer regungslos zusammengekauerten Pose mit verschleiertem Blick und einfältig lächelndem Gesicht. Es schien, als hätten sie sich mit Einsamkeit verschanzt.
Ich spürte, wie sie der Melodie folgte, halb in Trance, voller Sehnsucht. Die Zeit stand still. Ich hatte lange nicht getanzt, aber ich brauchte ja nichts anderes als mich einzulassen, ich brauchte nicht sprechen, nichts erklären, mich nur zu finden in der gemeinsamen Spannung, dem Ungelebten, der Verzweiflung, dem Schmerz. Ich erinnerte mich nicht mehr, wie lange wir so tanzten. Ich wunderte mich nicht mehr über ihr altmodisches Kleid, ihre blasse Hautfarbe und das Maskenhafte ihres schönen Gesichts. Wie Ertrinkende verschwanden wir in der Flut, der Intensität unserer Schritte und Bewegungen.
Plötzlich war es still. Die Musik schwieg. Es war, als spürte ich sie nicht mehr. Langsam hob sie den Kopf von meiner Schulter. Ihre Hand glitt aus meiner Hand. Mühsam suchte ich nach Orientierung. In den Fenstern blühten die Flechten der Morgendämmerung. War es nicht längst Abend?
"Wollen wir noch tanzen?" hörte ich mich fragen.
"Später..." Sie stockte. Eine Träne hing zwischen ihren Wimpern. Sie legte ihre rechte Hand in meine linke Hand und strich mit der Handinnenfläche darüber. Luftspiegelungen standen wie Fieberträume im Geheimnis ihres Blicks. Sie zog mich in die dunklen Korridore. Wir eilten durch die Flugspuren schläfriger Gänge und dunkler Salons. Vor einer der Türen blieben wir stehen. Ich sah sie an. Für einen Augenblick hatte ich das Gefühl, dass alles um mich herum im Hauch der Luft zerfiel und sich lautlos in die Stille ihres Gesichts saugte. Ihre Augen gaben wie kleine Spiegel alle Gegenstände wieder. In ihren Tiefen wiederholte sich die Zeit wie ein Wassertropfen. Sie öffnete die Tür. Es gab kein Zimmer. Wie eine Luftspiegelung stand der Saal vor unserem Blick. Die Menschen waren verschwunden. Sie zog sich aus. Ihre Hände irrten über meine Glieder wie das Zittern auf einem phantasierenden Körper. Sie legte sich auf mich. Ihr Mund zitterte leise. Die Euphorie ihrer Erregung fuhr über die kalten und toten Farben der Mauern. Ich schloss die Augen. Wir bäumten uns übereinander. Unser Atem stieß in die schwarzen Labyrinthe zwischen unseren Gesichtern. Die kleinen und dunklen Silhouetten ihrer Brüste schütteten mit jeder Bewegung ihres rasenden Körpers gebrochene Farben über meinen Körper. Dann ging sie.

Lange noch glaubte ich ihre Schritte auf dem Gang zu hören, bis sich der Lärm von der Straße wie eine unsichtbare Hand darüber schloss. Ich lief ihr nach, starrte in die Schatten entlegener Winkel und Räume, doch da war niemand, nirgends. Alle Türen waren verschlossen.
Ich musste geträumt haben.
Als ich in den Saal zurückkehrte, suchte ich vergeblich nach dem Grammophon. Ein Windstoß wirbelte die Blätter auf. Es klang wie ein Seufzen.
 
L

Lotte Werther

Gast
An Cirias

Eines ist auch in dieser Geschichte unverkennbar: dein gekonntes Spiel mit dem Wort, deine Fähigkeit, Bilder zu erzeugen durch oftmals überraschende Assoziationen.

Ich will versuchen, deinem Schattentanz den Rhythmus meiner Wahrnehmungen beim Lesen hinzuzufügen.

Der erste Absatz im Zug und der zweite kurze im Hotel sind belanglos für den Fortgang der Geschichte. Sie schaden dem Text. Denn kaum lasse ich mich auf deine Bilder ein, von Menschen auf der Reise in oder durch die Nacht, schon werde ich weggerissen in ein beliebiges Hotel. Und kaum einen Satz weiter soll ich dich auf deinem Spaziergang begleiten. Das ist eindeutig zuviel.

Deine Geschichte beginnt mit dem Satz:

Es war ein stiller Nachmittag, an dem ich ziellos durch die Straßen der Stadt lief.

Und noch einen Absatz finde ich überflüssig, obwohl ich den Gedanken verstehe, der dich bewegt hat, ihn einzuflechten. Du lässt ein Zimmermädchen auftreten mit dem Hinweis auf die Schlafgewohnheiten der Bewohner des Ortes und auf Zimmer, die es gar nicht gibt. Ich glaube, dass der Leser das auch so begreift. Denn auch hier war ich leicht irritiert, als ich, kaum mit dem Zimmermädchen beschäftigt, mich schon wieder der anderen jungen Frau widmen musste in meiner Fantasie.

Die Beschreibung des Schattentanzes selbst ist dir sehr gut gelungen. Du hast es verstanden, Bewegung, Rhythmus, Gesten lebendig werden zu lassen:

Das Bandoneon setzte den Rhythmus, wie ein Herzschlag. Ihre Fußspitze zeichnete kleine Kreise auf den Boden. Langsame, dynamische Schritte voller Energie führten sie nach rechts, nach links, in Schritte, Figuren, Pausen. Da war nichts was es festzuhalten gab, kein Wunsch, kein Ziel, nur vage Erinnerung und Dunkelheit.

In Sätze wie diese kann ich mich reinfühlen, mitschwingen, mitträumen...

Ich darf dich noch auf einige sprachliche Eigenheiten hinweisen:

- Wiederholungen, wo du beurteilen magst, ob notwendig oder nicht: Luftspiegelung, grau, dürr,

- Überflüssiger Superlativ: der Himmel war sehr grau.

- Überflüssige Fragezeichen bei direkter Rede, bitte streichen.

?Sie haben reserviert?? fragte sie mich.

Als Letztes dies: der erste Absatz im Zug ist an sich gelungen, er gehört nur nicht hierher. Schreibe doch weiter an der Geschichte der Menschen im Zug.

Lotte Werther
 

Cirias

Mitglied
Hallo Lotte,
vielen Dank für deine aufmerksamen Wahrnehmungen.
Zuerst einmal hast du mit den für dich überflüssigen Textteilen wie dem Anfang und der Hotelepisode nicht ganz unrecht, denn diese beiden Teile habe ich später in den Text eingefügt, der als Text an sich bereits publiziert ist. Allerdings sollten diese Teile bewusst zur Verwirrung beitragen, verrätseln. Dennoch bleibt deine Beobachtung treffend. Verzichten mag ich dennoch nicht darauf, weil der Einstieg so ungleich atmosphärischer ist.
Fragezeichen werden beseitigt-danke!
"Der Himmel war sehr grau" ist für mich doch noch etwas anderes als ein grauer Himmel. Es gibt auch in dem Film Jules und Jim eine zentrale Stelle, an der dieser Satz fällt. Er besitzt für mich eine starke suggestive Wirkung, etwas episches und er verweist gar nicht so sehr auf den Himmel, sondern auf das subjektive Erleben des helden.
Die anderen Wiederholungen werde ich auf jeden Fall überdenken.
Insgesamt treffen alle deine Beobachtungen (bis auf den Himmel, wo ich anderer Meinung bin), schön auch, dass der Sprachrhythmus dich erreicht hat.
Herzliche Grüße, Cirias
 



 
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